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Ukraine: Selenskyj bildet Kabinett um – was hinter Kulebas Rücktritt steckt


Selenskyj bildet sein Kabinett um
Eine Ernennung überrascht besonders


05.09.2024Lesedauer: 7 Min.
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Der ehemalige Außenminister Dmytro Kuleba, Präsident Wolodymyr Selenskyj und Präsidialamtschef Andrij Jermak (v. l. n. r., Montage): Vor Kulebas Rücktritt gab es allerlei Gerüchte über einen Zwist mit Jermak.Vergrößern des Bildes
Der ehemalige Außenminister Dmytro Kuleba, Präsident Wolodymyr Selenskyj und Präsidialamtschef Andrij Jermak (v. l. n. r., Montage): Vor Kulebas Rücktritt gab es allerlei Gerüchte über einen Zwist mit Jermak. (Quelle: imago/Ukraine Presidency/Yevhen Kotenko/Kaniuka Ruslan/Ukrinform/ABACAPRESS.COM/t-online)

Wolodymyr Selenskyj bildet sein Kabinett umfassend um. Gleich elf Personalien sind neu. Darunter sind alte und neue Gesichter – eine Ernennung überrascht besonders.

An einem schwarzen Tag seiner Karriere bleibt Dmytro Kuleba dem Parlament lieber fern. Seine Entlassung ist nun offiziell: Die Werchowna Rada hat das Rücktrittsgesuch des bisherigen Außenministers am Donnerstag angenommen. Im Westen war Kuleba eines der bekanntesten Gesichter der Regierung in Kiew. Doch das ist jetzt Vergangenheit.

Die Entlassung Kulebas ist Teil einer umfassenden Rotation in der ukrainischen Regierung. Gleich ein knappes Dutzend von Posten in Ministerien und der Präsidialverwaltung wurde neu besetzt. Nach und nach wurden die Rücktritte verschiedener politischer Figuren in den vergangenen Tagen verkündet, die in Kulebas Abgang gipfelten.

Am Mittwochabend veröffentlichte Fraktionschef David Arachamija die Personalien, die künftig wichtige Ämter übernehmen sollen. Wer sind die neuen und alten Gesichter in Selenskyjs Regierung? t-online hat darüber mit dem Ukraine-Experten Andreas Umland gesprochen. Der Analyst des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien erklärt Hintergründe der Personalrochade, zeigt Überraschungen auf und erklärt, was es mit den Gerüchten um die Gründe von Kulebas Rücktritt auf sich hat.

(Quelle: imago stock&people/imago-images-bilder)

Zur Person

Andreas Umland (*1967) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet von Kiew aus als Analyst beim Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten. Umland gründete die Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" ("Sowjetische und postsowjetische Politik und Gesellschaft").

Experte: Wechsel sind "alles anderes als ungewöhnlich"

Die Ministerrochade von Präsident Selenskyj ist keinesfalls unumstritten. Kritiker halten den Umbau für Augenwischerei und Aktionismus, um Veränderungen vorzutäuschen und um von den Misserfolgen im Abwehrkampf gegen die russische Invasion abzulenken. Auch die Probleme bei der Energieversorgung durch die ständigen russischen Angriffe auf die Infrastruktur lassen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der eigenen Führung wachsen.

Andreas Umland weist im Gespräch mit t-online auf einen weiteren, möglicherweise kritischen Aspekt hin: "Durch die Wechsel in der ukrainischen Regierung wächst insgesamt die Machtkonzentration beim Präsidenten", erklärt der Osteuropaexperte. Das sei allerdings "alles andere als ungewöhnlich" für ein Land im Kriegszustand: "Die Sicherheit hat für den ukrainischen Staat derzeit Priorität, eine stärkere Steuerung durch das Präsidialamt soll das gewährleisten." Zudem müsse beachtet werden, dass die Ministerinnen und Minister in Kriegszeiten stärker belastet werden und auch daher eventuell ausgetauscht werden müssten.

"Insgesamt aber ist der Austausch von Ministern im politischen System der Ukraine nicht ungewöhnlich – auch nicht in Friedenszeiten", sagt Umland. Solche Rochaden hat es immer gegeben. Daher werde der aktuelle Wechsel in der Ukraine auch weniger beachtet, in der medialen Berichterstattung eher zweitrangig behandelt.

