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Russland: Putins Reaktion auf Kursk-Invasion – "neue Normalität"?


Kursk-Invasion der Ukraine
Es gibt kein Zurück mehr


22.08.2024Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin im Gespräch mit dem Chef der russischen Ärztekammer, Leonid Roschal (Archivbild): Angesichts der Kursk-Invasion der Ukraine will Putin Normalität ausstrahlen. (Quelle: IMAGO/Mikhail Tereshchenko/imago)

Seit mehr als zwei Wochen dauert die Kursk-Invasion der Ukraine an. Die ukrainische Offensive bringt Wladimir Putin unter Zugzwang. Er steckt in gleich mehreren Dilemmata.

Der 23. August 1943 ist in die Annalen der russischen Geschichte eingegangen. Nach einer wochenlangen und äußerst verlustreichen Schlacht konnte die Rote Armee die deutsche Wehrmacht nahe der Stadt Kursk zurückschlagen. Die Sowjets verloren dabei rund 863.000 Soldaten, auf Seite Nazideutschlands fielen mehr als 200.000 Mann. Es war ein Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, die deutsche Offensive an der Ostfront war gebrochen.

Knapp 81 Jahre hat es gedauert, bis erneut ausländische Streitkräfte auf russischem Boden kämpfen: Seit dem 6. August führt die Ukraine eine Offensive in Russland durch – und wieder finden Kämpfe in der Region Kursk statt. Die ukrainische Armee kontrolliert laut eigenen Angaben mehr als 1.250 Quadratkilometer Land in Kursk. Die russischen Behörden evakuierten bereits mehr als 120.000 Menschen aus der Region.

Die ukrainische Offensive ist aufgrund der historischen Bedeutung von Kursk ein herber Schlag für Wladimir Putin – trotzdem hüllt sich der russische Präsident größtenteils in Schweigen. Die Invasion bezeichnete er bisher lediglich als "Provokation" und rief einen "Anti-Terror-Einsatz" aus. Offenbar will der Kremlchef den Anschein von Normalität verbreiten. Tatsächlich aber hat die ukrainische Offensive Putin gleich in mehrere Dilemmata gebracht – und Lösungen scheint er bisher nicht gefunden zu haben.

Putins "rote Linien"

Das erste Dilemma: Putin hat angesichts der Kursk-Invasion ein Problem mit seinen "roten Linien". Lange hatten seine Drohungen, etwa mit dem Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Angriffs auf Russland, die Entscheidungsträger im Westen gelähmt. Doch im Laufe des Krieges überschritt die Ukraine mehrfach angebliche Eskalationsschwellen Russlands, bisher allerdings hat es kaum Reaktionen darauf gegeben. Für Putin ist das ein Zeichen der Schwäche, seine Drohungen stellten sich als leere Worte heraus.

Video | Ukraine sprengt weitere Nachschub-Brücke
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Quelle: t-online

Zu Beginn des Krieges hatte Russland etwa eine "rote Linie" bei der Lieferung westlicher Waffen gezogen. Im vergangenen März drohte Putin außerdem damit, westliche Luftwaffenstützpunkte zu "legitimen Zielen" zu erklären, sollten von dort ukrainische F-16-Kampfjets starten. Auch bei Angriffen auf Ziele in Russland drohte er mit einer harten Reaktion. All das wurde bereits umgesetzt, doch zumindest nuklear eskaliert hat Putin den Krieg noch nicht.

Erst die Eröffnung einer weiteren Front in der ukrainischen Region Charkiw durch Putins Armee ab Mitte Mai brachte die Unterstützer der Ukraine etwa dazu, Kiews Truppen den Einsatz westlicher Waffen auch gegen Ziele in Russland zu erlauben. In jeder Debatte im Westen um die Lieferung eines neuen Waffentyps an die Ukraine werden zudem Putins "rote Linien" als Gegenargument angebracht.

Auch deshalb setzte die Ukraine ihre Verbündeten vor der Kursk-Invasion über ihre Pläne laut Aussagen von Wolodymyr Selenskyj nicht in Kenntnis. Der ukrainische Präsident erklärte am Wochenende vor Diplomaten und Beamten, Kritiker hätten allein Gedankenspiele dieser Art als Überschreiten der "rotesten aller roten Linien Russlands" abgelehnt. Der jetzige Erfolg zeige aber deutlich Wladimir Putins Unfähigkeit, sein Territorium vor solchen Gegenangriffen zu schützen. Zudem habe der ukrainische Vorstoß auch zu einem Umdenken bei den westlichen Partnern geführt, meinte Selenskyj.

Die ukrainische Armee hat gezeigt, dass sie noch immer Offensivaktionen durchführen und ein Überraschungsmoment kreieren kann. Machte sich in den vergangenen Monaten angesichts von Rückschlägen für die Ukraine noch Pessimismus im Westen breit, könnte die Operation in Kursk nun wieder die Tatkraft für weitere Waffenlieferungen wecken. Die USA erwägen wohl bereits die Lieferung neuer, weitreichender Marschflugkörper.

Putins militärische Antwort auf die Kursk-Offensive

Putins zweites Dilemma steckt in seiner militärischen Antwort auf die ukrainische Invasion. Der Kremlchef scheint nicht bereit zu sein, bedeutende Truppenteile aus dem Donbass nach Kursk zu verlegen. Russland setzt darauf, dass die Ukraine die Verteidigung im Osten zugunsten der Kursk-Offensive vernachlässigt. Das will Putin für Geländegewinne vor allem in der Region Donezk nutzen. Dafür aber opfert er für den Moment Teile des eigenen Territoriums, die ohne erfahrene Truppen wohl nur schwierig zurückzuerobern sind. Mehr dazu lesen Sie hier.

