Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nato-Gipfel Diese rote Linie muss der Westen ziehen
Um keinen Preis will die Nato Kriegspartei werden, stattdessen schielt sie ängstlich auf Wladimir Putins Reaktionen. Damit schadet sie sich nur selbst, schreiben die Nato-Expertin Stefanie Babst und die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwiischuk in diesem Gastbeitrag.
Mit der mutwilligen Zerstörung des Kachowka-Staudamms vor wenigen Wochen hat Russland eine weitere rote Linie überschritten. Menschen, Tiere und Häuser verschwanden in den Fluten; und diejenigen, die mit Schlauchbooten versuchten, ihre ertrinkenden Nachbarn zu retten, wurden von russischen Truppen aus dem Hinterhalt beschossen. Aber die Ukrainer hatten wenig Zeit, diese immense Zerstörungstat zu verdauen. Nur kurze Zeit später richteten sich Moskaus tödliche Raketen und Drohnen erneut auf Kiew, Kramatorsk und viele andere Städte. Das Ergebnis ist stets dasselbe: Blutlachen, Tod und Trauer.
Haben die westlichen Regierungen wirklich begriffen, was Russland mit der Überflutung und Kontaminierung großer Teile der südlichen Ukraine bezweckt? Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas brachte es auf den Punkt, als sie sagte: "Der Terrorstaat Russland hat nun Wasser zu einer Waffe gemacht." Andere offizielle Kommentare waren sehr viel verhaltener. In Berlin sprach Bundeskanzler Olaf Scholz nüchtern von einer "neuen Dimension des Krieges". Konkrete politische Taten sind aufs Moskaus Einsatz der tödlichen Wasserwaffe bislang nicht erfolgt.
Welches Tabu wird Putin als nächstes brechen wollen? Wird er das Atomkraftwerk in Saporischschja verwüsten lassen, um damit die Ukraine und weite Teile ihrer europäischen Nachbarn zu verstrahlen? Will er die Ukrainer so zwingen, sich auf die Bewältigung eines noch größeren Desasters zu konzentrieren, um ihren Verteidigungskampf aufzugeben und sich mit den Besatzern an einen Verhandlungstisch zu setzen?
Die Nato-Expertin und die Nobelpreisträgerin
Dr. Stefanie Babst ist ehemalige stellvertretende Nato-Generalsekretärin. Sie war 22 Jahre lang auf hochrangigen Nato-Posten in Brüssel tätig. Im April erschien ihr Buch "Sehenden Auges – Mut zum strategischen Kurswechsel". Dr. Oleksandra Matwiischuk ist Friedensnobelpreisträgerin 2022. Die gebürtige Kiewerin ist leidenschaftliche Menschenrechtsanwältin und Bürgerrechtlerin und leitet das Center for Civil Liberties.
Ganz offensichtlich versucht der Kreml, die ukrainischen Streitkräfte gleich auf mehrfache Weise unter Druck zu setzen. Russland will vor allem die Halbinsel Krim und die Küste des Asowschen Meeres aus dem Fadenkreuz nehmen. Aber obwohl die ukrainische Gegenoffensive im Süden schwierig ist, ist sie keineswegs zum Stillstand gekommen. Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten kämpfen sich tapfer durch die verminten russischen Verteidigungsstellungen; allen Widrigkeiten und Verlusten zum Trotz.
Die Liste der russischen Kriegsverbrechen wird immer länger
Butscha, Irpin, Mariupol, Bachmut, Cherson und Kramatorsk sind nur einige Städtenamen, die für Russlands terroristische Versuche stehen, die Ukrainer in die Knie zu zwingen. Die täglichen Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Wohnhäuser, Schulen, Einkaufszentren und Entbindungsstationen, der wahllose Einsatz von Phosphormunition und Landminen, die Massaker an Zivilisten, die grausamen Folterungen ukrainischer Kriegsgefangener und die zielgerichtete Deportation ukrainischer Kinder – die Liste der russischen Kriegsverbrechen, die eklatant gegen das Völkerrecht verstoßen, wird von Tag zu Tag länger. Niemand in der Ukraine glaubt, dass Putins Bereitschaft geringer geworden ist, den Krieg noch weiter eskalieren zu lassen.