Das sind die Wechsel in Selenskyjs Kabinett

Für insgesamt elf Posten hat Selenskyj neue und auch altbekannte Gesichter vorgeschlagen. Das ukrainische Parlament hat sie am Donnerstag bestätigt. Im Überblick lesen Sie, welche Personen nun befördert oder versetzt werden:

Andrij Sybiha – Außenminister: Der 49-jährige Diplomat mit langjähriger Erfahrung war zuvor im Präsidialamt für Außenpolitik und strategische Partnerschaften zuständig und erster Stellvertreter von Dmytro Kuleba. Noch davor war er zudem Botschafter in der Türkei gewesen. Sybiha habe eine gute Reputation, sagt Umland. "Seine Verbindungen in die Türkei könnten ausschlaggebend für die Besetzung gewesen sein, immerhin ist das Land der wichtigste Partner in der Schwarzmeerregion – allerdings ist das Spekulation." Zudem aber gelte Sybiha als weniger schillernde Figur als sein Vorgänger Kuleba, auch das könnte zu seiner Einsetzung beigetragen haben.

Iryna Wereschtschuk – Vizechefin des Präsidialamts: Die bisherige Vizepremierministerin und Ministerin für die Wiedereingliederung besetzter Gebiete wechselt ins Präsidialamt. Dort übernimmt sie den Posten als Vizechefin mit Fokus auf sozialen Themen. Experte Umland wertet das als Aufstieg Wereschtschuks – "auch wenn es zunächst anders klingen mag". Die 44-Jährige sei damit enger am Präsidenten und koordiniere einen wichtigen Bereich.

Olha Stefanischyna – Vizepremierministerin und Justizministerin: Die 38-Jährige diente in Selenskyjs Regierung zuletzt als Vize-Premierministerin mit Fokus auf die Integration der Ukraine in EU und Nato. Diesen Posten besetzt Stefanischyna nun erneut, bekommt dazu aber noch das Amt der Justizministerin. Das bedeute für sie eine Beförderung, erklärt Umland: "Als Vizepremierministerin hatte sie zuvor keinen eigenen Ministerapparat, daher war ihr Gestaltungsspielraum begrenzt." Nun werde sie sich wohl vorrangig um die Implementierung des EU-Rechtssystems in die Ukraine kümmern. "Stefanischyna wird dadurch zu einer sehr wichtigen Figur in Selenskyjs Regierung."

Oleksandr Kamyschin – Präsidentenberater für strategische Industrie: Bevor der 40-Jährige zum Minister für strategische Industrie wurde, hatte Kamyschin bis Februar 2023 die staatliche Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja geleitet. Jetzt rückt er ins Präsidialamt auf, wo er als Berater weiterhin den Bereich strategische Industrie verantworten soll. Wie im Falle Wereschtschuks handele es sich dabei um eine Beförderung, meint Andreas Umland.

Herman Smetanin – Minister für strategische Industrie: Der erst 31-jährige Smetanin hat eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Seit Ende Juni 2023 hatte er den staatlichen Rüstungskonzern Ukroboronprom geleitet. Davor war Smetanin Chef des Panzerwerks in Charkiw tätig gewesen. Seine Besetzung scheint in Anbetracht dieses Lebenslaufs naheliegend. Smetanin bringt insgesamt rund zehn Jahre Erfahrung als Konstrukteur und Ingenieur in der Rüstungsindustrie mit. Er galt bisher eher als Manager denn als Politiker. Das könnte für den Ministerposten von Vorteil sein.

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Matvij Bidnyj – Minister für Sport und Jugend: "Diese Personalie überrascht", sagt Experte Umland. Bidnyj war zunächst übergangsweise Minister für Jugend und Sport, nun erhält er den Posten offiziell. Der ehemalige Bodybuilder ist eine imposante Erscheinung, habe jedoch eine "etwas dubiose" Verwandtschaft, erklärt Umland. Der Schwiegervater des 44-Jährigen hatte lange mit Russlands Rüstungsindustrie Geschäfte gemacht – auch nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Wenig später wurde der Schwiegervater festgenommen. "Bidnyj distanzierte sich von ihm", so Umland, "dennoch erscheint diese Entscheidung zunächst etwas merkwürdig".

Mykola Tochytskyj – Minister für Kultur und Informationspolitik: Seine Besetzung gelte als "kleine Überraschung", sagt Umland. Der 56-Jährige ist langjähriger Diplomat, vertrat die Ukraine unter anderem vor der EU, zuletzt diente er als Vize-Außenminister. Als solcher nahm er zu Beginn des Kriegs an Verhandlungen mit Russland teil. Nun verantwortet Tochytskyj das Ministerium für Kultur und Informationspolitik, obwohl er zuvor nie im Kulturbereich tätig gewesen war. "Allerdings ist er ein enger Vertrauter von Selenskyj und Andrij Jermak, dem Leiter des Präsidialamts", so Umland. "Sein Ministerium ist durchaus wichtig, da von dort der Kampf gegen russische Desinformation gesteuert wird."

