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Russisches "Sapad"-Manöver: Steht Deutschland Krieg bevor?


Tagesanbruch
Steht Deutschland Krieg bevor?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.03.2025Lesedauer: 7 Min.
Putin und sein Propagandist Medwedew verschärfen ihre Drohungen gegen den Westen.Vergrößern des Bildes
Putin und sein Propagandist Medwedew verschärfen ihre Drohungen gegen den Westen. (Quelle: imago images)
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Wo Unsicherheit herrscht, übernimmt das Gefühl. Als sich im Herbst 2021 beunruhigende Nachrichten häuften, in denen von aufmarschierenden Truppen, Drohgebärden und möglichen Kriegsvorbereitungen an der Grenze zur Ukraine die Rede war, Geheimdienste warnten und Politiker ihre Besorgnis bekundeten, dauerte es nicht lang, bis in Talkshows und Kommentarspalten markige Einschätzungen zu vernehmen waren.

Nie und nimmer werde Putin losschlagen, wussten die einen, denn das ergebe für ihn ja gar keinen Sinn: Der wirtschaftliche Schaden sei zu groß, die Interessen seien andere, alles nur ein Bluff, und jetzt alle bitte cool bleiben. Aus der anderen Ecke tönte das Gegenteil: Der Krieg komme, das sei doch ganz klar. Der Aufmarsch, die Vorbereitungen, die Drohkulisse, all das lasse gar keinen anderen Schluss zu.

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Die Moral von der Geschicht: Wir schätzen klare Verhältnisse. Auch dann, wenn wir sie uns nur herbeireden. Für welche Variante wir uns entschieden – Sorge oder Zuversicht – war eine Frage des Gefühls. Tatsächlich konnte bis kurz vor dem Tag der Invasion niemand wissen, welchen Plan Putin wirklich verfolgte: den perfekten Bluff oder die echte Invasion.

Man könnte das für eine Geschichtsstunde halten, aber die Vergangenheit meldet sich in alarmierender Weise zurück. Die Ungewissheit ist wieder da, und die gefühlten Wahrheiten sind es auch. Für den Herbst haben die Russen einen neuen Aufmarsch angekündigt: Dicht an der Grenze zu Polen, nahe am bedrohten Baltikum, werden Panzer, Kampfjets, Hubschrauber und Infanterie zum Einsatz kommen. "Sapad" ("Westen") heißt das Großmanöver, das dieses Jahr wieder stattfinden soll – in Belarus, gefährlich nahe an der Nato-Ostgrenze, nicht weit vom berüchtigten Suwałki-Korridor.

Das weckt Erinnerungen – keine guten. Denn die letzte "Sapad"-Übung im Herbst 2021 war Bestandteil des Programms, das den russischen Überfall auf die Ukraine vorbereitete. Putins Streitkräfte probten das Zusammenspiel der Truppenteile in einem Maßstab, wie es das seit 40 Jahren nicht mehr gegeben hatte. Rückblickend kann man darin eine Trainingseinheit für die Aggression erkennen. Die Ankündigung des Kremls, in Belarus bald wieder solche Kriegsspiele abzuhalten, lässt deshalb mancherorts die Alarmglocken schrillen.

Dass Russland unter dem Deckmantel des Manövers den Schlag gegen Polen oder das Baltikum vorbereiten und damit den Krieg gegen die Nato lostreten könnte, ist unter Fachleuten bereits Thema. "Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben", vermutet der Militärhistoriker Sönke Neitzel, den mein Kollege Simon Cleven interviewt hat. Auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte sah sich vorgestern in Warschau veranlasst, eine scharfe Warnung Richtung Moskau zu schicken: Ein Angreifer werde "die volle Härte dieser entschlossenen Allianz zu spüren bekommen", drohte er und legte noch eine Schippe drauf: "Unsere Reaktion wird verheerend sein."

