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Deutsche Bürokratie: Willkommen in Absurdistan!


Tagesanbruch
Willkommen in Absurdistan!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.03.2025Lesedauer: 4 Min.
Friedrich Merz, Markus Söder, Lars Klingbeil: Klappt es mit der Deutschlandreform?Vergrößern des Bildes
Friedrich Merz, Markus Söder, Lars Klingbeil: Klappt es mit der Deutschlandreform? (Quelle: Odd Andersen/REUTERS)
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Gestern habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und etwas Unerhörtes gewagt: Ich rief bei einer deutschen Behörde an. Mir schwante schon vorher, dass das übel enden würde, doch was dann geschah, übertraf meine Erwartungen. Aber es musste sein, ich brauchte von dem Amt in einer rheinländischen Stadt dringend eine Information. Die Durchwahl der Sachbearbeiterin hatte ich vor drei Wochen nach längerem Hin und Her von der Zentrale genannt bekommen. Meine 12 bis 14 Anrufversuche seither waren allesamt gescheitert: Niemand nahm ab.

Also gestern wieder Anruf in der Zentrale. Nachdem ich knapp und präzise mein Anliegen geschildert hatte, entspann sich zwischen der Dame von der Zentrale und mir folgender Dialog:

Ich: "So, und deshalb wüsste ich gern einfach, ob der Brief, den ich Ihnen im Januar geschickt habe, angekommen ist."

Sie: "Und wieso rufen Sie dann hier an?"

Ich: "Na ja, weil ich bei der Durchwahl, die mir Ihre Kollegin vor drei Wochen gegeben hat, niemanden erreiche."

Sie: "Welche Durchwahl?"

Ich sagte es ihr.

Sie: "Die ist falsch!"

Ich: "Aber die hat mir Ihre Kollegin …"

Sie: "Kann nicht sein! Die ist falsch!"

Ich: "Aber Ihre Kollegin hat …"

Sie: "Nein, das kann nicht sein! Wir geben keine Durchwahlen raus!"

Ich: "Ich hab sie aber bekommen, nur geht niemand ran!"

Sie "Welche Kollegin soll das denn gewesen sein?"

Ich sagte es ihr.

Sie: "Die arbeitet nicht mehr als Sachbearbeiterin, die ist in Elternzeit!"

Ich: "Aber gibt es denn keine Vertretung?"

Sie: "Doch, aber die Nummer darf ich Ihnen nicht geben!"

Ich: "Wieso denn nicht?"

Sie: "Datenschutz!"

Ich, zunehmend angefressen: "Wen soll ich dann fragen, ob mein Brief angekommen ist?"

Sie: "Rufen Sie nächste Woche wieder an!"

Ich: "Aber es geht ja niemand ran!"

Sie: "Ja."

Ich: "Gibt es eine Mailadresse, die Sie mir geben können?"

Sie: "E-Mail machen wir nicht!"

Ich: "Keine E-Mails?"

Sie: "Nicht für den Publikumsverkehr! Wir machen nur Telefon. Oder Sie kommen her."

Ich: "Das sind 400 Kilometer! Ich will doch nur wissen, ob mein Brief angekommen ist!"

Sie: "Versuchen Sie's später wieder."

Ich: "Aber die Einspruchsfrist läuft ab! Wenn irgendwas nicht korrekt geklappt haben sollte und ich es nicht rechtzeitig korrigieren kann, bin ich der Gelackmeierte!"

Sie: "Ja."

Ich: "Und jetzt?"

Sie: "Rufen Sie nächste Woche wieder an! Wiedersehen."

Soweit mein Erlebnis mit einer deutschen Behörde. Es fühlte sich an wie in Absurdistan. Ich ahne: Unter Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gibt es womöglich den einen oder die andere, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Nun wenden Sie vielleicht ein: Bürokratie ist halt Bürokratie, das ist in vielen Ländern so. Aber da möchte ich widersprechen. Mit unserem Hang zur Perfektion und Überkorrektheit haben wir Deutschen einen Behördenapparat geschaffen, der zur Weltspitze zählt. So viele Gesetze, Verordnungen und Unterverordnungen reglementieren das öffentliche Leben, dass selbst Bürokraten nicht mehr durchblicken. Kein Wunder, dass sich überforderte Sachbearbeiterinnen wochenlang tot stellen oder verzweifelte Bürger abwimmeln.

Das Problem ist urdeutsch und überdauert alle Zeitläufe. "In der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen. Wer nämlich seine kleine Arbeit macht, der mag klug sein – schlau ist er nicht. Denn wäre er's, er würde sich darum drücken", schrieb Kurt Tucholsky vor 100 Jahren in seiner ebenso bösen wie wahren Persiflage auf die deutsche Verwaltungshuberei. Der Text hat kein bisschen von seiner Aktualität eingebüßt.

Der deutsche Bürokratie-Dschungel nervt nicht nur Privatleute, er knebelt auch die Wirtschaft: Im globalen Wettbewerb ist er zu einem erheblichen Standortnachteil geworden. Friedrich Merz und die CDU haben das erkannt und im Wahlkampf versprochen, mit der politischen Machete Schneisen ins Vorschriftengestrüpp zu schlagen. "Die Menschen sind es leid, nur noch mit Verboten, Regulierungen, unkalkulierbaren Kosten und bürokratischen Auflagen konfrontiert zu werden", wetterte Merz noch vor wenigen Wochen und versprach, dass alles anders werde, wenn er erst im Kanzleramt sitze.

Was man aus den Koalitionsverhandlungen hört, lässt ahnen: Daraus wird nicht viel. Die auf 16 Prozent geschrumpften, aber regierungserfahrenen und im Öffentlichen Dienst sozialisierten SPD-Profis kochen Merz, Linnemann und die anderen Unionsleute, die sich noch nie in einem Regierungsamt bewähren mussten, ungerührt ab. Merz will Kanzler werden, aber das Programm der nächsten Bundesregierung dürfte in zentralen Politikfeldern ein sozialdemokratisches sein. Die Verwaltungsreform, die Deutschland auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene dringend bräuchte, wird deshalb voraussichtlich zu einem Reförmchen verstümmelt.

Soweit die Einschätzung von Florian Harms, der zwar ein langjähriger Journalist, aber nur eine Stimme unter vielen ist. Naturgemäß ganz anders schaut Ralf Stegner auf die Lage. Mit dem SPD-Urgestein aus Schleswig-Holstein haben sich meine Kollegen Daniel Mützel und Lisa Raphael unterhalten – und was Stegner aus den Koalitionsverhandlungen berichtet, ist bemerkenswert. Deshalb empfehle ich Ihnen unseren heutigen Podcast:

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Anschließend wünsche ich Ihnen ein sonniges Wochenende. In der Nacht auf Sonntag wird die Uhr umgestellt, am Montag kommt der Tagesanbruch von unserem Nachrichtenchef Mauritius Kloft, und am Dienstag lesen Sie wieder von mir.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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