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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nato-Gipfel in Vilnius "Es gibt eine Eskalationsgefahr"
Wird die Ukraine ein Stück näher an die Nato rücken? Die Militärexpertin Claudia Major erklärt, welche Schritte dafür jetzt nötig sind.
Wolodymyr Selenskyj war zuletzt viel auf Reisen: Etliche Nato-Staaten hatte der ukrainische Präsident bereist, um seine Forderungen immer wieder zu unterstreichen: "Wir brauchen ein klares Signal", forderte der Präsident am Montagabend mit Hinblick auf einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine.
Doch wie soll das konkret funktionieren? Claudia Major von Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt, dass es auch im Interesse der Nato ist, jetzt einen Schritt mehr auf die Ukraine zuzumachen. Im Gespräch mit t-online erläutert die Militärexpertin, wie ein Fahrplan bis zur Mitgliedschaft aussehen könnte, welche Risiken bis dahin zu beachten sind und was sich die Ukraine zusätzlich von dem Gipfel erhoffen kann.
t-online: Frau Major, die Nato wird auf ihrem Gipfel wohl keine offizielle Einladung an die Ukraine aussprechen, dem Bündnis beizutreten. Wird dieser Gipfel eine Enttäuschung für die Ukraine?
Claudia Major: So genau lässt sich das jetzt noch nicht sagen. Nato-Gipfel sind für gewöhnlich durchchoreografiert. Da wird die eigentliche inhaltliche Arbeit vorher erledigt und auf dem Treffen wird dann Zusammenhalt und Solidarität demonstriert, damit Freund und Feind glauben, dass die Nato-Staaten im Krisenfall tatsächlich füreinander einstehen. Das ist diesmal nicht der Fall. Es knarzt und ruckelt bei vielen Themen, nicht nur bei der Ukraine.
Ist das jetzt für die Ukraine gut oder schlecht?
Es geht dem Land um eine konkrete Zusage, dass alle Alliierte das Ziel Nato-Beitritt unterstützen. Also eine Aussage, die über die des Nato-Gipfels von 2008 in Bukarest hinausgeht.
Claudia Major, geboren 1976, leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Seit 2010 ist sie zudem Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung der Bundesregierung.
Damals hieß es, dass die Ukraine und auch Georgien dem Bündnis beitreten können.
Genau. Aber es gab keinen konkreten Plan, wann und wie das funktionieren soll. Die Ukraine befand sich deswegen in einer Grauzone. Sie war vogelfrei. Es folgten die russischen Angriffe 2014 und 2022. Selenskyj hat im September 2022 offiziell einen Beitrittsantrag gestellt. Die Ukraine ist sich bewusst, dass es keinen schnellen Beitritt geben wird, aber wünscht sich für den Gipfel in Vilnius eine klare und konkrete Zusage, dass sie aufgenommen wird, im besten Fall einen Arbeits- und Zeitplan. Also ein Ende der Grauzone. Darüber hinaus bräuchte die Ukraine Sicherheitszusagen, also zielgerichtete, verlässliche und auf Dauer angelegte Zusagen, die gelten, bis die Ukraine beigetreten ist. Das wäre ein klarer Fortschritt.
Wird Selenskyj diese Zusagen erhalten?
Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Es gibt Staaten, die sich sehr stark für einen solchen Nato-Fahrplan aussprechen. Dazu gehören nicht nur die mittel- und osteuropäischen Staaten, sondern auch Frankreich und Großbritannien. Manche Staaten warten dagegen nur ab und andere, Deutschland und die USA, sehen einen solchen Rahmen offenbar sehr kritisch. Wahrscheinlich wird es mit Blick auf den Nato-Beitritt nur geringen Fortschritt geben.
Aber?
Einzelne Länder werden wohl auf bi- oder minilateraler Basis, also außerhalb der Nato, Abkommen mit der Ukraine treffen. Bereits jetzt laufen Waffenlieferungen über die Staaten oder das sogenannte Ramstein-Format. Die Nato bietet nur sogenannte "nicht-letale" Unterstützung, etwa im Sanitätsbereich. Wenn also Staaten oder Staatengruppen die Ukraine zum Beispiel mit Ausrüstung, Ausbildung, industrieller Kooperation unterstützen oder bestehende Zusammenarbeit verstetigen, wäre das auch ein Fortschritt. Und ein Nato-Beitritt birgt auch viele Risiken. Die will ich auch überhaupt nicht kleinreden.
