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Ukraine-Krieg | Experte: "Die Probleme für Putin werden sich potenzieren"


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Russlandexperte im Interview
"Die Probleme für Putin werden sich potenzieren"

InterviewVon Clara Lipkowski

21.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Quelle: IMAGO/Adrien Fillon
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Teilmobilmachung und Pseudoreferenden, der Kreml eskaliert weiter. Experte Fabian Burkhardt meint: So bewege Putin das Land immer tiefer in die Abwärtsspirale.

Der Kreml zwingt mit einer historischen Entscheidung Reservisten zum Kriegsdienst. Diese Menschen, sagt Russlandexperte Fabian Burkhardt, werden künftig an entscheidenden Positionen im ohnehin sanktionsgeschwächten Land fehlen. Zugeständnisse an Nationalisten sieht er im Interview mit t-online aber nicht. Eher einen Kreml-Chef, der massiv unter Druck seht.

t-online: Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Teilmobilmachung verkündet. Flugtickets in visafreie Staaten sind ausverkauft, die Verunsicherung im Land ist groß. Was kommt jetzt auf die russische Gesellschaft zu?

Fabian Burkhardt: Eines vorweg: Interessant ist, dass Putin das Ganze zwar verkündet, die Umsetzung aber wie so oft auf andere abwälzt. Verteidigungsminister Sergej Schoigu musste dafür vor die Kameras. Und die Mobilisierung selbst müssen jetzt die regionalen Gouverneure organisieren. Wie genau, ist unklar. Feststeht: Am Ende werden mehrere zehntausende, vielleicht hunderttausende Männer an entscheidenden Stellen fehlen, in den Behörden, in der Wirtschaft. Weil sie stattdessen im Krieg sind. Gepaart mit der sanktionsgeschwächten Wirtschaft wird sich Russland tiefer in die Abwärtsspirale begeben. Und die Probleme für Putin werden sich potenzieren.

Von 300.000 Menschen, die mobilisiert werden, ist die Rede. Ist die Zahl realistisch?

Fraglich ist, wie viele der Reservisten tatsächlich mobilisiert und für den Kampfeinsatz trainiert werden können. Selbst wenn mehrere zehntausend Personen mobilisiert werden, ist unklar, wie effektiv sie im Feld sein können. Viele werden versuchen, sich zu drücken, das Land zu verlassen. Die Verkündung hat eine Schockwelle durch die Gesellschaft geschickt, weil sehr viele Familien betroffen sind.

Die Zahl könnte nach oben korrigiert werden, sollte der Krieg noch schlechter laufen als bisher. Ich gehe davon aus, dass nach einer gewissen Zeit intern bewertet wird, wie erfolgreich die Mobilmachung läuft.

Es keimen erste Proteste auf. Rechnen Sie mit Massendemos?

Das ist davon abhängig inwieweit Putin in den nächsten Wochen den Spagat schafft zwischen: möglichst viele Personen mobilisieren und der Masse weiter den Anschein geben, dass sie persönlich nicht betroffen ist. Aber eine große Welle des Protests halte ich für unwahrscheinlich, dafür sind die Strukturen für kollektives Handeln zu schwach, auch wegen der jüngsten Repressionen, weil Proteste in Russland sehr gefährlich sind.

Hinzu kommt, dass Strafen für Wehrdienst- und Befehlsverweigerung und für Desertieren jetzt verschärft wurden, zu hohen Geldbußen bis zu Gefängnisstrafen.

Wo genau liegt denn der Unterschied zwischen Teil- und Generalmobilmachung?

Das ist kompliziert. Denn das Ausmaß der jetzigen Teilmobilmachung ist noch nicht genau definiert. Ihre Grenzen werden sich sicher noch verschieben, in Bezug darauf, wie viele Personen nun in welchem Alter, aus welchen Berufen und mit welcher Erfahrung eingezogen werden. Die Mobilmachung könnte also schleichend immer weiter ausgedehnt werden und die Militarisierung der Gesellschaft immer weiter voranschreiten.

