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Der "deutsche Dr. House" erzählt von seinen spannendsten Fällen


Unentdeckte Krankheiten
Der "deutsche Dr. House" erzählt von seinen spannendsten Fällen

Ann-Kathrin Landzettel

16.04.2014Lesedauer: 6 Min.
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Der Marburger Professor Jürgen Schäfer widmet sich der Erforschung bislang unbekannter Krankheiten. (Quelle: Pressestelle der Philipps-Universität Marburg/H.Grassmann/dpa)

Eine Anlaufstelle für die, die keine Hilfe finden: Vergangenes Jahr im Dezember hat das Zentrum für unerkannte Krankheiten im Marburger Universitätsklinikum eröffnet. Seitdem wird es täglich von verzweifelten Patienten überrannt. Mit diesem Andrang hatte weder Professor Jürgen Schäfer, der Leiter des Zentrums, noch die Geschäftsführung des Marburger Klinikums gerechnet. Wir haben mit ihm gesprochen und gefragt, warum so viele Erkrankungen einfach nicht erkannt werden und was die interessantesten Fälle in seiner bisherigen Laufbahn waren.

Der "deutsche Dr. House" von Marburg hat seinen Namen zu Recht – auch wenn er sich mit dieser "Auszeichnung" selbst etwas schwer tut. Er gibt vielen Krankheitssymptomen, bei denen Ärzte vor ihm nicht mehr weiter wussten, einen Namen. Als Wunderheiler will er sich aber nicht verstanden wissen. Auch er habe seine Grenzen, sagt er. Auf die Frage, wie er zu seinem Namen gekommen ist, erklärt Schäfer: "Seit sechs Jahren gebe ich das ‚Dr. House-Seminar‘ und bespreche darin mit Studenten Fälle, in denen sich eine Diagnose schwierig gestaltet." Schäfer hat sich mit seinem neuen Beinamen mittlerweile arrangiert – zumindest was das intensive Querdenken betrifft. Von dem mürrischen Charakter des TV-Doktors distanziert er sich allerdings.

Die Patienten kommen von überall

Die Idee der Zentrumsgründung sei durch die Menge der Patientenanfragen entstanden, erklärt Schäfer. "Waren es zu Beginn, als ich mit meiner Dr. House-Vorlesung begonnen hatte, noch drei bis vier Anschreiben in der Woche, waren es nach meiner Ernennung zum besten Medizinprofessor Deutschlands plötzlich zwei bis drei am Tag. Nach meiner Wahl zum besten Arzt des Jahres 2013 kamen dann wesentlich mehr hinzu und seitdem sich das Zentrum herumgesprochen hat, haben wir bis zu 20 Anfragen täglich." Die Patienten kämen von überall her, sogar aus Australien und den USA. Den Leiter erschreckt der massive Andrang: "Der Ansturm auf unser Zentrum ehrt uns, ist aber auch ein erschreckendes Warnzeichen. Er zeigt, dass viele Patienten bei ihren Ärzten keine Hilfe erfahren und sich über einen langen Zeitraum mit ihren Symptomen herumquälen und ratlos sind."

Versorgungslücke für Patienten mit unklaren Erkrankungen

In Deutschland gebe es eine Versorgungslücke für Patienten mit unklaren Krankheitsbildern, kritisiert Schäfer. "Es darf nicht sein, dass die Betroffenen keine geeigneten heimatnahen Anlaufstellen haben." Da müsse die Gesundheitspolitik reagieren, einzelne Kliniken seien damit überlastet, fordert er. Den Patienten mit unerkannten Krankheiten gehöre sehr viel mehr Aufmerksamkeit. "Einem Großteil der Patienten kann man sehr gut helfen, wenn man einfach mal zuhört und gezielt nachfragt: Wann treten die Beschwerden auf? Wie haben die Symptome angefangen?" Wichtig sei das intensive Gespräch mit den Betroffenen und das brauche nun mal Zeit. In fünf bis zehn Minuten komme man nicht weit. Doch das sei leider die Standardzeit pro Patient in Deutschen Praxen. "Es gibt überhaupt erst so viele Irrwege, weil die Beschwerden nicht ausreichend präzise thematisiert werden."

Qualvolle Rückenschmerzen ohne Befund

Als Arzt müsse man sich Zeit nehmen. Oft sei die Diagnose einfacher, als man auf den ersten Blick vermutet. Unerkannt müsse nicht zwangsläufig auch kompliziert oder selten bedeuten, betont Schäfer. Als Beispiel nennt er einen Patienten, der über eineinhalb Jahre unter starken Rückenschmerzen litt. Kein Arzt konnte ihm helfen. Der Hausarzt schickte ihn zum Orthopäden, dieser verordnete eine Magnetresonanztomografie (MRT) der Wirbelsäule. Von dort kam er zum Neurochirurgen, der ihm glücklicherweise von einer Operation abriet und ihm Krankengymnastik empfahl. Aber auch die half nicht wirklich, sodass er nach langen Irrwegen in das Zentrum von Schäfer kam.

Schäfer und sein Team brauchten zehn Minuten für die Diagnose: "Im Gespräch fragten wir, wann die Schmerzen besonders stark sind und der Patient sagte, dass er immer nur nachts, meist so um drei Uhr, besonders stark leidet. Eine kaputte Bandscheibe schied aus, da diese auch tagsüber Probleme bereitet. Also haben wir die simple Frage nach seiner Matratze gestellt. Es kam heraus, dass der Patient bereits seit etwa acht Jahren dieselbe Matratze, die seinerzeit recht teuer war, benutzte. Wir rieten ihm, eine neue zu kaufen. Nach einer Woche war er beschwerdefrei." Wie sich herausstellte, hatte die Matratze nicht mehr die nötige Liegestabilität, da sie durchgelegen war.

