Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Gefahr kommt aus jedem Handy

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es ist ein besonderes Jahr, dieses 2025. Nicht wegen des Typen mit orangefarbenem Teint, der nun täglich von allen Bildschirmen blökt. Auch nicht wegen des Sauerländers, der bald Kanzler wird. Sondern wegen der runden Jahrestage. 80 Jahre ist es her, dass die Alliierten Deutschland und Europa von der Nazi-Herrschaft befreiten. Die letzten großen Schlachten, die Befreiung der Konzentrationslager, die deutsche Kapitulation: All dieser Zäsuren wird nun gedacht, Gedenktermine werden zelebriert und Reden gehalten. Der Schwur "Nie wieder!" geht über viele Lippen, während er in vielen Herzen längst zur Floskel geschrumpft ist.
In Deutschland, das 80 Jahre nach Hitlers Tod "Nie wieder" bekundet, wählt ein Fünftel der Bevölkerung eine rechtsextremistisch geprägte Partei, in der SA-Parolen kursieren und die Nazi-Herrschaft als "Vogelschiss der Geschichte" verharmlost wird. Deutschland, 80 Jahre nach 1945, ist eine ökonomische Weltmacht, auf deren Territorium Synagogen hermetisch bewacht werden müssen und Juden nicht gefahrlos mit der Kippa durch Großstädte laufen können, weil sie fürchten müssen, zusammengeschlagen zu werden. Es ist ein Land, in dem es in der künftigen Kanzlerpartei viele Politiker gibt, die finden, dass man das Verhältnis zur AfD "normalisieren" müsse. Ganz so, als sei es normal, dass sich Demokraten den Extremisten anpassen. Als müssten nicht vielmehr die Extremisten ihre Ideologie aufgeben und sich demokratischen Prozessen unterwerfen. Hört man, was Vielredner wie Jens Spahn von sich geben, wenn sie mal ein paar Tage lang nicht in den "Bild"-Schlagzeilen auftauchen, fragt man sich, ob diese Leute in der Schule während des Geschichtsunterrichts eigentlich geschwänzt oder gedöst haben.
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Auch andernorts beginnen die Wurzeln der Freiheit zu verdorren. Mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung gibt in Umfragen an, nur noch wenig oder geringes Vertrauen in die Demokratie und deren Prozesse zu haben. Da schwingt sicher Kritik an Politikern und an den zähen Prozessen einer Wohlstandsgesellschaft mit; die meisten Bürger sind halt ziemlich satt und ziemlich selbstzufrieden. Viele Zeitgenossen haben verlernt, dass es schon ein Fest sein kann, wenn man ein Dach über dem Kopf, eine Scheibe Brot auf dem Teller und überdies einen Nachbarn hat, der einen Gartenschlauch statt eines Gewehrs trägt. Zu viele Leute verwechseln ihre eigene Unzulänglichkeit mit den begrenzten Möglichkeiten des Sozialstaats. Und zu vielen anderen ist eh alles egal, was außerhalb ihres Vorgartens vor sich geht.
Selbst wenn man all diese Befindlichkeiten sowie die Erschütterungen durch Corona, Inflation und Ampelchaos berücksichtigt, bleibt der Befund trotzdem erschreckend. Es ist bestürzend, dass die Schlange des Rassenhasses und der Elitenverachtung, der Ignoranz und der Gewalttoleranz wieder aus so vielen Mündern züngelt. Manchmal ertappe ich mich beim Gedanken, was ich tun würde, falls hierzulande eine Extremistenpartei an die Macht käme. Als Journalist hätte ich dann vermutlich nichts zu lachen, als Humanist sowieso nicht. Ins schöne Italien auswandern würde ich, denke ich dann mit einem Stoßseufzer der Erleichterung – nur um mich sofort daran zu erinnern, dass ja in Rom eine Postfaschistin regiert, die zwar in Brüssel und Berlin bella figura macht, aber daheim die Gewaltenteilung schleift, die Versammlungsfreiheit beschneidet und Medienvertreter einschüchtert. Auch der Blick nach Westen zu Le Pen und Bardella oder nach Osten zu Orbán stimmt mich nicht optimistischer.
Woher nehmen die Radikalen ihre Macht? Vorgestern setzte ich mich zu später Stunde vor den Computer und interviewte gemeinsam mit meinem Kollegen Marc von Lüpke den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, den man zu den klügsten Köpfen Amerikas zählen darf. Wir fragten ihn, was der wichtigste Grund sei, warum Demokratiezerstörer wie Donald Trump nun in vielen Demokratien so erfolgreich sind. Francis zählte einige gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren auf und sagte dann klipp und klar: Der Hauptgrund ist Social Media. Die Mehrheit der Bevölkerungen in demokratischen Ländern informiert sich überwiegend in Filterblasen auf WhatsApp, TikTok, Facebook, X oder Telegram, wo Fakten nur eine unter vielen Sichten auf die Wirklichkeit sind. Jeder schafft sich seine eigene Wahrheit und hält andere Perspektiven für Lügen.
Die digitalen Plattformen unterminieren den gesellschaftlichen Konsens, dass es so etwas gibt wie Objektivität. Damit zerstören sie auch das demokratische System, das nun einmal darauf basiert, dass sowohl Amtsträger als auch Wähler Recht und Gesetz achten, dass Vielfalt wertgeschätzt statt verachtet wird und jeder Mensch Respekt verdient – egal, wie viel er verdient, egal, woher er kommt, egal, was er sagt, solange er auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht.
