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Nato-Gipfel Vilnius: Beitritt der Ukraine? – Erst Ansage, dann Enttäuschung


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Tagesanbruch
Auf die Ansage folgt herbe Enttäuschung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.07.2023Lesedauer: 5 Min.
Außenministerin Baerbock (Archivbild): Sie würde gerne mit Putin verhandeln.Vergrößern des Bildes
Außenministerin Baerbock beschwört den Friedenswillen der Nato-Staaten. (Quelle: F. Harms)
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Guten Morgen aus Vilnius, liebe Leserin, lieber Leser,

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Das Gefühl der Bedrohung wächst mit der Nähe zum Ursprung der Aggression. Deshalb ist es etwas anderes, ob man in Hannover, Dresden, Nürnberg lebt – oder in Vilnius. All diese Städte haben ungefähr gleich viele Einwohner, etwas mehr als eine halbe Million. Es gibt dieselben Einkaufsketten, auf den Straßen flitzen dieselben Automarken umher, rein äußerlich ähneln sich sogar die Passanten. Doch der Unterschied zwischen den deutschen Orten und der litauischen Hauptstadt könnte kaum größer sein: Gerade einmal 35 Kilometer beträgt die Entfernung von Vilnius bis zur belarussischen Grenze – quasi vor den Toren der Stadt liegt Putins diktatorischer Vasallenstaat. Und dahinter der Riese Russland, daneben die angegriffene Ukraine.

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Putins grausamer Feldzug sorgt weltweit für Erschütterung. Hier im Baltikum schürt er auch die Angst, zum nächsten Opfer des Kremlherrschers zu werden. Immer wieder hat Putin Estland, Lettland und Litauen unverhohlen gedroht, haben seine Apparatschiks und Propagandatröten Russlands vermeintlichen Besitzanspruch auf die Ex-Sowjetrepubliken betont. Das macht etwas mit den Menschen hier, es ist mit Händen zu greifen, wenn man durch Vilnius läuft und mit den Leuten spricht. Wo immer möglich, demonstrieren sie ihre Solidarität mit den Ukrainern.

Das nehmen auch Spitzenpolitiker wahr, die anlässlich des Nato-Gipfels hierher geeilt sind. "Nirgendwo spürt man stärker als hier in Vilnius, wie wichtig die Solidarität mit der Ukraine ist", sagt Außenministerin Annalena Baerbock – und verbindet ihren Eindruck mit einer Forderung: "Es darf keine Graubereiche für Sicherheit mehr geben. Jedes Land hat das Recht darauf, in Freiheit und Sicherheit zu leben. Wir wollen auf diesem Kontinent mit allen Staaten in Frieden leben – auch Russland. Aber Putins Russland ist eine Gefahr für den Frieden." Die Worte anderer Minister und Regierungschefs klingen ähnlich.

Umso bemerkenswerter ist das Kommuniqué, auf das sich die 31 Nato-Mitgliedstaaten nach tagelangem Feilschen verständigt haben: Es fällt ausgesprochen vorsichtig aus. Oder sollte man eher sagen: ängstlich? Zwar soll die Ukraine noch mehr Waffen bekommen (hier die Details). Im Text heißt es: "Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato. Wir bekräftigen unsere auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest eingegangene Verpflichtung, dass die Ukraine ein Mitglied der Nato wird." Dann folgt das große Aber: Die Nato könne die Ukraine erst dann zum Beitritt einladen, "wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind". Als Beispiele werden nebulös "zusätzliche erforderliche Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors" genannt.

Das ist einerseits absichtlich schwammig formuliert, andererseits kennt jeder hier den Hintergrund: Vor allem die USA und Kanada und Deutschland haben Vorbehalte gegen die ukrainische Mitgliedschaft. Vordergründig geht es dabei darum, dass das Militär in jedem Mitgliedstaat einer zivilen und demokratischen Kontrolle unterliegen soll, was in der kriegsgebeutelten Ukraine offensichtlich schwierig ist.

Schwerer wiegen die grundsätzlichen Bedenken: Washington und Berlin wollen sich keine ungelösten Konflikte ins Bündnis holen. Außerdem scheinen sie eine unberechenbare Eskalation des angeknacksten russischen Regimes zu fürchten, falls das Versprechen für Kiew nun zu deutlich ausfällt. Immerhin besitzt Russland das größte Atomwaffenarsenal der Welt. Dass die Bedenken nicht aus der Luft gegriffen sind, demonstriert Kremlsprecher Peskow: Prompt droht er dem Westen mit "katastrophalen Folgen", wie meine Kollegin Clara Lipkowski berichtet.

