Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Achtung, Weltuntergang
Guten Morgen, liebe Leserin, liebe Leser,
hätten Sie das gedacht? Kurz vor der Bundestagswahl nimmt der Wahlkampf noch einmal richtig Fahrt auf. Im Bundestag wird gestritten, gejohlt und gebuht. Auch die Union hat sich von ihrer Lieber-nichts-sagen-als-etwas-Falsches-sagen-Strategie – böse Zungen nannten sie Schlafwagen-Wahlkampf – verabschiedet. Nun greifen CDU und CSU an.
Endlich, möchte man denken. Bewegung, Leidenschaft, ein Wahlkampf, der seinen Namen verdient.
Allerdings scheint der Unionsmotor, der lange stotterte, inzwischen überdreht. Anstatt sich über – im Zweifel unbequeme – Themen von der Konkurrenz abzugrenzen, arbeiten sich die Wahlkämpfer der Konservativen vor allem am politischen Gegner ab.
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Sie sagen weniger, was sie selbst tun würden, warnen dafür aber umso mehr im Falle einer Regierungsübernahme der linkeren Parteien vor dem Weltuntergang. Mit Rot-Grün drohe Deutschland ein "Jahrzehnt des Niedergangs", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn. CSU-Chef Markus Söder sieht für den Fall der Fälle einen "Mount Everest" an Schulden auf Deutschland zukommen. Und der Vorsitzende der Jungen Union, Tilman Kuban, bezeichnet Olaf Scholz und die SPD als "Sicherheitsrisiko" für Deutschland: "Wer mit Biedermann Scholz ins Bett geht, wacht mit den Brandstiftern auf."
Natürlich vertritt die Union andere Positionen als SPD und die Grünen – etwa bei Themen wie Steuern und Mindestlohn. (Hier finden Sie übrigens einen Überblick über die wichtigsten Forderungen der Parteien.) Und natürlich muss darüber gestritten werden, welche Entscheidungen für das Land besser sind. Davon lebt Demokratie. Nur offenbart die künstliche Dramatik, die viele Politiker von CDU und CSU an den Tag legen, am ehesten die Panik innerhalb der Union.
Es ist wie mit Treibsand: Wer feststeckt und hektisch um sich schlägt, versinkt umso schneller.
Und Kanzlerkandidat Armin Laschet? Auch er hat seinen Kampfgeist entdeckt, wie er am Dienstag im Bundestag erneut demonstrierte. Er teilte ordentlich gegen Grüne und SPD aus. Deutschland werde kein Industrieland bleiben, mahnte er. Doch fällt ihm vor allem ein, was er nicht möchte: keine kleinteiligen Klimamaßnahmen (wie die Grünen), keine Steuererhöhungen (wie die SPD), keine Verbote (nochmal wie die Grünen). Am Ende blieb von seiner Rede nicht viel hängen als Bekenntnisse zu Altbekanntem. Glaubt man den Umfragen, gefällt das alles den Wählern bisher nicht sonderlich.
Die Union ist in dieser Woche nicht nur zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte in einer bundesweiten Umfrage unter 20 Prozent gerutscht. Sie könnte auch zahlreiche Direktmandate verlieren. Das Meinungsforschungsinstitut Insa hat eine detaillierte Umfrage zu den Erststimmen in den Wahlkreisen erstellt. Vergleicht man die mit den Ergebnissen von 2017, zeigt sich ganz deutlich: Vor allem der CDU droht ein Fiasko.
Sollten sich die Insa-Berechnungen bewahrheiten, verlieren die Christdemokraten einen Großteil ihrer Direktmandate. Im Norden, Westen und Osten an die SPD, im Süden einige an die Grünen. In Sachsen gehen laut der Erhebung fast alle Wahlkreise an die AfD. Vor den Folgen warnte auch Michael Kretschmer, Sachsens CDU-Ministerpräsident, im Interview mit dem "Handelsblatt": "Diese Frage hat ganz große Auswirkungen auf das, was vor Ort möglich ist, sei es im Bereich des Sports, der Wirtschaft, der Verkehrsprojekte und so weiter."
Es war eigentlich die Königsdisziplin der CDU: Den Wähler in Sicherheit zu wiegen, ihm zu signalisieren: "Wir kümmern uns". Doch klammheimlich hat Olaf Scholz es geschafft, den Christdemokraten dieses Image abzuluchsen – nicht nur, indem er auf dem Cover des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" die Merkel-Raute imitierte. "Erbschleicherei", nennt Herr Söder das. Mag sein – nur ändert es nichts daran, dass viele Wähler diese Eigenschaften eher in Olaf Scholz als in Armin Laschet sehen. "Wähler wollen niemanden, der große Töne spuckt", sagte der SPD-Mann kürzlich. Damit könnte er recht behalten.
