t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Eine Botschaft 80 Jahre nach dem Inferno


Tagesanbruch
Das Inferno beginnt am frühen Morgen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.04.2025 - 06:39 UhrLesedauer: 6 Min.
In der Gedenkstätte Seelower Höhen stehen noch Geschütze aus der Schlacht vor 80 Jahren.Vergrößern des Bildes
In der Gedenkstätte Seelower Höhen stehen noch Geschütze aus der Schlacht vor 80 Jahren. (Quelle: imago images)
News folgen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

1.800 Kilometer liegen zwischen Berlin und Donezk, 2.800 Kilometer sind es zwischen Berlin und Gaza, 4.500 Kilometer zwischen Berlin und al-Faschir. In der Ostukraine sterben Hunderttausende ukrainische und russische Soldaten, im Gazastreifen sterben Zehntausende palästinensische Zivilisten und leiden wohl noch 24 israelische Geiseln, im Sudan sterben Zehntausende Menschen bei den Kämpfen zwischen rivalisierenden Warlords.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Große Distanzen trennen die Bundeshauptstadt von den schlimmsten Schlachtfeldern dieser Tage – nimmt man jedoch die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit zum Maßstab, müssten es eher Lichtjahre sein. Die meisten Leute hierzulande scheinen sich an die Kriege, die Toten und das Leid irgendwo da draußen in der Welt gewöhnt zu haben, obwohl es da eigentlich nichts zu gewöhnen gibt.

Aber so ticken wir Zweibeiner nun mal: Beim Ausbruch eines Krieges sind wir entsetzt, schockiert, erschüttert, doch je länger das Gemetzel dauert, desto stärker stumpfen wir ab, bis wir uns irgendwann dabei ertappen, dass wir abends die "Tagesschau" wegzappen, weil wir all die Krisenschauplätze einfach nicht mehr sehen wollen. Für die Menschen vor Ort dagegen bleiben sie die Hölle, sie leiden genauso wie am ersten Tag.

Es liegt mir fern, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, Vorwürfe zu machen. Das steht mir nicht zu, und kurz vor Ostern haben Sie womöglich tatsächlich anderes im Sinn als sich für Tod und Teufel zu interessieren. Es sei Ihnen gegönnt. Trotzdem bitte ich Sie, noch ein paar Minuten weiterzulesen und mir zu gestatten, Ihnen von einem Ereignis zu erzählen, das heute vor 80 Jahren begann. Es handelt sich dabei nicht einfach um vergangene Geschichte, sondern um eine Geschichte, die uns etwas zu sagen hat.

In den frühen Morgenstunden des 16. April 1945 begann 70 Kilometer östlich von Berlin das Inferno: Artilleristen der Roten Armee eröffneten aus Tausenden Geschützen, Granat- und Raketenwerfern das Feuer auf die deutschen Stellungen an den Seelower Höhen nahe dem Oderbruch. Marschall Georgi Schukow griff frontal an, ließ binnen Stunden eine Million Granaten verschießen und schickte seine Infanteristen mit dem Schlachtruf "Nach Berlin!" in Wellen gegen die gegnerischen Reihen. Die Russen, Ukrainer, Weißrussen und ihre Kameraden aus dem Fernen Osten rannten feuernd durch den Nebel über das Schlachtfeld. "Wir mussten uns die Ohren zuhalten, damit uns nicht die Trommelfelle platzen", notierte ein sowjetischer Offizier.

Auf der Gegenseite kämpften 130.000 Landser der 9. deutschen Armee sowie Senioren und Jugendliche aus Hitlers "Volkssturm". Sie waren in Zahlen, Gerät und Treibstoff weit unterlegen, hatten sich jedoch in den Höhenzügen eingegraben, Minenfelder und Panzerfallen angelegt. Vier Tage dauerte der Feuersturm, dann gelang den Rotarmisten der Durchbruch – der Weg nach Berlin lag offen. 33.000 sowjetische und 12.000 deutsche Leichen blieben zurück, es war eine der blutigsten Schlachten, die je auf deutschem Boden ausgefochten wurden. "Überall zerschossene deutsche Fahrzeuge, Geschütze, brennende Panzer", berichtete ein Rotarmist später; "kein Schlachtfeld, sondern ein Schlachthof" nannte es ein überlebender Deutscher. Knapp zwei Wochen später kapitulierte Berlin.

80 Jahre ist die Schlacht um die Seelower Höhen nun her. Zum Gedenken auf dem ehemaligen Schlachtfeld, am deutschen und sowjetischen Soldatenfriedhof, kommen heute Nachfahren, Politiker und womöglich auch noch einige Zeitzeugen zusammen, die das Kriegsende als Kinder erlebt haben. Zwischen all den Nachrichten zu Trump, Merz und dem Osterwetter droht die Erinnerung an das Inferno im April 1945 womöglich unterzugehen – es sei denn, mehr Menschen interessieren sich dafür.

Ich meine: Diese Menschen können, nein, sollten wir sein. Nicht nur ist der von den Nazis entfesselte Kriegswahnsinn eine ewige Mahnung, den Frieden in Mitteleuropa zu bewahren. Die Erinnerung an die schlimmsten Schlachten damals kann auch die Aufmerksamkeit für die schlimmsten Schlachten heute wachhalten. Donezk, Gaza und al-Faschir mögen weit weg sein. Doch was dort geschieht, geht uns alle etwas an.