Russland setzt in Kursk nun vor allem auf Wehrpflichtige, die teils erst wenige Wochen bis Monate ihren Wehrdienst ableisten. Laut Angaben der kriegskritischen Nichtregierungsorganisation "Get Lost" könnten rund 1.000 von ihnen im Einsatz in Kursk sein. Viele dieser russischen Reservisten sind wohl schon in ukrainische Kriegsgefangenschaft geraten.

Das russische Gesetz verbietet den Einsatz von Rekruten, die weniger als vier Monate Wehrdienst geleistet haben, in Gefechtszonen. Auf Onlineplattformen tauchen bereits Petitionen von Müttern der Wehrpflichtigen auf, die ihren Abzug aus dem Kriegsgebiet fordern. Andere Reserven aber scheint Putin aktuell nicht zu haben.

Kommt eine neue Mobilisierung?

Laut einem Bericht des unabhängigen russischen Mediums "Meduza" soll Putin zu Beginn der Kursk-Invasion eine neue Mobilisierungswelle erwogen haben. In Russland gilt eine solche Maßnahme als extrem unpopulär. Nach der ersten Teilmobilisierung im Herbst 2022 verließen Zehntausende Russen das Land. Putin hatte die Möglichkeit einer erneuten Mobilisierung zuletzt stets zurückgewiesen. Massenhafte Rekrutierungen liefen jedoch vor allem mit finanziellen Anreizen weiter.

Verzichtet Putin also auf eine erneute Mobilisierung und ebenso auf die Verlegung von größeren Truppenteilen aus den besetzten Gebieten in der Ukraine nach Kursk, muss er aufgrund fehlender Reserven den Anteil Wehrpflichtiger zur Verteidigung von Kursk erhöhen. Das könnte, ebenso wie im Fall der Teilmobilisierung, innenpolitisch schwierig zu verkaufen sein. An einem Narrativ zur Begründung der langsamen Reaktion auf die ukrainische Invasion aber arbeitet der Kreml wohl bereits.

Putins "neue Normalität"

Dem "Meduza"-Bericht zufolge waren die Eliten in Moskau zunächst geschockt von dem ukrainischen Angriff auf Russland. Rund zwei Wochen nach ihrem Beginn aber soll der Schock verflogen und die anhaltenden Gefechte als "neue Normalität" akzeptiert worden sein – auch weil die Ukraine bisher mit ihrer Offensive nicht nah genug an dichter besiedelte Gebiete in Kursk vorgerückt ist.

Nun wird die "neue Normalität" von Propagandisten verbreitet. Dazu gehört zunächst, die Invasion der Ukrainer in russisches Territorium als solche anzuerkennen. Gleichzeitig aber heißt es dann, dass die Niederlage der Eindringlinge unvermeidbar sei. Im Anschluss erklären Putins Propagandisten, dass die Rückeroberung Zeit kosten werde und die Russen geduldig sein müssten.

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Eine anonyme kremlnahe Quelle sagte dem Medium, dass dies notwendig sei, "damit die Menschen das, was geschieht, nicht als eine Abweichung, sondern als eine neue, wenn auch vorübergehende Norm betrachten". Doch Putins Narrativ birgt diverse Fallstricke und letztlich das dritte Dilemma des russischen Präsidenten.

Denn diese "neue Normalität" ist zwar ein alterprobtes Mittel – das jedoch nur langfristige Wirkung trägt, wenn sich diese "Normalität" nicht verschlechtert. In der Vergangenheit hat sich Putin angesichts militärischer Rückschläge in der Ukraine stets im Hintergrund gehalten und etwa seine Minister oder Gouverneure schlechte Nachrichten überbringen lassen. Selbst personelle Konsequenzen, etwa die Entlassung von Kommandeuren, vollzog Putin erst, wenn das Problem weitgehend behoben war.

Putin geht während der Invasion auf Reisen

Deshalb versucht Putin vor allem, seiner Bevölkerung Normalität vorzuspielen. Er reiste in den vergangenen Tagen auch ins Ausland, um zu vermitteln, dass zu Hause alles unter Kontrolle ist. Am Wochenende besuchte Putin den aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew in Baku. Dann zog es ihn am Montag und Dienstag in den Nordkaukasus.

In der Region Nordossetien verglich er die blutige Geiselnahme tschetschenischer Rebellen an einer Schule in Beslan vor 20 Jahren dann mit der ukrainischen Kursk-Offensive. "Wir werden die Verbrecher zweifellos bestrafen", erklärte Putin. Russische Spezialeinheiten hatten die Schule am 3. September 2004 gestürmt, dabei kamen mehr als 330 Menschen ums Leben, darunter 186 Kinder.

Mehr sagte Putin zur Situation in Kursk jedoch nicht. Er spielt die Situation herunter. In der Vergangenheit hatten sein Schweigen oder vage Aussagen angesichts von Krisen oft Kritik ausgelöst. In Russland scheint er trotz seines Angriffskrieges in der Ukraine fest im Sattel zu sitzen, noch zumindest ist kein Widerspruch zu seinem Kurs zu vernehmen.

Doch Putin läuft die Zeit davon. Berichten zufolge soll er befohlen haben, die ukrainische Invasion bis zum 1. Oktober zu beenden. Die militärischen Mittel wie erfahrene Truppen will er dafür demnach jedoch nicht bewilligen. Sollte das Vorhaben nicht gelingen, wäre es für Putin ungleich schwieriger, seiner Bevölkerung weiterhin eine Normalität vorzuspielen, die es zumindest im Süden Russlands nicht mehr gibt. Das könnte den russischen Präsidenten in den kommenden Wochen noch mehr in Bedrängnis bringen.

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