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Der erste große Test für die Zeitenwende


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Tagesanbruch
Der erste große Test für die Zeitenwende

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 22.09.2022Lesedauer: 8 Min.
Kanzler Olaf Scholz: Im Februar rief er eine Zeitenwende für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus.Vergrößern des Bildes
Kanzler Olaf Scholz: Im Februar rief er eine Zeitenwende für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus. (Quelle: Sean Gallup/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

vor etwa einem Jahr berichtete ich Ihnen hier im Tagesanbruch über zwei junge Afghaninnen. Damals, wie auch noch viele Monate danach, lebten sie in Verstecken, oft in Kellern oder abgedunkelten Räumen. Ende Juli kam die erlösende Nachricht: Sie wurden nach Deutschland evakuiert.

Nun leben sie in einem kleinen Asylwohnheim im ländlichen Nordrhein-Westfalen, in dem ich sie kürzlich besucht habe. Drumherum stehen drei Einfamilienhäuser, umgeben von Feldern und Wald. Die beiden lachen, als sie erzählen, dass es in dem nahegelegenen Ort nur drei Supermärkte gibt. Der Kontrast zu Kabul – er könnte kaum größer sein. Aus Rücksicht auf ihre in Afghanistan verbliebene Familie möchten sie ihre Namen nicht veröffentlicht sehen, deswegen heißen sie hier – wie vor einem Jahr auch – Hila und Samila Haidari. Rund 25 Quadratmeter haben die beiden Frauen nun für sich. "Unser letztes Zimmer in Kabul war nicht einmal ein Drittel so groß", sagte Samila. Wichtiger aber als die Größe war ihr etwas anderes: die Fenster. "Die stehen jetzt immer offen."

Die beiden haben über das Ortskräfteverfahren ein Visum erhalten – nicht, weil sie für die Bundesregierung oder eine deutsche Organisation arbeiteten, sondern weil sie zu einem besonders gefährdeten Teil der Zivilgesellschaft gehörten: Eine Schwester arbeitete als Journalistin, die andere, eine Jura-Studentin, setzte sich für Frauenrechte ein. Vor einigen Tagen haben sie ihren ersten Deutschkurs begonnen und hoffen, bald so gut zu sein, dass sie arbeiten und weiter studieren können.

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Hila und Samila gehören laut Bundesinnenministerium zu den mehr als 23.000 Menschen, also Ortskräften und besonders Gefährdeten sowie deren engeren Familienmitgliedern, die seit dem Fall Kabuls nach Deutschland evakuiert wurden. Dafür war nicht nur die Bundesregierung verantwortlich: Auch nicht-staatliche Hilfsorganisationen leisteten einen beträchtlichen Teil und holten auf eigene Faust Menschen aus dem Land. Doch viele, die eine Aufnahmezusage haben, sind noch immer dort, laut Bundesregierung wurden erst mehr als zwei Drittel evakuiert. Hilfsorganisationen kritisieren, dass die Aufnahmezusagen viel zu zögerlich ausgegeben wurden.

Das Chaos um den Abzug aus Afghanistan, das Drama, das sich auf dem Flughafen der Hauptstadt abspielte, die langsame, bis heute nicht abgeschlossene Evakuierung von Ortskräften: All das wird derzeit in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, dessen erste öffentliche Sitzung heute stattfindet. Diese U-Ausschüsse gelten gemeinhin als Orte, in denen es heiß hergeht, in denen Fehler aufgearbeitet und schonungslos benannt werden. Normalerweise. Ausgerechnet in diesem Fall aber könnte es anders laufen.

Der Vorsitzende des Ausschusses, Ralf Stegner, kündigte nämlich bereits an, es gehe nicht in erster Linie darum, "Schuldige" zu benennen, sondern, dass die Fehler sich in Zukunft nicht wiederholen. Ein weiteres Ziel sei auch, die aktuelle humanitäre Situation in Afghanistan ins Blickfeld zu rücken. Das ist natürlich ehrenhaft. Doch um die humanitäre Situation ins Blickfeld zu rücken, braucht es keinen U-Ausschuss. Und um die Vermeidung künftiger Fehler kümmert sich bereits eine Enquete-Kommission, die neben Politikern auch aus Wissenschaftlern besteht.

Beim Abzug aus Afghanistan traf das Kabinett aus Union und SPD die Entscheidung – die heutige größte Oppositionsfraktion und die größte Regierungspartei. In einem Papier zum U-Ausschuss wirft das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) dazu zwei entscheidende, offene Fragen zum Verlauf des Ausschusses auf. Erstens: "Es bleibt abzuwarten, wie sehr Union und SPD einen Nichtangriffspakt schließen nach dem Schema 'Schont Ihr Merkel, schonen wir Maas.'" Und zweitens: "Zeigen muss sich zudem, ob Grüne und FDP aus Rücksicht auf die SPD auch Nachsicht mit der Union demonstrieren werden."

Sollten sich die Parteien nun tatsächlich aus Angst vor Gesichtsverlust und Rücksichtnahme zurücknehmen, begehen sie nicht nur einen gravierenden Fehler – sie verpassen auch eine einmalige Chance.

