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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch In Frankreich bahnt sich Böses an
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Ereignislosigkeit ist nicht das Problem, das uns Redakteure beim Schreiben des Tagesanbruchs schlaflose Nächte bescheren würde. Das gefürchtete Sommerloch, in dem man händeringend nach Themen sucht, weil Politik und Gesellschaft lieber am Strand brutzeln, ist noch nicht einmal am Horizont zu erkennen. Überall passiert etwas. Die Ampel balgt sich in Berlin, in Washington kommt der Wahlkampf auf Touren, die Briten gehen in zwei Wochen an die Urne und schmeißen vermutlich ihre bisherige Regierung raus. Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, Krieg im Sudan, Kriegsgefahr zwischen Israel und dem Libanon. Man könnte mit der Auflistung noch lange weitermachen, aber eines ist jetzt schon klar: Für einen zweiten Aufguss eines gerade abgehandelten Themas haben wir im Tagesanbruch keine Zeit. Da muss schon etwas Neues her.
Über die anstehende Parlamentswahl in Frankreich zum Beispiel habe ich vor einer Woche geschrieben, genauer: vor acht Tagen. Klare Sache also: Das Thema steht dringend wieder an. Acht ganze Tage! Eine Ewigkeit. Nach so einer ausgedehnten Pause muss man die Dinge erst mal sortieren.
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Lassen Sie uns kurz zurückschauen, damit wir nicht den Überblick verlieren. Das Wahlbündnis von Präsident Emmanuel Macron hat bei der Europawahl eine heftige Klatsche bekommen. Die Rechtsaußen-Partei von Marine Le Pen hingegen hat mit großem Vorsprung gewonnen. Der geschwächte Monsieur le Président wünschte daraufhin Klarheit zu schaffen, löste noch am Wahlabend das Parlament auf und setzte Neuwahlen an, deren erste Runde schon am übernächsten Sonntag stattfinden wird. Zu sagen, dass seitdem bei unseren Nachbarn der Teufel los ist, wäre eine freundliche Untertreibung.
Den Mitgliedern von Macrons eigener Partei steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Im Alleingang hatte der Präsident seine Entscheidung gefällt und nur wenige Vertraute konsultiert – selbst Premierminister Gabriel Attal, der junge Hoffnungsträger aus Macrons Lager, erfuhr erst kurz vor der Bekanntgabe von den Plänen seines Chefs. Neuwahlen direkt nach einer katastrophalen Niederlage, was für ein Entschluss! Macron wollte den Befreiungsschlag. Einen Schlag wird es nun tatsächlich geben, soviel ist schon sicher. Aber wohl eher ins Kontor.
Der angeschlagene Präsident ist entschlossen, dem Niedergang seiner Partei und seiner Popularität nicht tatenlos zuzusehen. Er will die Dinge in Bewegung bringen. Das ist ihm gelungen. Sein Schritt hat so drastische Veränderungen in der Parteienlandschaft ausgelöst, als sei der Landschaftsgärtner von der Rosenschere auf den Mähdrescher umgestiegen. Der Zwang zu Zweckbündnissen, die heftig umstritten sind, sorgt für Chaos allerorten. Der Vorsitzende einer Traditionspartei verrammelte die Parteizentrale und schloss sich in seinem Büro ein, um seine Absetzung zu verhindern. Jetzt zofft er sich mit den übrigen Funktionären vor Gericht. Ein anderer Parteivorsitzender warf nach einem Showdown seine prominente Stellvertreterin raus. Ein dritter Parteivorsitzender servierte auf einen Schlag mehrere Rivalen ab und setzte stattdessen auf einen Gefolgsmann, der auf Bewährung auf freiem Fuß ist, nachdem er seine Frau geschlagen hat. Mittlerweile hat auch der Schlägertyp hingeschmissen.
Die politischen Folgen des Aufruhrs sind gravierend. Am rechten Ende des Spektrums gibt es nur noch eine Partei, die den Namen verdient: nämlich die von Le Pen. Sowohl ihre noch rechtsradikalere Konkurrenz als auch eine bürgerlich-konservative Alternative haben sich mittlerweile selbst zerlegt. Besagte Konservative sind nun in zwei Lager gespalten: Die einen halten das Tabu aufrecht, mit Le Pen zu kooperieren. Die anderen brechen es.
Am linken Rand wiederum haben Parteien, die sich früher spinnefeind waren, überraschend schnell zu einem Bündnis zusammengefunden, um den Durchmarsch der Rechten zu stoppen. Niemand weiß, wie lang diese wackelige Allianz hält. Sie umfasst die linksextremen Populisten, in deren Reihen der Schlägertyp für Aufruhr sorgte, des Weiteren die Kommunisten und ein Potpourri von Fundi-Grünen bis Sozialisten. Soweit die Ränder rechts und links.
Auch der politischen Mitte möchte ich einen Absatz widmen – und zwar in der Ausführlichkeit, der ihren Wahlchancen entspricht: fertig!
Ja, so ist die Lage in unserem großen Nachbarland. Macron wollte Klarheit, und es sieht so aus, als ob er sie bekommt. In den Prognosen liegen die rechts- und linksaußen positionierten Lager deutlich vor seinem eigenen. Nach dem ersten Wahlgang wird sich das Feld lichten. Einer Prognose zufolge könnten Macrons Kandidaten in 41 Wahlkreisen zur zweiten Runde antreten. In den übrigen 536 Bezirken machen Rechte und Linke die Sache dann unter sich aus.