Aber eine Generalmobilmachung ist natürlich erheblich weitreichender. Sie wäre mit Ausreisesperren verbunden, mit Ausgangssperren. Die Kriegszensur würde erheblich ausgeweitet werden. Es könnten sogar Zivilisten zu Arbeit in militärischen Bereichen gezwungen werden. Die Wirtschaft würde auf Kriegswirtschaft umstellen.

Bisher wird in Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg nicht rekrutiert. Wird es jetzt die Menschen dort treffen?

Noch ist der Präsidialerlass sehr schwammig. Aber es soll wohl jede russische Region treffen, also ja, auch Sankt Petersburg und Moskau. Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin hat Prämien für Moskauer angekündigt. Mit Einschüchterung und finanziellen Boni wird man jetzt versuchen, die Zahlenvorgaben, die noch vom Verteidigungsministerium an die Regionen ausgegeben werden müssen, zu erfüllen. Diese Aufgabe kommt den jeweiligen Regionalgouverneuren zu.

Fabian Burkhardt
Fabian Burkhardt (Quelle: IOS/Wolfgang Steinbacher)

Fabian Burkhardt, Russlandexperte

Burkhardt forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg unter anderem zu politischen Institutionen in Russland und politischen Systemen in postsowjetischen Staaten. Er ist Redakteur der "Russland-Analysen" und der "Ukraine-Analysen".

Macht Putin mit seiner Entscheidung Zugeständnisse an Nationalisten wie den Hardliner Ramsan Kadyrow, der eine Mobilmachung ausgerufen hatte?

Sie sprechen Hardliner an wie Tschetschenenführer Kadyrow, Igor Girkin, auf Telegram mit Tausenden Followern, oder Ex-Präsident Dmitrij Medwedew. Da habe ich so meine Zweifel. Ich denke, Putin steht vor allem durch die schlecht laufenden Kämpfe in der Ukraine unter Druck. Das russische Militär drängt massiv auf mehr Leute, weil der Personalmangel so eklatant ist und die Koordination mit anderen Kampfverbänden so schlecht läuft.

Erst am Dienstag wurden Pseudoreferenden in vier russisch besetzten ukrainischen Gebieten angekündigt. Diese sollen vollkommen überstürzt noch Ende September abgehalten werden. Was bezweckt Putin innenpolitisch damit?

Natürlich weiß er, dass diese "Referenden" weder von der Ukraine noch von der EU noch von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden. Putin hätte auch schlicht per Präsidialerlass entscheiden können, dass die Gebiete Russland zugeteilt werden. Aber mit den "Referenden" versucht er, dem Prozess Legitimität zu verschaffen. Er bindet so viele russische Institutionen ein wie möglich, damit es nicht so aussieht, als entscheide nur er. Die Menschen "stimmen ab", das soll dann wie ein Ausdruck des Volkswillens wirken. Später wird der "formelle Beitritt" das Parlament und das Verfassungsgericht durchlaufen. Das soll zeigen, dass alles rechtens zugeht. Was es natürlich nicht tut – aber gibt es politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Schwierigkeiten, kann Putin sagen: Ihr seid ja alle Schritte mitgegangen und habt zugestimmt.

Und nach außen will Putin vermeiden, als Diktator abgestempelt zu werden?

Ich denke, diesmal geht es wirklich nur um die Legitimierung nach innen. Anders als 2014 auf der Krim, als bei dem "Referendum" auch teils im Westen noch gestritten worden war, ob es nicht völkerrechtlich doch irgendwie passabel war, gibt es diese Debatte jetzt überhaupt nicht mehr. Es gibt schlicht keine Legitimierung nach außen.

Alles wirkt gerade sehr überstürzt.

Ja. Aber bevor es so weit kommen konnte, gab es drei Phasen: Erst dachte Russland, man werde die ukrainischen Territorien schnell einnehmen und in der Ukraine freudig begrüßt. Diese Phase ist schnell in eine zweite übergegangen, mit dem Ziel, die besetzten Gebiete unter russische Kontrolle zu bringen. Einerseits durch Terror. Wer protestiert hat, wurde eingesperrt oder auch hingerichtet.