Denn dieser Untersuchungsausschuss ist nicht nur das erste offizielle Gremium, in dem das Afghanistan-Debakel minutiös aufgeklärt werden soll. Er zeigt auch, wie ernst es Deutschland mit der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" tatsächlich meint. Denn, auch wenn das der Anlass war: Es geht dabei nicht nur um den Krieg in der Ukraine und die Bedrohung durch Russland, sondern um eine radikale Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik. Selbstbestimmt soll diese sein, wehrhaft und gestaltend. Genau das Gegenteil also von dem Abzug aus Afghanistan, aus dem der Westen als Getriebener hervorging.

Dieser Ausschuss könnte nun beweisen, dass die deutsche Politik sich schonungslos ihren außenpolitischen Fehlern der Vergangenheit stellt. Dass sie den Finger in die Wunde legt und zeigt, an welcher Stelle was wann schiefgelaufen ist. Das geht nicht, ohne Schuldige zu benennen – auch, wenn diese zur eigenen Partei oder Koalition gehören.

Anders gesagt: Es ist der erste große Test der Zeitenwende. Wenn sich das Afghanistan-Debakel aber nun als zu schmerzhaft für eine gewissenhafte Aufarbeitung entpuppt: Wie erst will man dann die Fehler bezüglich der derzeitigen Situation rund um den Ukraine-Krieg und der Gasabhängigkeit aufarbeiten?

Noch einmal zurück zu den beiden Schwestern. Nach der Lektüre des oberen Teils haben Sie vielleicht den folgenden Eindruck gewonnen: Ende gut, alles gut. Leider ist es das mitnichten. Die vergangenen Monate der Angst und des Versteckens haben sie körperlich und psychisch gezeichnet. Immer wieder brachen sie in Tränen aus oder schauten mit starrem Blick an mir vorbei. Samila zeigte mir zudem ihr schief zusammengewachsenes Handgelenk. Sie brach es sich, als sie im vergangenen Herbst bei einer Demonstration gegen die Taliban geschubst wurde, sagt sie. Aus Furcht sei sie nicht ins Krankenhaus gegangen, sondern verband sich den Arm lediglich mit Tüchern.

Mit ihren Gedanken sind die Schwestern noch in Afghanistan, bei ihrer Familie. Bei dem Vater, der schon krank ist. Dem Schwager, der bei einer Spezialeinheit des Militärs arbeitete und sich weiterhin versteckt. Der Schwester, die nicht mehr als Lehrerin arbeiten darf. "Mein Kopf ist noch da", sagte Hila. "Ich kann mein Leben nicht genießen, dabei bin ich 25, ich sollte es tun. Aber es geht einfach nicht."


Düstere Aussichten für Putin

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Stundenlang zögerte sich die angekündigte Rede von Kremlchef Wladimir Putin am Dienstag hinaus, Beobachter spekulierten bereits, ob sie überhaupt noch stattfinden würde. Dann, gestern Morgen, äußerte sich Putin schließlich und verkündete eine Teilmobilmachung – ein Schritt, vor dem er lange zurückgeschreckt hat.

Konkret bedeutet das: Reservisten können nun für den Krieg eingezogen werden. Verteidigungsminister Sergej Shoigu rechnet mit 300.000 zusätzlichen Soldaten. Nicht nur so will Putin an neue Kräfte gelangen: Laut einem BBC-Journalisten hat in einem Moskauer Ausländerzentrum ein Rekrutierungsbüro eröffnet. Der Deal: Wer sich meldet, bekommt einen russischen Pass.

Allein schon die Ankündigung von Putins Fernsehansprache ließen bei Google Dienstagabend Suchanfragen wie "Wie man das Land verlässt" oder "Wie man Russland ohne Geld verlässt" in die Höhe schnellen, wie mein Kollege Lukas Butscher herausfand. Dieser Trend setzte sich gestern in die Tat um: Die Flüge von Moskau etwa in die Türkei, nach Armenien oder Serbien waren schnell ausverkauft, Resttickets gingen teils für mehrere Tausend Euro weg. Wer das Land bislang nicht verlassen hat, für den wird es schwer werden: Laut Gesetz dürfen sich Reservisten nicht mehr von ihrem Wohnort entfernen.

Vor dieser Teilmobilmachung ist Putin nicht ohne Grund lang zurückgeschreckt. Bislang rekrutierte die russische Führung Soldaten vor allem aus entlegenen Ecken der Föderation. Nun aber trägt sie den Ausnahmezustand des Krieges in die Wohnzimmer der großen Städte wie Moskau und St. Petersburg. Bereits gestern kam es in vielen Städten zu Protesten, Videos zeigen, wie Demonstranten mit Gefangenenbussen abtransportiert werden.

