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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gebietsabtritte an Russland? "Vielleicht eine Lösung, vorübergehend"

Gebietsabtritte an Russland hat der ukrainische Präsident bisher kategorisch ausgeschlossen. Dabei wäre die Ukraine grundsätzlich in der Lage dazu – doch die Hürden sind hoch.
Fair sei es nicht, sagte der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko. Aber es könnte "vielleicht eine Lösung sein, vorübergehend", sagte der ehemalige Profiboxer in einem Interview der britischen BBC. Damit meinte Klitschko, dass die Ukraine möglicherweise vorübergehend Gebiete an Russland abtreten könnte, um einen Frieden in der Ukraine zu erreichen.
Der Druck auf die ukrainische Regierung, Teile des Landes an Russland abzugeben, ist in den vergangenen Tagen gestiegen. "Die Krim wird bei Russland bleiben", sagte US-Präsident Donald Trump zuletzt dem "Time"-Magazin. Laut Medienberichten hatte die US-Regierung zuvor beiden Ländern ein Abkommen vorgeschlagen: Im Kern soll dabei die Ukraine von Russland eroberte Gebiete abtreten, damit im Umkehrschluss der Krieg entlang der aktuellen Frontverläufe eingefroren wird. Gleichzeitig soll die Ukraine Russland garantieren, in Zukunft keine Mitgliedschaft der Nato anzustreben.
Bislang hat der ukrainische Präsident allerdings ausgeschlossen, dass die Ukraine Gebiete an Russland abtreten wird. Doch entgegen Behauptungen aus Russland und den USA liegt es nicht allein an Selenskyj, dass die Ukraine nicht auf die Vorschläge der US-Regierung eingehen will. Denn um tatsächlich die Vorschläge umzusetzen, gibt es auch hohe verfassungsrechtliche Hürden in der Ukraine.
- Krieg in der Ukraine: Alle Informationen im Newsblog
Grundsätzlich soll laut Medienberichten die Ukraine Gebietsabtritte für verschiedene Regionen zustimmen, die Russland aktuell für sich beansprucht: Dabei geht es zum einen um die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Halbinsel Krim. Zusätzlich sollen die USA die Ukraine zu den Abtritten der vier Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson drängen.
Diese Regionen hatte Russland seit der Vollinvasion 2022 teilweise eingenommen. Im September des Jahres erklärte der Kreml einseitig, dass die vier ukrainischen Regionen als russisches Staatsgebiet anerkannt werden. Dafür wurden in den Gebieten Scheinreferenden abgehalten, die angeblich zeigen sollten, dass die dortige Bevölkerung mehrheitlich einem Anschluss an Russland zustimmt. Völkerrechtlich sind die Abstimmungen allerdings wertlos, da sie von Russland auf fremden Staatsgebiet abgehalten wurden.
Volksabstimmungen in Ukraine notwendig
Russland meldete nach der Abstimmung, dass alle Gebiete für einen Anschluss an Russland gestimmt hatten. Beweise, dass Russland in den Gebieten eine freie Wahl garantiert hatte, konnte der Kreml bis heute nicht liefern: Unabhängige Wahlbeobachter – etwa von der OSZE – waren bei den Referenden nicht anwesend. In einer anschließenden UN-Abstimmung verurteilte eine große Mehrheit der Länder die Abstimmungen und bezeichnete sie als illegal.
Dementsprechend hat die Ukraine die Ergebnisse der Abstimmungen ebenfalls nicht akzeptiert. In der ukrainischen Verfassung sind in Artikel 133 alle vier Regionen inklusive der Krim weiter als ukrainisches Staatsgebiet aufgelistet. Rein rechtlich betrachtet gibt es allerdings Möglichkeiten, wie das Land Gebietsabtritten zustimmen könnte: Artikel 73 der ukrainischen Verfassung sieht vor, dass Änderungen des Staatsgebietes möglich sind, wenn sich dafür eine Mehrheit in einer Volksabstimmung ausspricht.
Mehrheit der Ukrainer nicht bereit zu Gebietsabtritten
Zusätzlich wäre noch eine Änderung des Artikels 133 notwendig, damit die entsprechenden Regionen nicht mehr als ukrainisches Staatsgebiet gelistet sind. Für eine solche Verfassungsänderung ist dann noch eine Zweidrittelmehrheit im ukrainischen Parlament notwendig.
Allerdings stellen sich dann noch weitere Fragen: Eine nationale Abstimmung während die Ukraine sich weiter im Krieg befindet, würde das Land vor enorme Herausforderungen stellen. Der Staat müsste etwa gewährleisten, dass die vielen Soldaten, die aktuell im Einsatz sind, abstimmen können. Gleiches gilt für die aktuell fast sieben Millionen Ukrainer, die aufgrund des Krieges ins Ausland geflüchtet sind.
Zusätzlich müsste die Abstimmung auch auf den von Russland für sich beanspruchten Regionen durchgeführt werden. Ob Russland dem zustimmt oder gar eine freie, unabhängige Wahl auf den Gebieten garantieren kann, ist angesichts der vorangegangenen Scheinreferenden mindestens fraglich.
Parlament trägt Linie des Präsidenten mit
Sollte die Ukraine allerdings entsprechende Abstimmungen realisieren können, bleibt es aktuell weiter fraglich, ob die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung einem Gebietsabtritt zustimmt: Laut einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) waren im Januar 38 Prozent der Befragten zu Gebietsabtritten an Russland bereit. Allerdings ist die Zahl mit Verlauf des Krieges gestiegen: Im vergangenen Dezember erklärten sich 32 Prozent dazu bereit, ein Jahr zuvor waren es im Dezember 2023 19 Prozent, im Dezember 2022 lag der Wert bei acht Prozent.
Ein ähnliches Bild zeigt sich im ukrainischen Parlament: Die größte Fraktion ist dort aktuell die Partei des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ("Diener des Volkes"), die 231 Abgeordnete stellt. Zusätzlich wird die Regierungspartei in ihrem Kurs von weiteren kleineren Fraktionen unterstützt, was der Gruppe insgesamt eine knappe Mehrheit von 301 Stimmen gibt, die für eine Zweidrittelmehrheit ausreichen.
Auch in der Opposition befinden sich zusätzlich weitere Parteien, die den grundsätzlichen Kurs der Regierung mittragen: Das zeigte sich zuletzt etwa darin, dass eine deutliche Mehrheit von 357 Abgeordneten für eine weitere Verlängerung des Kriegsrechts in der Ukraine gestimmt hatten. Soll heißen: Eine entsprechende Verfassungsänderung wäre aktuell nur möglich, wenn die Partei Selenskyjs entgegen seiner bisherigen Linie sich offen für Gebietsabtritte zeigt.
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagentur dpa
- reuters.com: "Ukraine's parliament extends martial law until August" (Englisch)
- data.unhcr.org: "Ukraine situation" (Englisch)
- kyivindependent.com: "38% of Ukrainians oppose any territorial concessions to Russia" (Englisch)
- zdf.de: "Selenskyj: Ukraine verzichtet nicht auf Gebiete"
- zakon.rada.gov.ua: "Constitution of Ukraine" (Englisch)