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Putins Schwäche wird nun gnadenlos ausgenutzt


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Kremlchef in Bedrängnis
Putins Schwäche wird nun gnadenlos ausgenutzt

MeinungVon Wladimir Kaminer

22.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Ilham Alijew und Wladimir Putin (Archivbild): Aserbaidschans Machthaber nutzt Putins Schwäche aus.Vergrößern des Bildes
Ilham Alijew und Wladimir Putin (Archivbild): Aserbaidschans Machthaber nutzt Putins Schwäche aus. (Quelle: ITAR TASS/imago-images-bilder)
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Mal eben schnell die Ukraine angreifen, so lautete Wladimir Putins Plan. Dann ging ziemlich viel schief. Und Putins Mitdiktatoren nutzen seine Lage nun genüsslich aus.

Wir haben hart und lange daran gearbeitet – und bingo! Die Weltbevölkerung hat in diesen Tagen die stolze Zahl von acht Milliarden erreicht. Die 90/90-Regel blieb jedoch ungebrochen: Nach wie vor halten 90 Prozent aller Menschen 90 Prozent aller Menschen für Vollidioten.

Mathematisch geht das nicht auf, gefühlt ist es aber unsere traurige Realität. Mehr Erdenbewohner bedeuten auch mehr Konflikte, die Welt brennt, derzeit vor allem um Russland herum. Die rücksichtslose Entscheidung der russischen Führung, das größte Land der Welt aus der vorhandenen Weltordnung herauszusägen, führte zu einer Destabilisierung in der Region.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Gerade erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter: Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".

Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich Russland allerdings übernommen. Der Russische Bär ist zu weit gesprungen und ist auf einer Rosine ausgerutscht: Isjum. Der Name der ukrainischen Stadt, die als erste von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde, bedeutet "Rosine" auf Russisch. Innerhalb von wenigen Tagen gelang es den Ukrainern, einen beträchtlichen Teil ihres Territoriums zurückzuerobern – im Süden bis an die ursprüngliche Grenze ihres Landes, während sie im Osten gar bis Donezk vorgerückt sind.

Jetzt muss Wladimir Putin sogar die Teilmobilmachung ausrufen. Wie gut die bei den Russen ankommt, sieht man an der Tatsache, dass diese um die Wette Flüge und Züge ins Ausland buchen.

Eine "Rosine" zuviel für Putin

Die russische Schwäche ist in den Nachbarländern nicht unbemerkt geblieben. Russland grenzt, wenn ich mich nicht verzählt habe, an 14 Länder – und sie alle haben Probleme mit ihren Grenzen. Auf einmal feuert Aserbaidschan auf Armenien, Baku hat nämlich die Türkei im Rücken, ein Land, das seine eigene Rechnung mit Russland offen hat. Recep Tayyip Erdoğan lässt aber Baku den Vortritt – nach dem Motto, wenn man einen lauten Hund hat, muss man nicht selbst bellen.

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Kirgistan und Tadschikistan beschießen sich ebenfalls gegenseitig, Georgien schielt derweil auf das abtrünnige Abchasien, China sichert Kasachstan militärische Unterstützung zu, Polen rüstet auf, die baltischen Länder schmeißen russische Touristen raus und holen amerikanische Truppen ins Land. Die autonomen Republiken des Nordkaukasus fangen plötzlich gleichfalls einen Streit über die Grenzen an.

Grenzen scheinen in diesem politischen Chaos plötzlich eine zentrale Rolle zu spielen, alle beschweren sich über "willkürlich gezogene", "künstliche gemachte", "ungerecht gezeichnete" Grenzen, als ob es irgendwo gottgegebene, von der Natur erschaffene Grenzen gäbe. Alle Grenzen auf diesem Planeten sind durch Kriege, Vertreibungen, Annexionen und Revolutionen entstanden, kurz gesagt durch Mord und Totschlag.

Es ist sehr leicht, einen Krieg zu beginnen, viel leichter, als ihn zu beenden; nicht zuletzt dadurch haben die Menschen gelernt, Kompromisse zu schließen. Sie haben am eigenen Leib erfahren, dass jede Weltordnung, selbst eine ungerechte und unnatürliche, besser ist als Chaos. Denn Chaos stellt die Grenzen infrage, was eine Wiederaufnahme der Kämpfe mit sich bringt, zu weiterem Mord und Totschlag führt. Trotz allem versucht der Russische Bär weiterhin so zu tun, als gäbe es keinen Krieg.

Lieber Party als Krieg?

Während russische Soldaten unter starkem Beschuss hastig die vor kurzem eroberten Dörfer und Städte verließen, feierte Moskau sein 875-jähriges Stadtjubiläum mit großem Feuerwerk, Volksfesten, Attraktionen und Open-Air-Konzerten. Die Restaurants und Cafés waren mit sich amüsierendem Publikum krachend voll, nach zwei Jahren Pandemie gehen die Menschen gerne aus.

