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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Nach und nach geht ihnen das Kriegsmaterial aus"
2024 war ein entbehrungsreiches Jahr für die Ukraine. Russland machte Geländegewinne im Donbass, Kiews Truppen stießen nach Kursk vor. Militäranalyst Anders Puck Nielsen erklärt, warum sich das Blatt in diesem Jahr wenden könnte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt derzeit alles auf eine Karte: Sein US-Amtskollege Donald Trump soll ihm helfen, den von Russland begonnenen Krieg so bald wie möglich zu beenden. Noch aber steht Kremlchef Wladimir Putin im Weg, der derzeit keinen Grund für Verhandlungen über ein Kriegsende sieht. Im Gegenteil: Angesichts von Gebietsgewinnen in der Ostukraine wähnt Putin sich auf der Siegerstraße.
Der dänische Militäranalyst Anders Puck Nielsen glaubt, dass Trumps Druck auf Putin wirken könnte. Dazu müssten allerdings diverse Bedingungen auf dem Schlachtfeld erfüllt werden. "Das einzige Mittel ist militärischer Zwang", sagt Nielsen im Interview mit Blick auf ein mögliches Einlenken von Putin. Der Experte wagt eine Prognose: "Russland wird in diesem Jahr die Konsequenzen des Krieges spüren."
t-online: Herr Nielsen, US-Präsident Donald Trump wirbelt aktuell die Weltpolitik durcheinander. Schon vor seiner Amtseinführung löste er etwa mit seinem Wunsch Aufregung aus, Grönland zu einem Teil der USA zu machen. Was denken Sie als Däne darüber?
Anders Puck Nielsen: Für die dänische Politik ist das eine sehr stressige Zeit. Immerhin kommen diese Aussagen vom wichtigsten Partner und Garant der Sicherheit Dänemarks. Das allein ist schon beunruhigend genug. Trump schadet damit auch der Abschreckung: Wie sicher können wir noch sein, dass die USA uns zur Seite stehen, sollte Putin angreifen? Es wird interessant zu sehen, was noch daraus folgt. Ich denke, dass er in Bezug auf Grönland bereits besonnener geworden ist. Letztlich könnte das ein Teil des Handelskriegs sein, den Trump nicht nur mit Dänemark, sondern der ganzen Europäischen Union führen könnte.
Zur Person
Anders Puck Nielsen (geb. 1979) ist ein dänischer Marineoffizier und Militäranalytiker an der Dänischen Verteidigungsakademie. Er hat sich auf Russland, die Ukraine und maritime Operationen spezialisiert. Zuvor diente er als Kommandant verschiedener Schiffe der dänischen Marine. Nielsen betreibt zudem einen erfolgreichen YouTube-Kanal, auf dem er sicherheitspolitische Analysen teilt.
Schon während seiner letzten Präsidentschaft drohte Trump mit dem Nato-Austritt der USA. Jetzt fordert er massive Militärausgaben von fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) der Partner. Könnte er vor diesem Hintergrund seine früheren Drohungen wahr machen?
Das ist eine ernsthafte Bedrohung. Die USA müssten nicht einmal die Nato verlassen. Schon ein Statement von Trump würde reichen, dass er sich nicht mehr an den Artikel fünf des Nato-Vertrags gebunden fühlt. Das wäre dramatisch.
Würde Trump eine Anhebung der Militärbudgets nach seiner Vorstellung besänftigen?
Nicht einmal die USA selbst geben derzeit fünf Prozent ihres BIP für Verteidigung aus. Es wäre also auch für sie ein massiver Anstieg. Letztlich werden sich die Nato-Partner wohl auf eine Zahl zwischen drei und vier Prozent einigen. Doch Trump könnte auch auf anderem Wege einen signifikanten Anstieg der Militärausgaben in Europa bewirken.
Wie genau?
Er könnte das US-Militär aus Europa abziehen. Dann wären die Europäer dazu gezwungen, womöglich mehr als fünf Prozent für ihr Militär auszugeben, nur um die dann fehlenden militärischen Fähigkeiten auszugleichen. Das wäre sehr teuer für uns. Europa muss diese Drohung ernst nehmen und für sich selbst einstehen.