Andererseits hat man versucht, "Referenden" vorzubereiten. Man gab russische Pässe heraus, zahlte Renten aus oder verteilte Einmalzahlungen an Familien mit Kindern. Das sollte die Leute in eine Abhängigkeit bringen, damit sie bei einem "Referendum" für die Angliederung an Russland stimmen.

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Mit der ukrainischen Gegenoffensive fing die dritte Phase an. Jetzt wird gar nicht mehr versucht, die Scheinlegitimität der "Referenden" aufrechtzuerhalten. Es geht darum, Fakten zu schaffen, so schnell wie möglich.

Aber eine Anmerkung zum Begriff "Referendum". Natürlich haben wir es hier nicht mit Referenden zu tun, die in demokratischen Systemen genutzt werden. Besser wäre der Begriff "Plebiszit". Er bezeichnet, wie autoritäre Regime Scheinabstimmungen für sich nutzen. Sie nutzen sie als Form von Repression.

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Wenn aber klar ist, dass alles nur zum Schein passiert, warum wird überhaupt der Apparat in Bewegung gesetzt?

Eine wichtige Funktion der Plebiszite ist es, ein klares Zeichen an die zu senden, die auf russischer Seite kämpfen: Die russische Armee, Nationalgarde, Söldnertruppen wie die Wagner-Gruppen, Freiwilligenverbände, die teils aus dem Gefängnis rekrutiert wurden. Die Kampfmoral ist sehr, sehr niedrig und die Befürchtung des Kremls groß, dass die Militärverwaltungen in den besetzen Gebieten, in Donezk oder Luhansk, aber auch in Cherson oder Saporischja nach der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive in Charkiw wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, dass es zu einem Dominoeffekt kommt. Mit den nun zu erwartenden Annexionen sendet die russische Führung das klare Signal: Wir verteidigen euch, um jeden Preis.

Wie werden mögliche Annexionen den Kriegsverlauf verändern?

Auf jeden Fall haben wir eine neue Eskalationsstufe. Die wohl weitestgehende seit der Entscheidung, die Ukraine zu überfallen. Es ist aber noch nicht klar, was es heißt, wenn Russland die Gebiete als russisches Staatsgebiet betrachtet.

Es gab bereits Angriffe auf russisches Gebiet, Belgorod etwa. Oder Militärschläge auf der Krim, die Halbinsel, die Russland für sich beansprucht. Russland hat hier bisher lediglich eine rhetorische Drohkulisse aufgebaut. Wird ein Territorium beschossen, das Russland als sein Staatsgebiet betrachtet, setzt es sich zur Wehr. Doch dabei blieb es bisher. Jetzt eskaliert Putin erneut, und erweitert plötzlich die Nukleardoktrin Russlands.

Wie genau?

Bisher galt, dass Russland den Erstschlag mit Atomwaffen nur mit der Bedrohung der Existenz des russischen Staates rechtfertigen kann. Jetzt spricht Putin schon davon, dass Atomwaffen auch eingesetzt werden könnten, wenn die territoriale Integrität Russlands, die Unabhängigkeit und Freiheit sowie die russischen Bürgerinnen und Bürger geschützt werden müssen.

Es bleibt aber nach wie vor fraglich, ob ein Raketenschlag oder die Rückeroberung von Territorien, die von Russland jüngst annektiert wurden, einen solchen Atomwaffeneinsatz zur Folge haben könnten. Wir wissen es nicht. Putin will genau das: Diese Unsicherheit erzeugen, darüber, wann er den Schritt gehen würde und bis wohin er nur droht. Er will die Ukraine und Nato-Staaten einschüchtern.

Wie nah dran sind wir jetzt an einem nuklearen Angriff Russlands?

Das ist eine sehr technische Frage, die vor allem Atomwaffenspezialisten beantworten können. Diese Waffensysteme müssen in verschiedenen Stufen für den Einsatz vorbereitet werden. Da sollte man jetzt vor allem schauen, wie das die amerikanischen Spezialisten, auch Geheimdienste bewerten. Ich denke, dass die aggressive Rhetorik und die praktischen Vorbereitungen noch recht weit auseinander liegen. Aber das werden jetzt Spezialisten genau beobachten müssen.

Verwendete Quellen
  • Telefongespräch mit Fabian Burkhardt am 21.09.2022
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