Präsident Putin hatte persönlich das in jahrelanger Arbeit errichtete Riesenrad "Die Sonne Moskaus" eingeweiht. "Das höchste Rad Europas" sollte es sein, das gleich nach der Einweihung zum Stehen kam und nun wegen "vorübergehender technischer Probleme" gewartet werden muss. Die Beobachter beschwerten sich außerdem: Auf dem Papier habe das Rad viel größer ausgesehen, als es wirklich ist. "Auch beim Riesenrad wurde geklaut?", fragte die Presse rhetorisch.

Die Patrioten des Landes waren von den skurrilen Bildern aus der Hauptstadt mehr als empört, sie kritisierten sogar laut die Regierung und den Präsidenten, weil er die Bürger unterhalte, statt sie sofort für den Krieg zu mobilisieren. Es hat sich nämlich gezeigt: Nicht nur das Riesenrad, auch die riesengroße russische Armee hat "vorübergehende technische Probleme", ihr gehen die Soldaten aus, sie war auf dem Papier viel größer als in der Realität.

Doch die russische Führung möchte eigentlich keine Waffen an die Bevölkerung verteilen. Mit diesen Menschen kann man nie wissen, was sie damit anstellen, in welche Richtung sie laufen. Sie können vom Sofa aus alles begrüßen und unterstützen, was die Regierung macht, solange sie selbst ihr Sofa nicht verlassen müssen.

Dann kam "Putins Koch"

Außerdem ist es durchaus möglich, dass der leichtsinnige Teil der Bevölkerung diese Waffen nicht gegen die Ukrainer einsetzt, sondern zur Lösung privater Probleme in den Regionen missbraucht. Es werden eilig neue Krieger gesucht, für teures Geld Söldner angeworben, solange die Kassen gefüllt sind. Das Geld ist vorhanden, selbst der Westen kauft weiter russisches Öl und Gas, wenn auch auf Umwegen und in geringeren Mengen.

Das in Finnland ansässige Centre for Research of Energy hat neue Zahlen veröffentlicht. In den sieben Kriegsmonaten hat Moskau für 158 Milliarden Euro Öl, Gas und Kohle verkauft – und für den Krieg gegen die Ukraine bisher nur 96 Milliarden ausgegeben. Der Westen bleibt nach wie vor der Hauptabnehmer der russischen Energieressourcen und hat damit den Krieg gegen sich selbst zu 100 Prozent finanziert.

Doch spätestens im Dezember wird der Geldfluss deutlich reduziert sein, was die weitere Kriegsführung erschwert. Die Aufgabe ist knifflig. Wie stellt man eine Armee zusammen, ohne die gesamte Bevölkerung zu fassen? Teilmobilmachung ist nur ein Weg.

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Ein Einfall sind die Inhaftierten. Die Anwerbung in den Gefängnissen und Straflagern hat der engste Vertraute des Präsidenten übernommen: Jewgeni Prigoschin, auch als "Putins Koch" bekannt. Er ist selbst ein ehemaliger Knast-Insasse, der in der Sowjetunion zweimal lange Haftstrafen wegen bewaffneten Raubüberfalls absitzen musste. Deswegen kann er jetzt sehr überzeugend "Freiwillige" in den Vollzugsanstalten anwerben. Im Netz kursieren Videos von seinen Ansprachen.

"Ich will euch nicht belügen", sagt der Koch. "Ich kann euch nicht versprechen, dass ihr bald frei nach Hause kommt und ein reiches, glückliches Leben haben werdet. Aber eins kann ich euch versichern: Wenn ihr unterschreibt, werdet ihr den Knast von innen nie wieder sehen". Seine Ansprachen zeigten Wirkung, mehr als Zehntausend haben bereits unterschrieben und wurden an die Front geschickt.

Ab wann wird es eng für Putin?

Es bestehen jedoch berechtigte Zweifel, dass mit Kriminellen, von einer langen Haftstrafe geschwächt und an der Waffe nicht ausgebildet, eine erfolgreiche Armee zu bilden ist. Ob sie bei der ersten Schlacht nicht ihre Vorgesetzten beseitigen und überlaufen oder in die ukrainische Steppe verduften. Außerdem sind möglicherweise auch die Zahlen der Knast-Insassen gefälscht, es sind vielleicht gar nicht so viele, wie behauptet wird.

Eins steht fest: Selbst wenn man alle Knast-Insassen Russlands in einer Linie aufstellte, würden sie eine 1.200 Kilometer lange Front nicht halten können. Die letzte Hoffnung der russischen Führung ist, dass sich die Bereitschaft Europas, die Ukraine zu unterstützen, in einem harten, kalten Winter abschwächt. Denn ohne europäische Unterstützung kann es für die Ukraine eng werden.

Es kommen inzwischen ganz neue Töne aus dem Kreml, große diplomatische Anstrengungen zur Fortsetzung der Verhandlungen werden unternommen. Der Plan ist: Im Tausch gegen Öl und Gas soll der Westen auf die Ukraine Druck ausüben und das zerbombte Land zu Friedensgesprächen zwingen. Dies wäre die einzige Chance für das Regime, angekratzt, aber lebendig aus dem Schlamassel rauszukommen. Je länger der Krieg dauert, desto enger wird es für den Kriegsherrn.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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