Unerklärliche Schmerzen auf der Haut

Bei einem anderen Fall litt der Patient unter starken Schmerzen auf der Haut und in den Gelenken. Zu sehen war aber nichts. Der Hausarzt vermutete einen beginnenden Herpes Zoster, umgangssprachlich Gürtelrose genannt, und schickte den Patienten zum Hautarzt. Bei dieser Viruserkrankung tritt ein schmerzhafter Hautausschlag an einer Körperseite auf. Der Hautarzt fand nichts, woraufhin der Patient zum Neurologen geschickt wurde. Aber auch dieser war ratlos. Der Patient wurde dann zu Schäfer und seinem Team geschickt, die genauer nachfragten: "Es stellte sich heraus, dass der Patient regelmäßig Laufsport betreibt und dabei oftmals querfeldein durch Wald und Wiesen rannte. Er berichtete sogar selbst von zahlreichen Zeckenbissen. Wir haben dann nur eins und eins zusammengezählt und ihn auf Borreliose getestet – die Ursache war gefunden. Der typische Hautausschlag, Erythema migrans genannt, nach dem die Kollegen offenbar suchten, war bei ihm nicht aufgetreten – aber das ist immerhin bei der Hälfte aller Borreliose-Erkrankten der Fall."

"Skorbut gibt es in Deutschland eigentlich nicht mehr"

Ein weiterer Fall, der sehr lange ungelöst blieb, war der eines Patienten, der unter anderem unter Knochenschmerzen, Erschöpfung, Müdigkeit und Durchfall litt. Auch er wurde von Arzt zu Arzt weitergereicht. Die Lösung fanden Schäfer und sein Team nach einigem Suchen bald: "Der Betroffene litt unter Skorbut, also unter einem Vitamin-C-Mangel. Das gibt es in Deutschland heute eigentlich nicht mehr und deshalb dachten auch seine Ärzte, ebenso wenig wie anfänglich wir, nicht daran. Wir haben erst in einem ausführlichem Gespräch erfahren, dass der Patient eine spezielle säurefreie Diät machte und auf Säuren jeglicher Art verzichtete – so leider auch auf Ascorbinsäure, also Vitamin C."

Das Tragischste, dass Schäfer bislang in seinem Zentrum erlebt hat, waren schwere Kobaltvergiftungen durch Defekte an metallischen Hüftkopfprothesen: "Da werden Menschen künstliche Metall-Prothesen wie Hüftgelenke eingesetzt und dann werden sie wenige Monate später blind, taub, herzschwach oder sterben sogar. Diese Fälle gehen besonders unter die Haut, weil das Leiden medizinisch mit verursacht wird und eigentlich recht einfach zu verhindern wäre. Wir bräuchten hier nur ein besseres Registriersystem für Medizinprodukte, ähnlich dem, wie wir es für Motorroller bereits haben."

Dem Patienten zuhören

Für den Erfolg seines Zentrums hat Schäfer eine einfache Erklärung: "Wir hören den Patienten zu, fragen nach, tragen scheinbar belanglose Befunde zusammen und diskutieren mit einem zehnköpfigen Expertenteam über die Symptome eines jeden Patienten. Da sitzen unter anderem Gastroenterologen, Neurologen, Radiologen, Pulmologen, Psychosomatiker, Nephrologen, Endokrinologen, Kardiologen und Allgemeinmediziner an einem Tisch." Es sei der interdisziplinäre Austausch und die lebendige Diskussion untereinander, die dieses Verfahren so effektiv machen.

Was Patienten tun können

Und auch der Patient kann eine Menge zu einer raschen Diagnose beitragen. Schäfer empfiehlt, sich auf den Arzttermin gut vorzubereiten und sich davor schon zu fragen: Wann treten die Symptome auf? Seit wann habe ich sie? Welche Medikamente nehme ich, welche Befunde oder Laborwerte gibt es bereits von anderen Ärzten? Je mehr der Arzt weiß und vorgelegt bekommt, desto besser ist es.

Deutschland muss umdenken

"In Deutschland muss auch das Finanzierungssystem angepasst werden, um Fehldiagnosen zu umgehen und um Ärzte zu motivieren, ein Augenmerk auf seltene Erkrankungen zu haben", fordert Schäfer. Es sei kritisch, wenn man eine sinnlose Bandscheiben-MRT so viel besser abrechnen kann als den hilfreichen Tipp, eine neue Matratze zu kaufen. "Die Ärzte stehen in der Routineversorgung unter einem enormen Zeit- und Kostendruck. Bei den vergleichsweise wenigen Patienten mit sehr komplexen Krankheitsbildern brauchen wir jedoch spezielle Anlaufstellen, die den Luxus ‚Zeit‘ aber auch eine weitreichende technisch, apparative Diagnostik gleichermaßen mit einbringen können. Eigentlich das, was jede gut funktionierende, allgemeininternistische Hochschulambulanz leisten sollte. Da aber weder Zeit noch Nachdenken im derzeitigen Vergütungssystem für ärztliche Leistungen vorgesehen sind, muss sich hier noch einiges tun", meint Schäfer. Erfreulich findet der Experte, dass eben nicht nur in Marburg, sondern in ganz Deutschland, sich immer mehr Zentren um die Belange von Patienten mit seltenen und unerkannten Krankheiten kümmern und als Anlaufstelle zur Verfügung stehen. "Die Adressen dieser Zentren erfährt man unter Orpha.net"

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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