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Ukraine-Krieg: Einsatz weitreichender Waffen gegen Russland bald erlaubt?


Weitreichende Waffen für Ukraine
Die Antwort auf eine "dramatische Eskalation"


Aktualisiert am 13.09.2024Lesedauer: 6 Min.
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Ein mit Scalp-EP-Marschflugkörpern (außen an den Tragflächen) bestückter französischer Rafale-Kampfjet (Archivbild): Die Ukraine wirbt um die Erlaubnis zum Einsatz weitreichender westlicher Waffensysteme gegen Ziele in Russland. (Quelle: IMAGO/ABACA/imago)

Seit Wochen bittet die Ukraine darum, doch die Unterstützer zögern. Nun könnte die vollständige Freigabe westlicher Waffen für Angriffe auf Russland kommen. Was bedeutet das für den Krieg?

Im Ukraine-Krieg bahnt sich eine Entscheidung an, die den weiteren Verlauf der Kampfhandlungen maßgeblich beeinflussen könnte. Am Mittwoch reisten die Außenminister der USA und Großbritanniens, Antony Blinken und David Lammy, nach Kiew. Es sei ein "kritischer Moment" angesichts intensiver Kämpfe im dritten Herbst des Krieges und zunehmender Eskalation vonseiten Russlands, erklärte Blinken.

Mit im Gepäck auf ihrer neunstündigen Zugreise von der polnischen Grenze bis nach Kiew hatten die beiden Außenminister womöglich eine Erlaubnis, um die die Regierung von Wolodymyr Selenskyj seit Monaten bittet: die Freigabe für den Einsatz westlicher weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland. US-Präsident Joe Biden hatte vor dem Besuch seines Außenministers erklärt, dass die Aufhebung der bisherigen Beschränkungen geprüft werde. "Wir arbeiten daran", sagte Biden.

Doch warum fordert die Ukraine so vehement die Freigabe? Welche Vorteile brächte der Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland? Und warum zögert der Westen bisher mit der Entscheidung? t-online gibt einen Überblick.

Warum könnte die Entscheidung ausgerechnet jetzt fallen?

Das hat gleich mehrere Gründe. Blinken sagte vor der Reise in London, sein Kollege und er wollten erkunden, wie die Ukraine in der gegenwärtigen Lage am besten unterstützt werden kann. Dies wollten sie ihren Chefs für deren Treffen berichten. US-Präsident Joe Biden empfängt am Freitag in Washington den britischen Premierminister Keir Starmer.

Dass der jetzige Moment "kritisch" für die Ukraine sei, erklärte der US-Außenminister auch mit Blick auf den kommenden Winter und Russlands anhaltende Angriffe auf die kritische Infrastruktur: "Wir sehen, wie es seine Angriffe auf Städte, Menschen und im Besonderen die Energieinfrastruktur vor den kalten Monaten erhöht", sagte Blinken.

Entscheidend für die Freigabe ist aber wohl ein ganz anderer Punkt: Der Iran hat Russland laut US-Angaben mit ballistischen Kurzstreckenraketen beliefert. Angesichts dessen haben die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien neue Sanktionen gegen den Iran verhängt. "Wir haben den Iran im Privaten gewarnt, dass dieser Schritt eine dramatische Eskalation darstellen würde", sagte Blinken. Die Freigabe westlicher Waffen für Angriffe auf Ziele in Russland wäre darüber hinaus auch ein Signal an Moskau, dass die Unterstützer der Ukraine dieser "dramatischen Eskalation" entgegentreten.

Warum zögern die westlichen Unterstützer bisher mit der Freigabe?

Bisher liegt das Zögern vor allem in der Furcht des Westens vor einer weiteren Eskalation vonseiten Russlands begründet. Russische Regierungsvertreter, allen voran Kremlchef Wladimir Putin, drohen immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine, sollten bestimmte "rote Linien" überschritten werden. Erst im Februar sagte Putin in seiner Rede zur Lage der Nation: "Alles, was der Westen sich einfallen lässt, womit sie die Welt erschrecken, schafft die reale Gefahr eines Konflikts mit dem Einsatz von Atomwaffen, was die Zerstörung der Zivilisation bedeutet."