Aber wird all dies zu einem Politikwechsel in den westlichen Hauptstädten führen? Gibt es westliche Regierungen, die ernsthaft bereit sind, das Terrorregime in Moskau gemeinsam mit der Ukraine zu stoppen?
Fehlt dem Westen der Mut?
Leider sieht es nicht danach aus. Während im Westen regelmäßig die Entschlossenheit und der starke Widerstandswille der Ukrainer gelobt werden, scheint das Verteidigungsbündnis, das sich gerne als "das erfolgreichste aller Zeiten" beschreibt, an seiner grundsätzlichen Strategie festhalten zu wollen: Was auch immer Russland den Ukrainern antut, die Verbündeten wollen partout keine Kriegspartei werden, sondern lediglich in einer Unterstützerrolle bleiben. Fehlen ihnen das Selbstvertrauen und die politische Entschlossenheit, sich dem russischen Regime energisch entgegenzustellen?
Es scheint fast so. Wo könnten Putins rote Linien liegen? Bei der Lieferung von Panzern und Raketenabwehrsystemen? Vielleicht eher bei der Bereitstellung von Kampfjets und Raketenwerfern mit größeren Reichweiten? Die Frage, welche Waffensysteme den Kreml möglicherweise provozieren könnten, hat die Nato-Verbündeten in den letzten 16 Monaten mehr beschäftigt als die Suche nach einer strategischen Antwort auf die wohl wichtigste Frage: Wie kann das aggressive und auf nukleare Erpressung setzende Russland dauerhaft in seine Schranken verwiesen und die Ukraine aus diesem Albtraum befreit werden?
Es ist eine Sache, nach Putins vermeintlich roten Linien zu suchen, aber welche sind unsere? Haben Freiheit, Demokratie und Menschenrechte außerhalb der Nato-Grenzen einen anderen Stellenwert?
Wenige Tage vor dem Nato-Gipfel im litauischen Vilnius sind diese Fragen für die Verbündeten höchst unbequem. Sicherlich wird das Bündnis Maßnahmen verkünden, um seine eigene Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit weiter zu verstärken. Schließlich will es in der Lage sein, jeden Zentimeter des Nato-Gebietes gegen Russland zu verteidigen. Darüber hinaus werden die Verbündeten versuchen, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinen ungarischen Kollegen Viktor Orbán in letzter Minute davon zu überzeugen, endlich der Aufnahme Schwedens zuzustimmen.
Selbst um diesen kleinen Satz wird gestritten
Aber der riesige politische Elefant im Raum ist und bleibt Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die Ukrainer haben ihre Erwartungen klar formuliert. Sie hoffen nicht nur auf Zusagen für weitere Waffenlieferungen und militärische Ausbildungshilfe, sondern auch auf einen konkreten Vorschlag, wie die Nato ihr 2008 gegebenes Aufnahmeversprechen an die Ukraine umsetzen will. Und obwohl zahlreiche westliche Regierungen klare Schritte für eine rasche Aufnahme der Ukraine in die Nato befürworten, finden die Bündnispartner nur mühsam einen Konsens darüber, die Ukraine tatsächlich ein Stückchen näher zu bringen. Insbesondere Deutschland ist nicht bereit, über die sogenannte "Bukarester Sprache" von 2008 hinausgehen. Die US-Regierung vertritt eine ähnliche Linie. Selbst um die Formulierung "Die Ukraine sollte möglichst bald ihren rechtmäßigen Platz in der transatlantischen Familie einnehmen" wird gestritten.