Politisch und taktisch ist die Zurückhaltung Berlins und Washingtons nachvollziehbar, menschlich ist sie tragisch. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte aus seiner Enttäuschung gestern folglich keinen Hehl: "Es sieht so aus, als ob es keine Bereitschaft gibt, die Ukraine in die Nato einzuladen oder sie zum Mitglied der Allianz zu machen", schnaubte er per Twitter. "Für Russland ist das eine Motivation, seinen Terror weiter fortzusetzen." Bei einem Open-Air-Konzert in Vilnius beschwor er die Führer der Allianz und wünschte sich "eine Nato, die nicht zweifelt, keine Zeit verschwendet und sich nicht zu irgendeinem Angreifer umblickt". Tausende Litauer jubelten ihm zu.

Das ist er eben, der Unterschied zu Deutschland: Hier im Baltikum ahnen die Menschen sehr genau, was ihnen blüht, falls sie sich nicht verteidigen können.


Ohrenschmaus

Eigentlich ist es ganz einfach, was die Welt jetzt braucht: Er hat es gewusst.


Ach ja, die CDU

Die Ampelkoalition schwächelt, aber die größte Oppositionspartei CDU tut es auch: Bisher ist es Parteichef Friedrich Merz nicht gelungen, klare Alternativen zum Regierungskurs aufzuzeigen. Das liegt teils an ihm selbst, teils an der intellektuellen Leere des nach 16 Merkel-Jahren ausgelaugten Ex-Kanzlerinnenwahlvereins, teils aber auch am restlichen Führungspersonal.

Schon länger hörten wir CDU-Leute über Generalsekretär Mario Czaja mosern: Der Ostberliner sei zu wenig in der Öffentlichkeit und in den regionalen Parteikreisen präsent, hieß es. Gerüchten über eine mögliche Ablösung trat der Parteichef jedoch bis vor Kurzem entschieden entgegen: "Das wird nicht passieren. Er macht sehr gute Arbeit", erklärte Herr Merz im Interview mit unserer Redaktion.

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Gestern zeigte er dann, wie kurz sein Wort hält: Er setzte Czaja vor die Tür und erkor Carsten Linnemann zum neuen General; heute will er den Paderborner kommissarisch ernennen. "Die Abberufung Czajas dürfte ein Versuch von Merz sein, von den eigenen Problemen abzulenken", schreibt meine Kollegin Miriam Hollstein. Wie recht sie hat.


Zurück zur Natur

Schutzgebiete vergrößern, Wälder aufforsten, Moore renaturieren: So viele Schritte sieht das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur vor, über das heute das Europaparlament entscheidet. Das Vorhaben ist Teil des Klimaschutzpakets "Green Deal" von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – wird aber ausgerechnet von deren christdemokratischer Partei EVP und deren machtbewusstem Fraktionschef Manfred Weber (CSU) hintertrieben. Die Konservativen finden, der Gesetzesentwurf gefährde die Ernährungssicherheit in Europa und zwinge Bauern, Teile ihres Agrarlands aufzugeben – zwei Behauptungen, die Faktenchecks nicht standhalten. Bleibt zu hoffen, dass sich doch noch die Vernunft durchsetzt.


Lauterbach gegen Long Covid

Wer unter den Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung leidet, hat oft mit Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und Kurzatmigkeit zu kämpfen. Auch Husten, Muskelschwäche oder Sprachstörungen zählen zu den Symptomen. Doch so wenig sich bislang ein einheitliches Krankheitsbild abgrenzen lässt, so ratlos sind oft die Betroffenen, wo sie Hilfe finden können. Das will Karl Lauterbach ändern: Der Gesundheitsminister plant mehrere Initiativen für eine bessere Versorgung; unter anderem arbeitet sein Haus an einer Webseite mit Informationen und Anlaufstellen für Patienten. Heute will er seine Pläne vorstellen.


Lesetipps

Was hat Erdoğan dafür bekommen, dass er den Nato-Beitritt Schwedens akzeptiert? Mein Kollege Patrick Diekmann gibt Ihnen den Überblick.



Wie investieren Regierungsmitglieder ihr Vermögen? Bislang müssen sie das nicht sagen. Die Linke will das dringend ändern – und erinnert Vizekanzler Robert Habeck an ein Versprechen, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.


Heiß ist es! Wer nach Abkühlung sucht und seinen Körper entlasten will, sollte die Tipps von Eckart von Hirschhausen beachten.


Das historische Bild

Eigentlich wollten chinesische Bauern 1974 nur einen Brunnen bohren. Dann stießen sie auf ein Weltwunder.


Zum Schluss

Ruckzuck Frieden, ginge das?

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Morgen schreibt David Schafbuch den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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