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Debakel für Russland im Ukraine-Krieg: "Putin erzählt Blödsinn"


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Debakel für Russland im Ukraine-Krieg
"Da erzählt Putin Blödsinn"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 14.09.2022Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin: Der russische Präsident hat im Urkaine-Krieg die Initiative verloren.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident hat im Ukraine-Krieg die Initiative verloren. (Quelle: SPUTNIK/reuters)

Die Lage für Putin im Ukraine-Krieg ist katastrophal, auch die Sanktionen zeigen Wirkung: Russland-Expertin Sarah Pagung erklärt, wie dramatisch die Lage für den Kreml wirklich ist.

t-online: Frau Pagung, Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Dienstag nach eigenen Angaben 90 Minuten mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass sich der Kreml einer diplomatischen Lösung öffnen könnte?

Sarah Pagung: Es gibt vorsichtige Äußerungen aus dem Kreml, dass sie langfristig eine Verhandlungslösung in Betracht ziehen. Das könnte man als erste Anzeichen deuten, aber ich wäre da ganz vorsichtig. Die russische Führung knüpft daran noch immer sehr viele Bedingungen.

Dabei ist die militärische Lage für die russische Armee in der Ukraine alles andere als gut.

Das ist richtig. Die militärische Lage ist für Russland katastrophal und die Andeutung einer Verhandlungslösung kann auch damit zusammenhängen, dass Putin in der Ostukraine immer weniger Optionen hat.

Sarah Pagung ist seit Februar 2019 Associate Fellow bei der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Inhaltlich arbeitet sie vor allem zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu Informationspolitik.

Das Momentum in diesem Krieg ist auf der Seite der Ukraine. Würde die ukrainische Führung trotzdem aktuell einer Waffenruhe zustimmen?

Die Ukrainer würden sicherlich aktuell keine Vorbedingungen akzeptieren. So forderte Russland zum Beispiel bislang die vollständige Kapitulation als Grundlage für Verhandlungen, aber das ist für die ukrainische Seite natürlich nicht hinnehmbar, weil sie militärisch ganz klar die Oberhand hat. Für die Ukraine geht es nun darum, die russische Armee so weit zurückzudrängen, dass Putin Verhandlungen zustimmt – und ohne oder mit wenig Vorbedingungen.

Die dramatische Kriegslage für Russland zeigt, dass Putin nun schnell reagieren muss. Hat er nur die Wahl zwischen weiterer Eskalation und Verhandlungen?

Ich würde nicht ausschließen, dass Putin die aktuelle Situation noch eine Zeit lang aussitzen möchte – in der Hoffnung, dass sich die Verteidigungslinien im Osten der Ukraine stabilisieren. Wenn auch nun die russischen Linien nach dem Rückzug erneut zusammenbrechen würden, da könnte der Kreml offener für Verhandlungen werden. Aber in der Tat: Putin hat nur schlechte Optionen momentan.

Was wäre das Risiko einer Teilmobilmachung in Russland für den Kreml?

Putin könnte den Krieg nicht mehr leugnen, und das Narrativ der "militärischen Spezialoperation" wäre gescheitert. Natürlich würde es Widerstand aus der russischen Bevölkerung geben, die ihre Kinder natürlich ungern in einen Krieg schicken würde. Anderseits wären aber auch Verhandlungen ein Problem für den Kreml, weil dadurch kurz- bis mittelfristig das von Putin gesetzte Kriegsziel nicht realisiert werden kann – die Zerstörung der Ukraine.

Wie sehr steht Putin innenpolitisch unter Druck?

Er ist massiv unter Druck. Putin hat seiner Bevölkerung großen imperialen Ruhm versprochen und sie dafür auf wirtschaftliche Einbußen vorbereitet. Nun kann er nicht liefern. Deshalb bringt ihn das in eine so angespannte Situation, in der er in der Zeit seiner 20-jährigen Machtausübung noch nicht war.

Zeigen sich denn schon Risse in seinem Machtapparat?

Nein. Bisher gab es nur vereinzelt Kritik am Präsidenten von Randfiguren in der Politik oder in den Medien. Das sind noch keine wirklichen Risse im System, auch weil das ganze informelle Regierungssystem sehr auf Putin ausgerichtet ist. Grundsätzlich war Loyalität der zentrale Indikator, um Karriere zu machen, nicht so sehr Kompetenz. Deswegen stecken die Menschen ungern ihren Kopf aus dem Fenster mit Kritik an Putin.

Wo sehen Sie denn momentan die größere Gefahr für Putin: von liberalen Bewegungen oder von radikalen Nationalisten?

Die liberale Blase ist derzeit kein großer Machtfaktor in Russland. Es ist eher das nationalistische Lager, das Druck aufbauen und die Politik mit Forderungen vor sich hertreiben kann. Aber auch die nationalistische Rechte gehört nicht zum Kern des Systems und den Machteliten. Und an eben diesem Kern hängt die Stabilität des Systems.

Natürlich muss auch weiterhin die russische Bevölkerung mitspielen.

Es gibt wenig belastbare Zahlen, aber ich denke, dass nach wie vor nur eine Minderheit in Russland den Krieg ablehnt. Die russische Regierung verfügt über einen großen Propaganda-Apparat, mit dem sie den Menschen die Sichtweise des Kremls in den Kopf pflanzen kann. Aber viele Russinnen und Russen sind auch der Meinung, dass ihr Land dazu berechtigt ist, im post-sowjetischen Raum eine Vormachtstellung zu haben. Das ist tief in der Bevölkerung verankert.

Die vergangenen sechs Monate sprach das Staatsfernsehen von einer "militärischen Spezialoperation", nicht von einem Krieg. Verschiebt sich dieses Narrativ momentan?