Zurück in die Dunkelheit
Während wir uns in Deutschland über Steuererhöhungen und Mindestlohn streiten, geht es woanders um existenziellere Fragen. In Afghanistan zieht es in diesen Tagen immer wieder mutige Frauen auf die Straße. Sie demonstrieren gegen die neuen Machthaber – trotz massiver Einschüchterungsversuche und gewaltvoller Attacken der Taliban. Gestern gingen rund 20 Frauen gegen die frisch ernannte Regierung – ausschließlich Männer – auf die Straße. "Ein Kabinett ohne Frauen wird versagen", riefen sie und forderten "Arbeit, Bildung, Freiheit".
Am Dienstag demonstrierten sogar Hunderte Frauen wie Männer. Videos in sozialen Netzwerken zeigten, wie Taliban-Kämpfer die Frauen mit Knüppeln schlugen und mit Kalaschnikows in die Luft schossen. Und die Videos zeigen auch, wie Frauen sich mit ihren Plakaten den Taliban in den Weg stellten. Ein Demonstrant hat meinem Kollegen Daniel Mützel berichtet, wie er den Protest erlebt hat.
Die neue Regierung zeigte sich bisher jedoch unbeeindruckt. An ihrem ersten Tag beschloss sie, dass Frauen künftig keinen Sport mehr machen dürften.
Nicht auf der Straße waren Hila und Samila Haidari. Die beiden Schwestern arbeiteten als Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, viele Familienmitglieder waren bei der Regierung angestellt. Seit die Taliban am 15. August Kabul eingenommen haben, verstecken sie sich – aus Angst vor den Taliban. Ihre echten Namen lesen Sie hier deswegen nicht. "Uns geht es sehr schlecht – wirtschaftlich, körperlich und psychisch", sagte mir Samila Haidari in einer Sprachnachricht. Sie ist sich sicher: "Wenn die Taliban uns entdecken, werden sie uns verheiraten, uns vergewaltigen oder uns töten."
Die beiden Schwestern wollen aber mit ihren Worten etwas bewegen – und baten mich, diese eindrückliche Botschaft an Sie weiterzugeben:
"Als die islamistischen Taliban 1995 an die Macht kamen, nahmen sie uns das Recht auf Bildung und Beruf. Sie zwangen uns, unter ihren Regeln zu leben, die sie im Namen des Islams ausgerufen hatten. Die Gesellschaft bewegte sich Tag für Tag weiter in die Dunkelheit. Dann, nach ihrem Fall, bekamen wir die gleichen Rechte wie Männer. Wir studierten und arbeiteten, Seite an Seite. Endlich wurden Frauen Teil des sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens in unserem Land. Nun aber kehren wir in die Dunkelheit zurück. Unter den Augen der Welt drängen die Taliban uns Frauen aus diesem Leben. Trotz der Versprechungen der Taliban fürchten wir, dass es noch schlimmer kommt. Viele Journalistinnen, Aktivistinnen und Anwältinnen sind bereits geflohen. Andere aber bleiben zurück. Die Befreiung der Frauen war die größte Errungenschaft in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren. Und wir müssen nun zusehen, wie uns unsere Rechte und Freiheiten wieder genommen werden."
Wenn Sie Frauen und Mädchen in Afghanistan unterstützen wollen, können Sie zum Beispiel dem Afghanischen Frauenverein Geld spenden.
Die weiteren Termine
Weiter geht's im Wahlkampf: Heute stellt die SPD (9.30 Uhr) ihr Plakatmotiv für die letzte Wahlkampfphase vor – direkt gegenüber der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei. Wenn das mal keine Ansage ist. Der Herr des Hauses, Armin Laschet, ist selbst auch auf Wahlkampftour und hält eine gemeinsame Pressekonferenz mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (15.30 Uhr). Am Abend stellt sich der Unionskanzlerkandidat im ZDF Bürgerfragen (20.15 Uhr).
Der Bundesgerichtshof verkündet sein Urteil, ob Influencerinnen ihre Instagram-Posts als Werbung kennzeichnen müssen. Geklagt hatte unter anderem Cathy Hummels, Frau des Fußballnationalspielers Mats Hummels.
Was lesen?
Paul Ziemiak ist einer der zentralen Koordinatoren des CDU-Wahlkampfs — und es läuft nicht gut. Seine Partei steht an der Schwelle, die Macht nach 16 Jahren an die SPD zu verlieren. Davor warnte der CDU-Generalsekretär aufs Schärfste, als er meine Kollegen Florian Harms und Tim Kummert zum Interview in der Parteizentrale traf.
Wer bedroht unsere Demokratie mehr? Links- oder Rechtsradikale? Der Autor Michael Kraske hat da eine ganz klare Meinung.
Wie schlimm der zweite Corona-Herbst wird, hängt auch davon ab, wie viele sich noch für eine Impfung entscheiden. Einige haben lange abgewartet – und lassen sich nun doch impfen. Wieso, das haben sie meiner Kollegin Lisa Becke berichtet.
Was amüsiert mich?
Das macht die Wahlentscheidung natürlich auch nicht einfacher.
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen lesen Sie an dieser Stelle wieder von Florian Harms.
Ihre
Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs
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Mit Material von dpa.
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