Svitlana Hryntschuk – Umweltministerin: Sie ersetzt den zurückgetretenen Ruslan Strilets. Zuvor war Hryntschuk Vize-Energieministerin. Seit 2016 arbeitet sie innerhalb der ukrainischen Regierungen auf Posten, die mit Umwelt- und Energiepolitik zu tun haben. Ab 2019 war sie unter anderem Beraterin des Präsidenten für Umweltschutz und Klimawandel.

Vitali Kowal – Agrarminister: Der 43-Jährige leitete bisher er den Staatsimmobilienfonds. Zuvor war er als Regionalpolitiker auf verschiedenen Posten in der nordwestlich gelegenen Oblast Riwne tätig. Dort leitete er vor der russischen Invasion die Regionalregierung und danach auch die Militärverwaltung.

Natalija Kalmykowa – Ministerin für Veteranenangelegenheiten: Die 42-Jährige diente zuletzt als Vize-Verteidigungsministerin, jetzt übernimmt sie das Ministerium für Veteranen. 2014 meldete sich Kalmykowa freiwillig zum Militär und wurde für ihr Engagement im Militär- und Sicherheitssektor mit mehreren Medaillen bedacht.

Olexej Kuleba – Vizepremier und Minister für regionale Entwicklung: Der 41-Jährige war zuletzt stellvertretender Leiter des Präsidialbüros. Diese Besetzung ist jedoch nur vorübergehend. Fraktionschef David Arachamija hat bereits angekündigt, dass das Ministerium später in die Bereiche Infrastruktur und Regionalpolitik aufgespalten werden soll. Olexej Kuleba ist nicht mit dem scheidenden Außenminister verwandt.

Gab es Zwist zwischen Kuleba und Jermak?

Unter all den Wechseln und Neubesetzungen ist wohl vor allem der Rücktritt Dmytro Kulebas beachtenswert. Vor allem diese Entwicklung sei in der ukrainischen Öffentlichkeit als Zeichen gewertet worden, erklärt Umland – auch wenn die Ukrainer davon keinen größeren Richtungswechsel in der Außenpolitik erwarteten. Der Minister war jedoch eine prägende Figur der vergangenen Jahre.

Kulebas Rücktritt scheint Gerüchte zu bestätigen, die schon länger im Umlauf sind: Der Ex-Außenminister soll im Zwist mit dem Leiter des Präsidialamtes, Andrij Jermak, gelegen haben. Der US-Zeitung "Politico" sagte ein anonymer, ehemaliger ukrainischer Spitzenbeamter dazu: "Jeder wusste, dass sie einen Konflikt hatten. Ich war sogar einmal Zeuge einer solchen Episode."

Der Quelle zufolge soll es Jermak nicht gefallen haben, dass Kuleba international vor allem mit seinen Amtskollegen in den USA und Deutschland, Anthony Blinken und Annalena Baerbock, gut vernetzt gewesen sei. Das Präsidialamt aber habe solch wichtige Kontakte nicht aus der Hand geben wollen, auch wenn Kuleba sich als loyal erwiesen hatte.

Kuleba war der am zweitlängsten amtierende Außenminister

Auch Experte Umland bestätigt diese Gerüchte: "Zuletzt gab es wohl immer wieder Spannungen zwischen Kuleba und Andrij Jermak." Der Leiter des Präsidialamts habe die Außenpolitik immer mehr an sich ziehen wollen. So war er beispielsweise sehr prominent beim Friedensgipfel in der Schweiz zwischen Staats- und Regierungschefs vertreten. "Kuleba galt stets eher als Intellektueller und trat auch so auf", macht Umland einen Unterschied zu Jermak deutlich. "Unter anderem dadurch war er für Jermak wohl ein Konkurrent." Zudem habe es immer wieder den Vorwurf gegeben, Kuleba sei nicht effektiv genug gewesen, etwa bei den Bitten um Waffenlieferungen des Westens.

Was nun aus Kuleba wird, steht noch nicht fest. Angeblich soll ihm ein Posten als Nato-Botschafter angeboten worden sein. Ob er das Angebot angenommen oder abgelehnt hat, ist jedoch nicht bekannt. Zunächst verabschiedete sich Kuleba jedoch bei seinen engen Kollegen Blinken, Baerbock und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell für die Zusammenarbeit.

Trotz aller Kritik an und Gerüchten um Kuleba muss eines beachtet werden: "Er war der Außenminister mit der zweitlängsten Amtszeit in der Ukraine – immerhin gut viereinhalb Jahre", sagt Umland. Nur Pawlo Klimkin, der von 2014 bis 2019 als Außenminister amtierte, saß länger auf dem Posten. Dieser übrigens betätige sich mittlerweile in der Zivilgesellschaft, gründete etwa das Zentrum für nationale Stabilität und Entwicklung, erzählt Umland. Möglicherweise könnte auch Kuleba diesen Ausweg aus der Politik wählen.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Andreas Umland
  • Eigene Recherche
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