Einfacher wird es für Putin nicht, prognostiziert der Russlandexperte Fabian Burkhardt im Interview mit meiner Kollegin Clara Lipkowski. Durch die Teilmobilisierung werden am Ende "mehrere Zehntausend, vielleicht Hunderttausende Männer an entscheidenden Stellen fehlen, in den Behörden, in der Wirtschaft." Das werde die ohnehin schon durch Sanktionen geschwächte Wirtschaft tiefer in die Abwärtsspirale bewegen. Er ist sich sicher: "Die Probleme für Putin werden sich potenzieren". Düstere Aussichten für den russischen Präsidenten.

Und auch diese Texte finden Sie bei t-online zur Lage in Russland:

Nach Putins Mobilmachung ist der ukrainische Präsident vergangene Nacht zum rhetorischen Gegenangriff übergegangen. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns hat die Rede von Wolodymyr Selenskyj vor der UN-Generalversammlung für Sie eingeordnet.

Putin reihte in seiner Rede eine Falschbehauptung an die andere. Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat die drei große Lügen identifiziert.

In einer Fernsehansprache drohte Putin auch mit dem Einsatz von Atomwaffen. Doch was sagt die offizielle russische Doktrin dazu? Diese Frage beantwortet Ihnen mein Kollege Jonas Rogge.

Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Bastian Brauns haben bei der UN-Vollversammlung beobachtet, wie Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden auf Putins nächtlichen verbalen Angriff reagiert haben.

Und unser Kolumnist Wladimir Kaminer hat sich angeschaut, wie Putins Diktatoren-Kollegen die Lage des Kremlchefs genüsslich ausnutzen.


Es wird ernst für Trump

Es war nur eine Frage der Zeit. Seit Monaten rätseln Beobachter, wann der frühere US-Präsident Donald Trump angeklagt wird, wofür zuerst – und von wem. Dieses Rennen hat nun die New Yorker Staatsanwaltschaft für sich entschieden. Um die FBI-Durchsuchung in Trumps Anwesen in Mar-a-Lago geht es dabei allerdings nicht, sondern um Betrug. Die Generalstaatsanwältin von New York, Letitia James, wählte bei der Verkündung drastische Worte. Trump habe "das System und damit uns alle betrogen."

Drei Jahre hat sie Ermittlungen geführt, mit 65 Zeugen gesprochen, "Millionen Dokumente" ausgewertet und nun Zivilklage erhoben – nicht nur gegen Trump, sondern auch gegen die Familienholding Trump Organization sowie seine Kinder Donald Junior, Eric und Ivanka. Der Vorwurf: Die Familie soll ihre Finanzen je nach Bedarf größer oder kleiner gerechnet haben, um etwa besser an Kredite zu kommen oder weniger Steuern zu zahlen. Wie immer werden die Vorwürfe abgestritten. Die neuesten Entwicklungen lesen Sie hier.

Es wird wohl nicht die letzte Anklage bleiben. Derzeit laufen noch Ermittlungen gegen Trump, weil er Verschlussakten aus dem Weißen Haus mit auf seinen Wohnsitz in Florida nahm (deswegen auch die FBI-Durchsuchung) und wegen der Ausschreitungen vor dem Kapitol am 6. Januar. Im letzteren Fall droht ihm unter anderem eine Anklage wegen "aufrührerischer Konspiration", einem äußerst selten angewandten Gesetz. Es dürfte also noch ernster werden für den Ex-Präsidenten.


Die weiteren Termine

In New York geht die Generaldebatte der UN-Vollversammlung weiter, im Fokus steht Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Unter anderem tagt der Sicherheitsrat mit den Außenministern der beiden Kriegsparteien. Auch Annalena Baerbock ist im Hauptquartier der Vereinten Nationen zugegen. Sie nimmt unter anderem an Treffen zu feministischer Außenpolitik und zur Strafverfolgung während des Krieges teil. Zudem trifft sie sich mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi.


Die WM-Vorbereitung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft geht in die entscheidende Phase. Trainer Hansi Flick äußert sich dazu heute Mittag in einer Pressekonferenz. Die Erwartungen an ihn und das Team sind hoch – besonders, nachdem die Mannschaft bei der vergangenen Weltmeisterschaft schon in der Vorrunde ausgeschieden ist. Die letzten zwei Pflichtspiele vor der WM (morgen gegen Ungarn, Montag gegen England) dürften einen Vorgeschmack liefern.


Was lesen?

Als die Deutsche Bahn 1991 ihren ICE präsentierte, war Frankreich schon lange flott unterwegs. Womit? Das lesen Sie hier.


Alle früheren Rettungsversuche reichten nicht aus. Jetzt übernimmt der Staat Deutschlands größten Gasimporteur Uniper. Wie teuer das für die Steuerzahler wird und ob das Auswirkungen auf die umstrittene Gasumlage hat, weiß meine Kollegin Anna Sophie Kühne. Weshalb die Regierung trotz Einigung weiter streitet, berichtet mein Kollege Fabian Reinbold.


Was amüsiert mich?

Vielleicht kann der Fernseher ja diesen Winter die Heizung ersetzen.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Morgen schreibt Ihnen mein Kollege David Schafbuch.

Herzliche Grüße

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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