Steht ein neuer Krieg in Europa also unmittelbar bevor? Kämpfen deutsche Soldaten an der Nato-Ostflanke gegen den nächsten Überfall des Imperialisten im Kreml, noch bevor das Jahr vorbei ist? Mit wie viel Gewissheit lässt sich das vorhersagen? Bevor wir uns an eine Prognose wagen, müssen wir erst einmal die Fakten sortieren.

Russische Großmanöver sind nichts Besonderes, sondern ein jährliches Ereignis, das regional rotiert: Auf "Osten" ("Wostok") folgen "Kaukasus" ("Kawkas") und "Zentrum" ("Tsentr"). Alle vier Jahre ist dann auch "Sapad", also der Westen, dran. Letzteres sorgt mit kalendarischer Regelmäßigkeit für Nervosität bei der Nato. Die hält ihrerseits aber auch solche Manöver ab: Bei "Steadfast Defender" kamen im vergangenen Jahr von Norwegen bis Rumänien mehr als 90.000 Soldaten zum Einsatz. Es war die größte Übung der Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges.

Vergleichbar sind die Übungen in einem entscheidenden Punkt jedoch nicht: Anders als die Nato, die lediglich ein Signal der Abschreckung senden will, hat Russland in der Vergangenheit seine Manöver genutzt, um anschließend tatsächlich loszuschlagen. Beim Angriffskrieg gegen Georgien 2008 war das so, auch die Attacke auf die Krim 2014 wurde mit einem Manöver verschleiert. Ausgerechnet der große "Sapad"-Aufmarsch vor dem Kriegsbeginn gegen die Ukraine 2022 musste allerdings nicht als Deckmantel für die Verlegung von Panzern und Gerät herhalten, denn die waren schon vorher herangekarrt worden – nicht nur im Manövergebiet, sondern rund um die Ukraine – und sorgte auch ganz ohne die Großübung für Alarm.

Es ist also nicht das Manöver selbst, sondern es sind die genaueren Umstände, die eine Gefahr signalisieren. Noch ist nicht bekannt, in welcher Größenordnung sich die Neuauflage von "Sapad" abspielen wird – ob in unbedenklicher Truppenstärke oder bedrohlich massiert. Sehr wohl bekannt ist allerdings, dass sich die russische Armee nicht im besten Zustand befindet. Sie ist gegen die ausgelaugten Verteidiger in der Ukraine zwar auf dem Vormarsch, aber nicht auf dem Durchmarsch. Die Verluste sind immens. Die russische Rüstungsmaschinerie läuft auf Hochtouren, doch ihr Output landet nicht auf der Halde der Hochrüstung, sondern im Inferno an der ukrainischen Front. Sobald dort schließlich die Waffen schweigen, wächst der Waffenberg und damit auch die Bedrohung an der Nato-Ostflanke – aber nicht über Nacht.

Zur Beurteilung des Kräfteverhältnisses gehören allerdings zwei Seiten. Dass es um die Bundeswehr nicht besser steht als zu Beginn des Krieges, weil das Aufpäppeln nur schleppend verläuft und zugleich weiterhin Material in die Ukraine fließt, hat anlässlich des tristen Wehrberichts einige Wellen geschlagen. Dennoch stellt der europäische Teil der Nato, selbst wenn die USA ihrer Bündnisverpflichtung nicht nachkommen sollten, für Putin kein leichtes Opfer dar. Allein in Polen stehen jetzt, also in Friedenszeiten, fast 220.000 Soldaten bereit, ohne dass ein einziger Reservist reaktiviert oder ein Verbündeter sich auf den Weg machen würde. Auch beim Ausbildungsstand und der Bewaffnung spielt die Nato in einer anderen Liga als die Ukraine, die im ersten Jahr des Krieges einen Großteil ihrer erfahrenen Kampfsoldaten und Offiziere verloren hat und bis heute nur mit einer rudimentären Luftwaffe auskommen muss.

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Anders gesagt: Mit einem Angriff auf Polen oder das Baltikum ginge Putin ein unüberschaubares Risiko ein – zumindest jetzt noch.