Hat Europa denn gar keinen Hebel, um Trump den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Der derzeitige Deal zwischen den USA und Europa ist folgender: Washington garantiert für die Sicherheit des Kontinents und bekommt dafür loyale Partner. Das zahlt sich für die USA etwa beim Handel aus, aber auch bei der internationalen Unterstützung und der sogenannten Soft Power, also der Machtausübung ohne direkten wirtschaftlichen oder militärischen Anreiz. Donald Trump scheint das aktuell nicht zu sehen. Die Europäer müssen ihn daran erinnern und gleichzeitig ein starkes Signal setzen.
Wie könnte das aussehen?
Einerseits muss Europa die Militärausgaben deutlich anheben. Andererseits könnten wir jetzt Trumps neuesten Drohungen gegen Russland direkt Rückendeckung geben. Davon würde Europa profitieren und Trump gleichzeitig zeigen, dass der Kontinent nützlich ist. Der US-Präsident muss sehen, dass er von den Beziehungen etwas hat. Dann könnte er Europa weniger unter Druck setzen.
Trump drohte Wladimir Putin am Mittwoch mit neuen Sanktionen, sollte der Kremlchef weiter Verhandlungen zum Ukraine-Krieg ablehnen. Wird das funktionieren?
Nein, Putin wird Trumps Deal nicht annehmen. Der US-Präsident zeigt damit auch, dass er den Krieg und Russlands Motivation dazu nur oberflächlich versteht. Putin ist bereit, seine Wirtschaft für den Krieg an die Wand zu fahren. Die Androhung weiterer Sanktionen wird ihn nicht von diesem Weg abbringen. Auch Trumps Hinweis auf die vielen Todesopfer interessiert Putin einfach nicht. Aber Trump hat offenbar verstanden, dass nicht der ukrainische Präsident Selenskyj das Hindernis für Verhandlungen ist, sondern Putin.
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Was könnte Trump denn tun, um Putin so sehr zu schaden, dass er sich doch an den Verhandlungstisch setzt?
Das einzige Mittel ist militärischer Zwang. Putin muss fühlen, dass er in der Ukraine kurz vor einer Niederlage steht. Alles andere wird nicht funktionieren. Bisher sieht Putin zwar, dass der Krieg lang andauert, aber Russland noch immer die Oberhand hat. Das Blatt muss sich wenden. Russland muss auf dem Schlachtfeld den Rückwärtsgang einlegen. Erst dann kann es zu Verhandlungen kommen.
Bislang sieht es danach aber nicht aus. Russland rückt vor allem im Donbass stetig vor, Pokrowsk im Gebiet Donezk könnte in den kommenden Wochen fallen. Kann Russland die strategisch wichtige Stadt einnehmen?
Ja, Russland kann das tun, aber es wird viel Zeit und Kraft kosten. Die Ukrainer versuchen derzeit, die Russen in die Stadt und damit in den Häuserkampf zu locken. Die Kremltruppen aber wollen das vermeiden. Sie wollen die Stadt eher umzingeln und so die Ukraine zum Abzug zwingen. Diese Taktik funktioniert bisher andernorts. Aber die Kriegsführung der Russen ist nicht nachhaltig, da sie viele Menschenleben kostet. Davon abgesehen, ist Pokrowsk strategisch auch nicht mehr so wichtig.
Warum? Immerhin gilt die Stadt als wichtiger Knotenpunkt der ukrainischen Kriegslogistik.
Das stimmte für lange Zeit. Aber seit die Russen immer näher an Pokrowsk heranrücken, hat die Stadt diese Bedeutung verloren. Die Ukrainer sind längst auf andere Wege ausgewichen. Mittlerweile ist Pokrowsk nur eine weitere größere Stadt in Donezk. Ihr Verlust würde auch nicht zu einem Domino-Effekt oder Zusammenbruch der gesamten Front führen. Die Ukrainer können den Russen dort allerdings noch großen Schaden zufügen.
Auf welchem Frontabschnitt liegt dann derzeit ihr Fokus?
Pokrowsk ist ein Sektor, allerdings gestaltet sich das Bild dort und im Rest des Donbass seit Monaten gleich: Russland rückt in sehr kleinen Schritten vor. Daneben schaue ich selbstverständlich auf Kursk in Russland. Die Ukrainer haben dort sowohl militärisch als auch politisch einen Schwerpunkt gelegt: Sie nehmen Verluste im Donbass in Kauf, um Territorium in Kursk halten zu können. Das ist für die Ukraine ein kalkuliertes Risiko. Ich achte daneben jedoch vor allem auf entscheidende Veränderungen an der Front.