Der Weg, den die Nato anbietet, scheint darin zu bestehen, in eine ferne, unbestimmte Zukunft zu blicken: Die Ukraine muss zunächst als Staat überleben. Erst nach dem Ende des Krieges, wenn "die Bedingungen es zuließen", heißt es, könne man über eine Aufnahme der Ukraine verhandeln. Aber von welchem Zeitraum sprechen wir? Von einem Jahr? Drei, vier oder zehn Jahren? Derzeit weiß niemand, ob, wann und unter welchen Umständen die Ukraine in der Lage sein wird, Russlands Truppen von ihrem Staatsgebiet zu vertreiben. Und was wäre, wenn es Moskau gelänge, sich in Teilen der besetzen Gebiete dauerhaft festzubeißen? Würden dann die Aussichten der Ukraine auf eine Nato-Mitgliedschaft in eine noch weitere Ferne rücken? Der Verdacht liegt nahe, dass nicht wenige westliche Regierungen auf den Moment hoffen – in sechs, zehn oder 12 Monaten –, in dem die Ukrainer so erschöpft sein werden, dass sie bereit sind, "Land für Frieden"-Verhandlungen mit Moskau zuzustimmen.
Nur Waffenlieferungen reichen nicht
Sicher – für die ukrainischen Streitkräfte sind langfristige Zusagen für westliche Waffenlieferungen und militärische Ausbildungshilfe wichtig. Aber sie ersetzen keine klaren Sicherheitsgarantien. Auch ein neues Gesprächsformat richtet keinen Schaden an. Aber auch in dem "neuen Nato-Ukraine-Rat" wird die Ukraine nur als Partnerstaat mit am Tisch sitzen dürfen. Auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld und die strategische Konfrontation des Westens mit Russland wird das neue Gremium keine entscheidende Wirkung haben.
Gibt es in den westlichen Entscheidungszirkeln noch den Glauben an ein "geeintes, freies und friedliches Europa", so wie der frühere amerikanische Präsident George H. W. Bush es am Ende des Kalten Krieges beschrieb? Oder ist seine Vision heute schlicht nur ein Relikt der Vergangenheit? Sollte es irgendwo in den Köpfen der politisch Verantwortlichen noch einen Rest des Glaubens daran geben, dann müsste der Westen in Vilnius über seinen Schatten springen und Moskau eigene rote Linien aufzeigen.
Darum bleibt Russland auch nach einer Niederlage gefährlich
Solange in Russland der aggressive Putinismus dominiert, wird seine Wirkung toxisch bleiben: nicht nur für die Ukrainer, sondern für jedes andere demokratische und freiheitsliebende europäische Land.
Selbst wenn Russlands Streitkräfte eine militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld erleiden und die Kremlherrscher einen Waffenstillstand akzeptieren würden, wird ein stabiler Frieden mit diesem Russland nur schwer zu erreichen sein. Auch ein etwaiger Nachfolger Präsident Putins oder eine neue kollektive Führung in Moskau würde daran wenig ändern.
Russlands politisches System wird höchstwahrscheinlich für einen längeren Zeitraum autoritär und höchst instabil bleiben. Man muss keine Kassandra sein, um zu sehen, dass auch ein "Nach-Putin-Russland" seinen Großmachtstatus untermauern wird, vor allem mithilfe seines konventionellen und nuklearen Arsenals und seiner Freunde wie China, Indien und anderen Ländern. Dass ein militärisch besiegtes Russland seine Feindschaft gegenüber dem Westen aufgeben würde, ist eine gefährliche Illusion.
Das muss der Westen jetzt der Ukraine versprechen
Wenn wir wollen, dass die Sicherheit der Ukraine und Europas wiederhergestellt und langfristig geschützt werden soll, dann dürfen wir die Ukraine nicht vor der Tür stehen lassen. Sie muss die sicherheitspolitische Grauzone verlassen dürfen, in die die Nato sie 2008 gebracht hat. Die Ukraine sollte zumindest eine erneuerte Einladung und einen konkreten Zeitplan für den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der Nato erhalten.
Um den Kreml zu zwingen, sein teuflisches Kalkül zu ändern, müssten die Verbündeten in Vilnius eine unzweideutige Botschaft an Putin senden: Du hast bereits zu viele rote Linien überschritten; der Kachowka-Staudamm war deine letzte.