Ich möchte Ihre Geduld heute Morgen nicht überstrapazieren, gepredigt habe ich nun schon lang genug. Lassen Sie mich nur noch auf einen Termin hinweisen, der zwischen dem üblichen Getöse von Trump und anderen Ichlingen heute unterzugehen droht: Im sächsischen Torgau beginnen die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des Kriegsendes. Heute vor 80 Jahren trafen dort amerikanische und sowjetische Soldaten auf der zerstörten Elbbrücke aufeinander und bejubelten das nahe Ende des Zweiten Weltkriegs. In den Reihen der Rotarmisten waren viele Ukrainer.
Halten Sie mich für meinetwegen für pathetisch, aber ich meine: Diese Begegnung ist auch heute noch ein Grund zum Jubeln. Und nachdem wir uns ausführlich gefreut haben, sollten wir uns alle miteinander darum kümmern, unsere Demokratie sturmfest zu machen. Niemand zwingt uns, die Radikalisierungsplattformen von Elon Musk, Mark Zuckerberg und Co. zu nutzen. Niemand hält uns davon ab, laut zu widersprechen, wenn Spalter in der Öffentlichkeit ihren Hass auskübeln. Niemand verbietet uns den Mund, wenn wir im persönlichen Kontakt Respekt und Anstand einfordern.
Noch nicht. Aber wenn wir nicht bald die Kurve kriegen, kann es irgendwann zu spät sein. Dass dann wieder andere Länder Soldaten losschicken, um uns von den Extremisten zu befreien, ist ziemlich unwahrscheinlich.
Aufarbeitung in Oldenburg
Nach dem Tod eines 21-jährigen Schwarzen durch Polizeischüsse in Oldenburg werfen die Obduktionsergebnisse Fragen auf: Demnach trafen den jungen Mann drei Schüsse von hinten – an der Hüfte, am Oberkörper und am Kopf. Ein vierter Schuss soll ihn am Oberschenkel gestreift haben. Ob die Beamten während des Einsatzes am frühen Sonntagmorgen davon ausgehen mussten, dass der Mann, der zuvor mit Reizgas um sich gesprüht haben soll, ein Messer bei sich trug, ist unklar. Während in Oldenburg neben Anteilnahme und Trauer auch Rassismusvorwürfe gegen die Polizei laut werden, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Totschlagverdachts gegen den 27-jährigen Polizisten, der die tödlichen Schüsse abgab und vom Dienst suspendiert wurde. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob der Einsatz der Schusswaffe verhältnismäßig war.
Unter dem Motto "Gerechtigkeit für Lorenz" ist heute eine Kundgebung geplant. Die Veranstalter fordern eine lückenlose Aufklärung des Polizeieinsatzes. Mein Kollege Leon Pollok erzählt Ihnen mehr über den Fall.
Termine des Tages
Berlin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trägt sich in das Kondolenzbuch für den Papst ein. Morgen fliegt er mit seiner Ehefrau Elke Büdenbender zu Franziskus' Bestattung nach Rom.
Braunschweig: Im Dieselprozess gegen vier Volkswagen-Manager könnten die Staatsanwälte ihre Plädoyers halten. Den Männern wird banden- und gewerbsmäßiger Betrug im Zuge des Abgasskandals vorgeworfen.
Washington: Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank setzen ihre Frühjahrstagung fort. Finanzminister und Notenbanker beraten über Mittel gegen die Inflation, die kriselnde Weltwirtschaft und bestimmt auch Trumps Zölle. Am Nachmittag gibt der IWF seine Finanzprognose für Europa bekannt.
Ohrenschmaus
Der musikalische Tausendsassa Björn Ulvaeus feiert heute seinen 80. Geburtstag. Und wir hören uns ein Meisterwerk aus seinen besten Tagen an.
Lesetipps
Donald Trump regiert ohne Rücksicht auf Verluste. Im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke erklärt der Politologe Stephan Bierling, was den US-Präsidenten antreibt.
Was bleibt von Papst Franziskus? Weniger als viele meinen, erklärt der Historiker Giovanni Vian im Interview mit unserem Reporter Philipp Heinemann.
Künftig sollen ältere Autos jährlich zum TÜV. Statt die Sicherheit zu erhöhen, schafft die Vorschrift noch mehr Bürokratie, kommentiert mein Kollege Markus Abrahamczyk.
Ob der FC Bayern Fußballstar Florian Wirtz verpflichten kann, hängt entscheidend von Uli Hoeneß ab. Unser Reporter Julian Buhl berichtet über die Top-Personalie der Bundesliga.
Zum Schluss
Seit 1872 begehen ihn die Amerikaner, seit 1951 wird er von den Vereinten Nationen proklamiert, seit 1989 ist er jährlich einem bestimmten Gewächs gewidmet: Heute ist der Tag des Baumes. Er soll die Bedeutung des Waldes für den Menschen und die Wirtschaft im Bewusstsein halten. In diesem Jahr steht die Roteiche im Mittelpunkt. Die passt sogar in kleine Gefährte, wie der liebe Mario Lars herausgefunden hat:
Ich wünsche Ihnen einen erfrischenden Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.