Zugleich müssen wir uns aber mit einer Reihe unbequemer Wahrheiten anfreunden. Putins Rüstungsmaschinerie läuft wie geschmiert, in der europäischen Allianz hingegen läuft sie erst an. Seine Generäle und Soldaten haben Kampferfahrung gesammelt und ihre Taktik einem Schlachtfeld voller Drohnen angepasst. Die Europäer hingegen müssen sich nicht nur erst noch auf die Gefahr der ferngesteuerten Mini-Bomben einstellen, sondern auch auf ein Bündnis, in dem der bisher wichtigste Partner vielleicht zu Hause bleibt und eine riesige Lücke hinterlässt. Zu guter Letzt hat Putin sich nicht als brillanter Stratege mit realistischem Blick auf die Lage erwiesen, sondern den Überfall auf die Ukraine im falschen Glauben an einen leichten, schnellen Sieg befohlen. Seinen Mangel an Urteilsvermögen gleicht der Kremldiktator durch Risikobereitschaft aus.

Krieg aus Kalkül mag angesichts der Kräfteverhältnisse nicht zu erwarten sein, Krieg aus Verblendung hingegen kann man leider nicht ausschließen. Deshalb muss der Westen und muss auch Deutschland alles dafür tun, Putin zum Grübeln zu bringen. Das geht nur dadurch, dass er beim Blick auf die geschwächte, europäische Rumpf-Nato noch immer keine Lust hat, sich mit ihr anzulegen. Für die Koalitionäre von CDU, CSU und SPD bedeutet das: Das Geld für die Verteidigung haben sie zwar lockergemacht – aber Geld kann nicht kämpfen. Allein die Umsetzung entscheidet, und dabei tickt die Uhr.

Denn die erste Etappe des Wettrennens ist gefährlich kurz: Bis zum "Sapad"-Manöver im Herbst müssen wir Putin mit unserem Tempo beeindrucken – damit er sich nicht schon wieder verheerend verkalkuliert.


Ohrenschmaus

Russland hat so viele großartige, friedliebende Künstler hervorgebracht. Ich wünschte, es gäbe heute mehr Menschen wie Bulat Okudschawa.


Jetzt feilschen die Chefs

Hierzulande geht die Regierungsbildung in die entscheidende Phase: Nachdem 16 Arbeitsgruppen mit mehr als 250 Beteiligten nach Kompromissen gesucht haben, finden die schwarz-roten Koalitionsverhandlungen ab heute wieder auf Führungsebene statt. Zunächst im Willy-Brandt-Haus, dann im Konrad-Adenauer-Haus und in der bayerischen Landesvertretung wollen 19 Chefunterhändler von Union und SPD versuchen, die verbliebenen Streitpunkte auszuräumen. Weiterhin unklar ist, wie in der Migrationspolitik die Frage von Zurückweisungen an den Grenzen gelöst werden soll: Während die SPD die vage Sondierungsformulierung "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" so versteht, dass diese zustimmen müssen, halten CDU und CSU es für ausreichend, das jeweils betroffene Land nur zu informieren, also vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Dissens herrscht auch über die Zukunft des Entwicklungsministeriums: Die Union würde es gern ins Auswärtige Amt integrieren, die SPD hält dagegen. Weitere Baustellen sind die Rückkehr der Wehrpflicht (Union: pro, SPD: kontra), die Haltung zur Atomkraft (Union: pro, SPD: kontra) und der Umgang mit dem Heizungsgesetz: abschaffen (Union) oder nur überarbeiten (SPD). Kein Wunder, dass Friedrich Merz von seinem ursprünglich ausgegebenen Ziel einer Regierungsbildung bis Ostern schon abgerückt ist.


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Donald Trumps Zollankündigung stürzt die Weltwirtschaft in Turbulenzen. Mein Kollege Julian Seiferth erklärt Ihnen die Folgen.


Zum Schluss

Die Deutsche Bahn hat ihre Jahresbilanz vorgelegt.

Ich wünsche Ihnen einen geschmeidigen Wochenausklang.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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