Welche wären das?
Es gibt eine Eskalationsgefahr: konventionell, hybrid etwa, mit Propaganda oder nuklear. Wenn die Nato der Ukraine eine konkrete Beitrittsperspektive eröffnet, könnte Putin das als ein Versagen seines Machtanspruchs verstehen.
Sie sprechen von den sogenannten "roten Linien".
Richtig. Nur wir wissen nicht, wo die liegen und wie groß diese Gefahr wirklich ist. Als kürzlich Prigoschin meuterte und Putin kurzzeitig unter Druck geriet, hat er nicht eskaliert, sondern verhandelt. Inwieweit die russische Armee noch eskalieren kann, ist auch fraglich. Denken Sie nur daran, wie lange die Einnahme von Bachmut gedauert hat.
Könnte denn die Nato die Ukraine überhaupt verteidigen?
Das ist in der Tat ein zentraler Punkt, nämlich die Risiken für die Handlungsfähigkeit der Nato: Sie sollte die Ukraine nur aufnehmen, wenn alle Alliierten dies politisch unterstützen, sich also darüber nicht zerstreiten. Und wenn das Bündnis die Ukraine militärisch verteidigen kann. Ein Beitrittsverfahren, das am Widerstand einzelner Alliierter scheitert oder ein russischer Angriff nach einem Beitritt, auf den die Nato zerstritten reagiert, wäre eine Bankrotterklärung für die Nato und ein Risiko für die Ukraine.
Auf was muss die Nato noch achten?
Auch der Zeitpunkt des Beitritts ist wichtig. Jens Stoltenberg, aber auch Joe Biden und Olaf Scholz betonen immer wieder: Es geht um eine Mitgliedschaft nach Ende des Krieges. Das ist verständlich, weil die Nato nicht in den Krieg hineingezogen werden will. Trotzdem halte ich die Betonung dieses Zeitrahmens für unglücklich.
Für Russland heißt das aber auch: Solange der Krieg weitergeht, bleibt eine Nato-Mitgliedschaft unmöglich.
Man könnte auch sagen: Russland hat dadurch ein Veto und einen Anreiz, den Krieg nicht zu beenden. Vielleicht kann man über kreative Ansätze nachdenken, um die Dilemmata mit Blick auf Zeitpunkt und der territorialen Anwendbarkeit, also für welches Gebiet der Ukraine der Nato-Schutz gilt, zu bearbeiten. Denken Sie zum Beispiel an den Nato-Beitritt Westdeutschlands 1955.
Das war aber doch eine völlig andere Zeit, oder?
Ja, natürlich. Geopolitisch ist die Situation heute eine völlig andere, aber die Mechanismen sind interessant. Die BRD konnte trotz der Teilung durch eine Reihe von Abkommen Nato-Mitglied werden. Man sicherte etwa zu, dass die Bundesrepublik auf unilaterale Militäreinsätze verzichten würde. Wäre es doch dazu gekommen, hätte die Beistandsklausel der Nato nicht gegolten. Ähnliche Ansätze wären auch für die Ukraine denkbar.
Würde solch ein Teilbeitritt nicht dazu führen, dass Russland erst recht seine besetzten Gebiete nicht mehr abgeben wird?
Natürlich darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass ein Teil der Ukraine aufgegeben wird. Die russisch besetzen Gebiete bleiben ukrainisch. Das Fernziel sollte weiter die Befreiung des gesamten Landes sein.
Der Weg bis dahin ist weit. Bundeskanzler Olaf Scholz und auch Joe Biden sind aber für Sicherheitsgarantien offen, sobald der Krieg endet. Biden brachte Zusagen ins Spiel, die denen der USA für Israel gleichen. Aber lässt sich das so leicht auch auf die Ukraine übertragen? Anders als die Ukraine besitzt Israel auch Atomwaffen.