Wo genau Moskaus "rote Linien" liegen, ist jedoch nicht ganz klar. Zu Kriegsbeginn hatte Moskau die Lieferung westlicher Waffen zu einer solchen Grenze erklärt. Später nannte Russland Angriffe auf das eigene Territorium als möglichen Grund für eine atomare Eskalation. Gleichfalls sagte Putin bereits, dass er Nuklearwaffen einsetzen würde, wenn Russland in seiner Existenz bedroht wäre.

Eine beschränkte Erlaubnis zum Einsatz westlicher Waffen in Russland hat die Ukraine übrigens bereits: Angesichts der russischen Offensive im Raum Charkiw haben die westlichen Unterstützer manche Waffensysteme zur Verteidigung der Region freigegeben. Allerdings betrifft das lediglich Rohrartillerie und etwa die Himars-Mehrfachraketenwerfer, die maximal 80 Kilometer weit feuern können.

Welche Waffen im Besitz Kiews kommen für solche Angriffe infrage?

Die Ukraine hat bisher zwei Waffensysteme erhalten, die für Angriffe auf Ziele weit hinter der russischen Grenze eingesetzt werden können.

Dabei handelt es sich einerseits um die britisch-französischen Marschflugkörper Storm Shadow/Scalp-EP. Diese haben nominell eine Reichweite von mehr als 500 Kilometern. Ob die Ukraine diese Version oder Modelle mit eingeschränkter Reichweite erhalten hat, ist nicht bekannt. Für den Export an Staaten, die nicht der Nato angehören, wurde eine Version mit rund 250 Kilometern Reichweite entwickelt. Mit den Marschflugkörpern können auch Bunker angegriffen werden.

Zudem ist nicht bekannt, wie viele der Marschflugkörper die Ukraine erhalten hat. Das ist problematisch, da keine neuen Storm Shadow mehr produziert werden. Nachlieferungen aus Großbritannien und Frankreich sind deshalb unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Einige der Flugkörper haben Kiews Streitkräfte bereits eingesetzt, besonders für Angriffe auf russische Ziele auf der völkerrechtswidrig besetzten Halbinsel Krim. Dort wurden mehrere Schiffe sowie mindestens ein U-Boot der russischen Schwarzmeerflotte von den Marschflugkörpern getroffen. Außerdem bombardierte die Ukraine die Tschonhar-Brücke im Nordosten der Krim mit Storm Shadow.

Dazu hat die Ukraine bereits US-Raketen vom Typ ATACMS in ihrem Arsenal. Diese haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern und verfügen teilweise über Gefechtsköpfe mit Streumunition. Damit könnten Kiews Truppen insbesondere russische Flugfelder angreifen. Die Streumunition hat dabei den militärischen Vorteil, großflächigen Schaden anzurichten und etwa weit auseinander geparkte Flugzeuge zu treffen. Mehr zu möglichen Zielen in Russland lesen Sie hier.

Video | Was sind ATACMS-Raketen und könnten sie den Kriegsverlauf verändern?
Quelle: Glomex

Welche Bedeutung hat der Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland für den Krieg?

Bisher hat die Ukraine für Angriffe weit hinter der russischen Grenze vor allem Drohnen eingesetzt, die allerdings nur kleinere Mengen Sprengstoff tragen und so lediglich begrenzt Schaden anrichten können. Die Marschflugkörper bzw. ballistischen ATACMS-Raketen würden die Schlagkraft der Ukraine deutlich erhöhen. Außerdem wären Kiews Streitkräfte bei der Auswahl von Zielen flexibler.

Welche das sein könnten, erklärte der österreichische Oberst Markus Reisner dem Schweizer Sender SRF: "Die vorrangigen Ziele sind die Nachschublinien, Bereitstellungsräume und die Führungs- und Kommandopositionen. Das würde die Führungsstruktur der Russen durcheinanderbringen." Russland müsste auch seine Kampfjets außerhalb der Reichweite der westlichen Waffensysteme positionieren, um Verluste zu vermeiden.