Ohrenschmaus

Heute passt nur ein Song. Sie ahnen vielleicht, welcher.


Moralische Bankrotteure

Groß ist die Aufregung in CDU und CSU über drei in diesem Monat noch anstehende Evakuierungsflüge aus Afghanistan: Heute, am 23. und am 29. April lässt die geschäftsführende Bundesregierung ehemalige Ortskräfte sowie besonders gefährdete Personen wie Menschenrechtsanwälte und Frauenrechtlerinnen aus dem von den islamistischen Taliban kontrollierten Land nach Deutschland bringen. "Wirklich infam und vollkommen verbohrt" meinte Sachsens CDU-Innenminister Armin Schuster dieses Vorgehen nennen zu müssen, weil die neue schwarz-rote Koalition solche Aufnahmeprogramme beenden will. Unionsfraktionsvize Jens Spahn steuerte noch die Einschätzung "grundfalsch und anmaßend" bei.

Die Herren sollten besser den Mund halten, denn das Gegenteil ist richtig: Nur weil der Ukraine-Krieg und Donald Trumps Zoll-Tiraden die humanitäre Krise am Hindukusch aus den Schlagzeilen verdrängt haben, heißt das nicht, dass die Bundesregierung nicht mehr an ihre Zusagen gebunden wäre. Und nur weil sich der gesellschaftliche Diskurs mittlerweile auf Abschiebeflüge in die andere Richtung fokussiert, dürfen Menschen, die während des Bundeswehr-Einsatzes als Übersetzer oder Fahrer für deutsche Behörden ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, nicht einfach im Stich gelassen werden. Viel eher ließe sich die Frage stellen, warum sie nicht schon längst in Sicherheit gebracht worden sind. Aber soweit reicht der moralische Horizont von Ichlingen wie Herrn Spahn vermutlich nicht.

Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis


Ciao in Warschau

Was macht eigentlich … Olaf Scholz? Der Terminkalender des immer noch amtierenden Kanzlers ist längst nicht mehr so eng getaktet. Heute allerdings hat der abgewählte Regierungschef ein Lunch-Date in Warschau: Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat ihn zum Abschiedsmittagessen eingeladen. Ob die beiden dabei noch einmal besprechen, warum es trotz Wiederaufnahme der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen im Juli 2024 nicht so recht geklappt hat mit dem Neustart in den Beziehungen der Nachbarländer? Wahrscheinlicher ist wohl, dass Tusk stattdessen seine Hoffnungen auf Friedrich Merz setzt. Schließlich gehört der designierte Scholz-Nachfolger derselben christdemokratisch-konservativen Parteienfamilie an wie Tusk und hat bereits angekündigt, nach seiner voraussichtlichen Wahl am 6. Mai "sehr schnell nach Warschau" reisen zu wollen.


Akute Schwampel-Gefahr

Man reibt sich fassungslos die Augen: Vor gerade mal einer Woche haben Union und SPD ihren Koalitionsvertrag vorgestellt, da tobt schon der Streit zwischen Schwarz und Rot, was eigentlich drinsteht. Soll der höhere Mindestlohn denn nun kommen, wird die Einkommensteuer für Gering- und Normalverdiener gesenkt? Und mitten in die aufgeladenen Deutungsdebatten platzen (auch hier) Jens Spahn und Johann Wadephul mit ihrer Forderung, den Umgang mit der AfD zu lockern (unser Chefreporter Johannes Bebermeier kennt die Hintergründe). Kein Wunder, dass erste Kommentare bereits vor einer "Schwampel" warnen. Die Regierungspartner in spe sollten sich dringend in Erinnerung rufen, dass es gerade jener Dauerstreit der Ampelkoalition war, der bei den Bürgern so nachhaltig für Verdruss gesorgt hat.


Die gute Nachricht

Es ist ein medizinischer Durchbruch: Erstmals hat die EU ein Medikament gegen Alzheimer zugelassen, das nicht nur Symptome lindern, sondern auch den Verlauf der Krankheit verlangsamen soll. Tausende Patienten könnten davon profitieren.


Bild des Tages

Das heutige Frühlingsbild kommt von Tagesanbruch-Leserin Ursula Kosser. Sie hat die Drachenburg im Siebengebirge bei Bonn abgelichtet. Wie schön!


Lesetipps

Die Klimakrise dominiert unsere Wahrnehmung – doch der Menschheit droht noch eine weitere Gefahr: Das Artensterben nimmt dramatische Ausmaße an, warnt der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Ein unschuldig abgeschobener Mann sitzt in El Salvadors berüchtigtem Terrorknast, während die Trump-Regierung seine gerichtlich verfügte Rückholung verweigert. Der Fall entwickelt sich zur Verfassungskrise, schreibt unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.


Markus Söder setzt die sozialen Medien virtuos zur Selbstvermarktung ein. Auf einer Indien-Reise verwandelte er sogar eine kulinarische Panne in charmante Selbstironie. Unsere Kolumnistin Nicole Diekmann zieht den Hut.


Kurz vor Ostern wird das Wetter heftig: Experten warnen in nahegelegenen Urlaubsregionen vor Erdrutschen und Sturzfluten. Mein Kollege Matti Hartmann hat den Überblick.


Zum Schluss

In Berlin herrscht eitel Sonnenschein.

Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Daniel Mützel, von mir hören Sie am Karfreitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.

Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.

Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.

Mit Material von dpa.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



Telekom