Das Israel-Modell basiert auf drei Pfeilern: starke Streitkräfte, bilaterale Abkommen und Atomwaffen. Bedeutet der Vorschlag von Biden also, dass die Ukraine sich wieder nuklear bewaffnen soll? Das halte ich für den falschen Weg. Und wir dürfen auch nicht vergessen: Das Israel-Modell hat keine Kriege mit den Nachbarländern verhindert. Und die Rahmenbedingungen sind natürlich ganz andere.
Die Ukraine gab Mitte der Neunziger ihre Nuklearwaffen gegen Sicherheitsgarantien ab, unter anderem auch von Russland. Durch die Annexion der Krim 2014 hat Putin die Abmachungen gebrochen. Wäre es da aus ukrainischer Sicht nicht verständlich, wieder selbst in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen?
Aus Sicht der Ukraine ist das nachvollziehbar, klar. Das Land hat gelernt: Jeder Waffenstillstand ist nur eine Atempause, solange Russland an seiner neoimperialen Weltsicht festhält, die territoriale Integrität, staatliche Souveränität und nationale Identität der Ukraine infrage stellt und Kriegführen als legitimes und effizientes Mittel ansieht, um seine Interessen durchzusetzen. Maximale Sicherheit gibt es für die Ukraine also auf drei Wegen.
Die wären?
Durch eigene Atomwaffen, durch ein Russland, das nicht mehr in der Lage ist, einen Angriffskrieg zu führen, oder durch ein oder mehrere Sicherheitsabkommen. Da kaum ein Staat Interesse an bilateralen Abkommen hat, wäre die stabilste Option ein Bündnis wie die Nato. Schweden, Finnland und auch die Ukraine haben in den letzten Monaten gelernt: Partner werden nur unterstützt. Alliierte werden verteidigt. Sie wollen daher lieber Alliierte als Partner sein.
Das heißt, am Ende wäre der Nato-Beitritt also immer noch der einfachste Weg?
Einfach sicherlich nicht, aber wahrscheinlich der verlässlichste und kosteneffizienteste. Wir tun immer so, als würde die Nato der Ukraine damit einen großen Gefallen tun. Tatsächlich ist ihr Beitritt auch im Interesse der Alliierten: Das wäre die stabilste, sicherste und auch kostengünstigste Lösung für die Sicherheit in Europa, die Absicherung des Wiederaufbaus der Ukraine, den EU-Beitrittsprozess, die Einbindung der Ukraine in westliche Strukturen. Ansonsten muss der Westen in Zukunft noch viel mehr Geld aufwenden, um die dortigen Streitkräfte hochzurüsten. Gleichzeitig wäre der Einfluss auf die Ukraine geringer. Die Sicherheitslage wäre wahrscheinlich volatiler. Kurz gesagt: Die westlichen Staaten müssten vermutlich mehr zahlen und hätten weniger Gestaltungsmöglichkeiten und vermutlich weniger Stabilität und Sicherheit.
Das alles betrifft die Zukunft. Gegenwärtig jedoch stockt die Offensive, auch weil es offenbar an Munition fehlt. Erwarten Sie dort Fortschritte?
Sämtliche Waffenlieferungen haben bisher außerhalb der Nato stattgefunden. Auch dadurch wird verhindert, dass sie in den Krieg hineingezogen wird. Ich erwarte, dass es weitere Zusagen von einigen Staaten geben wird.
Welche könnten das sein?
Die USA haben ja bereits ein Paket angekündigt, unter anderem mit Munition für Patriot-Flugabwehrsysteme, für Himars und die umstrittene Lieferung von Streumunition. Die Türkei plant künftig die Produktion ihrer Bayraktar-Drohnen in der Ukraine. Was das Land aktuell an Waffen benötigt, ist bekannt: Minenräumung, präzise Waffen mit größerer Reichweite, mehr Luftverteidigungssysteme und Kampfflugzeuge. Die ukrainischen Soldaten müssen im Moment weitestgehend ohne Luftunterstützung auskommen. So würden Nato-Truppen nicht kämpfen. Wir müssen auch die Kapazitäten zur Produktion von Munition und Ersatzteilen unbedingt erhöhen. Hätten die westlichen Staaten früher die Produktion bei Artilleriemunition hochgefahren, wäre uns die Lieferung von Streumunition möglicherweise erspart geblieben.
Frau Major, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Interview mit Claudia Major