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Der Militärexperte Nico Lange weist zudem auf die Abschussrampen für ballistische Raketen in Russland hin. Es sei sinnvoll, "die Abschussrampen für ballistische Raketen zu bekämpfen und sich nicht einzubilden, man kann Luftverteidigung so aufbauen, dass man jede Rakete, die von diesen Abschussrampen aus abgeschossen wird, abfangen kann", sagte Lange dem ZDF. Das wäre nicht nur militärisch sinnvoll, sondern auch ökonomisch, da die westlichen Unterstützer nicht immer wieder Flugabwehrraketen in Millionenwert nachliefern müssten.

Die ukrainische Analystengruppe "Frontelligence" hingegen schätzt die Auswirkungen einer Erlaubnis für weiterreichende Angriffe in Russland auf den Krieg als relativ gering ein. Denn Russland habe wohl schon einige seiner Hochwertziele außerhalb der Reichweite der Waffensysteme verlegt. Ähnlich hatte sich auch US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im Rahmen eines Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein Anfang September geäußert.

Die Erlaubnis für weitreichende Schläge sei nur ein Faktor in einer Reihe von Maßnahmen, die ergriffen werden müssten: "Der Schlüssel zum Sieg" liege vielmehr in der "qualitativen Verbesserung, dem schrittweisen Aufbau der ukrainischen Armee und ihrer wirtschaftlichen Anpassung in Verbindung mit der Lieferung von Langstreckensystemen", schreibt der "Frontelligence"-Gründer unter dem Pseudonym Tatarigami auf X.

Erwägt der Westen die Lieferung neuer weitreichender Waffen?

Tatsächlich soll die US-Regierung kurz vor der Entscheidung stehen, der Ukraine weitere Marschflugkörper zu liefern. Diese könnten Teil eines Hilfspakets sein, das noch in diesem Herbst vor den US-Präsidentschaftswahlen angekündigt werden soll.

Dabei soll es sich um Flugkörper des Typs JASSM aus US-Produktion handeln. Der Marschflugkörper wurde in vier Ausführungen produziert. Die neueste soll eine Reichweite von gut 1.800 Kilometern haben, die älteste kann rund 350 Kilometer weit fliegen. Welches der Modelle geliefert werden könnte, ist nicht bekannt. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Ukraine die modernste Variante erhält. Mehr zu dem Marschflugkörper lesen Sie hier.

Wie reagiert Russland auf die mögliche Freigabe?

Eine Zustimmung des Westens zum Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland durch die Ukraine würde Russlands Präsident Wladimir Putin zufolge bedeuten, dass sich die Nato "im Krieg" mit Russland befände. "Dies würde die Natur des Konflikts in erheblichem Maß verändern. Es würde bedeuten, dass Nato-Staaten im Krieg mit Russland sind", sagte Putin am Donnerstag einem Reporter des staatlichen Fernsehens. Wenn diese Entscheidung getroffen werde, "wäre dies nichts weniger als eine direkte Verwicklung der Nato-Länder in den Krieg in der Ukraine".

Der Kreml geht allerdings bereits davon aus, dass der Ukraine der Einsatz weitreichender Waffen aus den USA und Großbritannien gegen russisches Gebiet erlaubt wird. "Höchstwahrscheinlich sind all diese Entscheidungen schon gefallen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Er fügte hinzu, derzeit werde in den Medien Stimmung für den angeblich bereits gefallenen Entschluss gemacht. Nach Darstellung Peskows verstrickt sich der Westen so immer tiefer in den Konflikt. Er kündigte eine entsprechende Reaktion Moskaus an.

Wahrscheinlicher als eine militärische Eskalation ist derweil ein Exportbann Russlands. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, erwägt Putin, den Export bestimmter Metalle zu beschränken – im Falle einer US-Freigabe der Langstreckenwaffen. Eine solche Beschränkung könnte auch Uran betreffen, auf das viele europäische Länder angewiesen sind.

Zudem stellte Peskow Russland einmal mehr als Opfer und den von Putin befohlenen Angriffskrieg als Selbstverteidigung dar. "Jede solcher Entscheidungen, die vom kollektiven Westen getroffen und dann von der Ukraine umgesetzt wird, ist ein weiterer Beweis für die Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der militärischen Spezialoperation", sagte Peskow.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
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