Sie müssen es jetzt Krieg nennen, weil alles andere immer unglaubwürdiger wird. Natürlich haben Russinnen und Russen auch ein Gefühl dafür, dass das in der Ukraine nicht einfach eine kleine Operation ist.

Deshalb wiederholt die russische Propaganda auch fast mantraartig, dass sich das Land im Krieg mit dem Westen und der Nato befindet.

Genau, aber das ist nicht neu. Die Erzählung, dass sich Russland in einem Konflikt mit dem Westen befindet, wurde vom russischen Regime in den vergangenen zehn Jahren systematisch auf- und ausgebaut. Die Sanktionen gegen Russland werden als Teil eines Krieges betrachtet und aus russischer Sicht ist Deutschland schon Kriegspartei. Wenn wir nun darüber diskutieren, ob Deutschland Kriegspartei werden würde, wenn es Panzer liefert, ist das absurd. Das macht eigentlich keinen Unterschied.

In Deutschland geistert momentan auch die These herum, dass die westlichen Sanktionen keine Wirkung auf Russland hätten. Ist dem so?

Nein, natürlich nicht. Wir werden in Russland ein Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts von sechs bis acht Prozent beobachten können. Größere Industriezweige sind nicht mehr in der Lage zu produzieren – zum Beispiel stehen in der Autoindustrie die Werke still. Außerdem gibt es Prognosen für einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit und allgemein hat die Industrieproduktion Probleme, weil sie auf Produkte aus dem Westen angewiesen ist. Russland steckt also in einer Wirtschaftskrise, und zwar in einer nachhaltigen Krise. Bedeutet: Die Wirtschaft wird sich wahrscheinlich nicht erholen, sondern sich auf einem niedrigen Niveau stabilisieren. Diese Aussicht ist für Russland katastrophal.

Was ist mit den Einnahmen aus Gas- und Ölexporten?

Bisher war Russland in der Lage, die Ausfälle der Lieferungen nach Europa durch hohe Preise zu kompensieren. Aber das funktioniert nicht mehr. Aktuell zeichnet sich ab, dass auch diese Einnahmequellen einbrechen werden.

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Kommt diese wirtschaftlich dramatische Lage bei der Mehrheit der russischen Bevölkerung an?

Es wird verzögert bei der Bevölkerung ankommen. Die Inflation liegt in Russland bei circa 15 Prozent und das ist noch einmal deutlich höher als das, was wir hier in Deutschland haben. Die Preissteigerungen bekommt ein Großteil der russischen Bevölkerung zu spüren. Momentan versucht die russische Führung noch in einigen Industriezweigen, die Menschen mit unbezahltem Urlaub in Beschäftigung zu halten, aber das ist nur eine Lösung auf Zeit. Somit werden viele Menschen auch durch Arbeitslosigkeit betroffen sein. Aber die urbane Mittelschicht in Russland ist natürlich mehr betroffen, weil diese schon einen gewissen Wohlstand erreicht und sich an westliche Produkte im Alltag gewöhnt hat. Sie haben deutlich mehr zu verlieren als die Landbevölkerung.

Trotzdem scheint Putin sehr bestrebt zu sein, eine Normalität vorzuspielen. In Moskau hat er am vergangenen Wochenende zum Beispiel ein Riesenrad eröffnet. Was steckt hinter dieser Strategie?

Putin möchte die Bevölkerung ruhig halten, indem er suggeriert, dass die Lage in der Ukraine keine großen Auswirkungen für Russland hat. Er meinte zuletzt auf einem Wirtschaftsforum in Wladiwostok, dass dieser Konflikt Russland stärker mache, nicht schwächer. Da erzählt Putin aber Blödsinn. Aber das muss er seiner Bevölkerung verkaufen, um nicht unbeliebter zu werden.

Zumindest glauben viele Menschen in Russland scheinbar nicht mehr, dass die sogenannte "Spezialoperation" nach Plan läuft. Ist die öffentliche Kritik an der russischen Kriegsführung im Staatsfernsehen oder von Kriegsberichterstattern ein Zeichen der Schwäche von Putin?

Kritiker der russischen Kriegstaktik versuchen eher, Putin herauszuhalten. Im Staatsfernsehen haben wir in den vergangenen Tagen eine sehr interessante Situation beobachten können, in der sich in einer hohen Geschwindigkeit die Realitäten im Ukraine-Krieg verändert haben. Der Kriegsverlauf war so eindeutig zum Nachteil Russlands, dass es nicht mehr möglich war, es zu leugnen. In dieser kurzen Zeit hat ein grundlegendes Propagandanarrativ gefehlt und die Menschen konnten öffentlich überraschend frei sprechen. Die Frage ist nun, ob sich diese Art des öffentlichen Diskurses halten kann. In jedem Fall haben die meisten Menschen aber immer noch Angst, Putin zu kritisieren.

Demnach steht Putin unter Druck und hat im Prinzip keine guten Optionen. Wie geht es nun weiter?

Es ist schwer, Prognosen in diesem Konflikt zu machen. Ein realistisches Szenario wäre, dass die Ukraine weitere militärische Fortschritte in der Ostukraine und in der Region Cherson macht. Für Putin könnte es dann so weit kommen, dass er verhandeln muss. Wir dürfen uns dabei aber keine Illusionen machen: Ein Waffenstillstand wäre vorerst wahrscheinlich nur eine sehr brüchige Pause dieses Konfliktes. Aber für viele Ukrainerinnen und Ukrainer wäre eine Atempause mit weniger Kampfintensität wichtig.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Pagung.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Sarah Pagung
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