Bei den Parlamentswahlen ist also alles drin: eine vernichtende Niederlage Macrons, die ihn zur Zusammenarbeit mit einem rechtsradikalen Premierminister zwingt. Oder eine vernichtende Niederlage Macrons, die ihn zur Zusammenarbeit mit einem radikalen Linksbündnis zwingt. Oder eine nicht ganz so vernichtende Niederlage Macrons, die ihn zur "Zusammenarbeit" mit einem handlungsunfähigen Parlament in einer Pattsituation zwingt. Den Champagner darf der Präsident also schon mal kaltlegen, sogar richtig viel. Er wird ihn brauchen, um sich die bittere Realität schönzutrinken.
Schwummrig kann es einem aber auch dann werden, wenn man stocknüchtern bleibt. Diese Woche erst hat Frankreich für seine überbordende Staatsverschuldung von der EU-Kommission die gelbe Karte kassiert. Umso schwerer wiegt, was die rechten und linken Bauernfänger dem geneigten Wahlvolk versprechen: eine Senkung des Renteneintrittsalters, subventioniertes Benzin, üppigen Mindestlohn. Schwammige Formulierungen erschweren das exakte Rechnen, doch die Kosten für all diese Präsente bewegen sich, gemessen an einer deutschen Skala, bei "einer Zeitenwende" oder mehr. Die Linke möchte ihre Wundertüte mit Optimismus und heftigen Steuererhöhungen finanzieren, den Rechten genügt der Optimismus. Wird aus den Träumen Realität, dürften entweder Investoren vor der linken Regierung und deren Steuerschock in Scharen aus Frankreich fliehen oder eine rechte Regierung den Staat in eine brutale Schuldenkrise stürzen. Leider bliebe so eine Krise nicht zuhause in Frankreich. Auch in der EU und im Euro-Raum braucht man dann Champagner für alle. Ganz, ganz viel.
In Frankreich sind die Extremisten salonfähig und für Wähler quer durch die Gesellschaft akzeptabel geworden. Nur noch eine Minderheit stuft Le Pens Rechtsausleger als Gefahr für die Demokratie ein. Gut eine Woche vor dem ersten Wahlgang gibt es keine Anzeichen, dass eine breite Mehrheit gegen rechts die moderaten Kräfte zum Sieg tragen würde. Stattdessen wird die Mitte aufgerieben. Die Mehrheit der Franzosen scheint die Nase einfach voll zu haben – so sehr, dass ihnen alles andere egal ist.
Was bedeutet das für uns auf dieser Seite des Rheins? In Berlin täten die Ampelparteien sowie CDU und CSU gut daran, die Stimmung in Frankreich und deren Folgen zur Kenntnis zu nehmen, damit es ihnen nicht irgendwann ergeht wie Präsident Macron. Für den gibt es jetzt nur noch einen einzigen Lichtblick: Der Urnengang steht erst in neun Tagen an. In Frankreich ist das eine lange, wilde Zeit.
Die Nase der Nation
Apropos Frankreich: Die Fußballfans in unserem Nachbarland bangen heute um die verletzte Nase ihres Superstars Kylian Mbappé. Die hatte im letzten Spiel schmerzhafte Bekanntschaft mit der Schulter eines Gegenspielers gemacht. Ob der Kapitän der "Bleus" im zweiten Gruppenspiel gegen die Niederlande (21 Uhr in Leipzig/ARD) auflaufen kann, ist noch unklar. Vorher treten die Slowakei und die Ukraine (15 Uhr in Düsseldorf/RTL) sowie Polen und Österreich (18 Uhr in Berlin/ARD) gegeneinander an.
Habeck auf heikler Mission
Der Vizekanzler ist unterwegs in China: Wenige Tage nach der EU-Drohung, auf die chinesische Subventionierung heimischer Elektroautos mit Strafzöllen zu reagieren, will Robert Habeck eine Eskalation zum Handelskrieg verhindern und für Kooperation werben. Zugleich muss er die Menschenrechte, die Taiwan-Frage und Chinas Unterstützung für Kriegstreiber Putin ansprechen. Leicht wird das sicher nicht.
Grafik des Tages
Deutschland trägt die Hauptlast der EU-Asylpolitik. Das kann so nicht bleiben, finden mittlerweile fast alle Spitzenpolitiker. Wie schwer sich die Regierenden in Bund und Ländern trotzdem tun, schildern unsere Reporter Sara Sievert, Annika Leister und Daniel Mützel.
Das historische Bild
Der Sturm auf den Petrograder Winterpalast gehört zu den Legenden der Oktoberrevolution. Tatsächlich war aber alles anders.
Ohrenschmaus
Es gibt sie tatsächlich noch, meine Abizeit-Helden Smashing Pumpkins. Heute Abend rocken sie in Hannover. Wäre gern dabei, um diesen Klassiker zu hören.
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Beim nächsten deutschen EM-Gegner Schweiz kickt ein Spieler, der Nagelsmanns Team ernste Probleme bereiten könnte. Unser Reporter William Laing stellt ihn vor.
Zum Schluss
Der Kanzler hat einen Plan.
Ich wünsche Ihnen einen produktiven Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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