Bitte erläutern Sie das.
Es geht den Ukrainern darum, das Blatt zu wenden. Russland kann seine Kriegsführung im südlichen Donezk vielleicht fortsetzen wie bisher. Aber was passiert, wenn die Ukrainer plötzlich etwa im Norden von Luhansk vorstoßen? Das wäre ein Hinweis darauf, dass sich der Wind dreht. Und das könnte in diesem Jahr durchaus eine Entwicklung sein, die eintritt. Die Ukraine steht unter dem Zwang, etwas zu wagen. Sonst kann es keine Verhandlungen geben.
Glauben Sie, dass die Ukraine noch einmal dazu in der Lage ist, Russland wie im vergangenen August mit der Kursk-Offensive zu überraschen?
Das ist absolut möglich – wenn die Ukraine mit den nötigen Waffen und Ausrüstung ausgestattet wird. Außerdem muss sie ihr Personalproblem lindern. Bei diesen Punkten kommt allerdings wieder Trump ins Spiel.
Was hat er damit zu tun?
In den vergangenen sechs Monaten haben die Ukrainer vor allem versucht, mit möglichst wenigen Ressourcen die Front zu halten. Sollte Trump nun entscheiden, Kiew deutlich mehr zu liefern, könnte sich das ändern. Die Ukrainer könnten Waffen aus dem Arsenal holen, die sie noch aufgespart haben.
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Noch ist nicht absehbar, dass Trump wirklich weitere Waffen schickt. Aber welche könnte er denn noch abgeben?
Die mit hoher Reichweite, insbesondere mehr der ballistischen ATACMS-Kurzstreckenraketen. Biden war noch gehemmt, den Ukrainern diese taktischen Waffen in größeren Mengen zu liefern. Wenn Trump das tut, kann das einen Unterschied machen. Und vielleicht liefert Deutschland dann ja auch Taurus-Marschflugkörper.
Olaf Scholz hat das mehrfach abgelehnt. Und selbst der mögliche nächste Kanzler Friedrich Merz war zuletzt vorsichtiger, was solche Forderungen anbelangt. Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich gegen Taurus-Lieferungen aus.
Wir werden sehen. Bisher gingen Washington und Berlin bei den weitreichenden Waffen im Gleichschritt. Vielleicht ändert sich wegen Trump auch die Haltung in Deutschland.
Bisher haben Sie fehlende Waffen und Probleme beim Personal sowie Trump als Unsicherheitsfaktor auf der ukrainischen Seite genannt. Welche Herausforderungen erwarten Russland in diesem Jahr?
Russland wird in diesem Jahr die Konsequenzen des Krieges spüren. Die Ukrainer haben lange darauf hingearbeitet. 2025 könnte das Jahr sein, in dem die russische Kriegswirtschaft auf ernsthafte Engpässe stößt. Und am Ende dieses Jahres könnten die Ukrainer mehr Territorium erobert haben, als sie verlieren.
Wie soll das funktionieren?
Die Ukraine hat Russlands Armee und Kriegswirtschaft zuletzt systematisch abgenutzt. Putin kommt mittlerweile weder mit den Rekrutierungen noch mit der Produktion neuer Waffen hinterher. Eine neue Mobilmachung in Russland gilt als unpopulär. Und wenn Putin weiter hohe Prämien für die Rekrutierungen zahlt, setzt das der russischen Wirtschaft zu. Dazu hat die Ukraine ihre Angriffe auf das russische Hinterland zuletzt massiv verstärkt. Wenn das weitergeht, wird Russland an der Front irgendwann das Momentum verlieren.
Steht Russland vor dem Kollaps?
Nein, es ist eher ein gradueller Prozess. Nach und nach geht ihnen das Kriegsmaterial aus und die Wirtschaft ist ebenfalls im Niedergang – aber eben nicht vor dem Zusammenbruch. Der Westen muss nun alle Hintertüren der Sanktionen schließen. Wenn alle diese Faktoren zusammenspielen, dann können die Ukrainer an der Front vorrücken, statt sich weiter rückwärts zu bewegen. Das ist die Voraussetzung für echte Verhandlungen.
Herr Nielsen, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Anders Puck Nielsen