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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Europawahl 2024: Grüne verlieren Vorherrschaft


Europawahl als Zäsur
Die Ära der Grünen ist vorbei

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

20.06.2024Lesedauer: 4 Min.
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Sorgenvoller Blick in die Zukunft: Annalena Baerbock und Robert Habeck vor Beginn einer Parteiveranstaltung in Potsdam. (Quelle: IMAGO/Chris Emil Janssen/imago)

Die Grünen haben die deutsche Politik in den vergangenen 30 bis 40 Jahren über ihre Parteigrenzen hinweg bestimmt. Mit der Europawahl endet das. Warum?

Es gibt Begebenheiten, deren ganze Dimension sich erst allmählich erschließt. Als Johann Wolfgang von Goethe am 20. September 1792 eine Schlacht zwischen der französischen Revolutionsarmee und den Koalitionstruppen hautnah miterlebte, schrieb er später in seinem Erlebnisbericht aus der Champagne, dem Ort des Geschehens: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Dieser Satz über die "Kanonade von Valmy" hat Flügel bekommen, die ihn bis ins Heute tragen, weil der Dichterfürst damit die Vorherrschaft, die Hegemonie des späteren Kaisers über beinahe ganz Europa voraussah. Oder diese Weitsicht jedenfalls für sich in Anspruch nahm.

Der Ausgang der Europawahl vor zwei Wochen ist möglicherweise auch solch eine politische Schlacht, deren Ausgang mehr definiert als nur die jeweiligen Sitzanteile der angetretenen Parteien. Was da am 9. Juni 2024 stattgefunden hat, könnte eine regelrechte Zäsur sein, eine politische Zeitenwende, wie der deutsche Bundeskanzler sagen würde.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online schreibt er jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".

Denn bei dieser Wahl hat Bündnis90/Die Grünen nicht einfach nur ein desaströses Wahlergebnis eingefahren. Bei dieser Wahl ist die grüne Hegemonie, das thematische Taktgeben dieser Partei und ihrer Überzeugungen beendet worden. Die Ära, in der die Grünen die politische Agenda bestimmt haben bis weit hinein in den Kern anderer Parteien, ist an ihr Ende gekommen. Nicht in erster Linie, weil das Thema abhandengekommen wäre, mit dem sie ihren Siegeszug bestritten haben. Sondern wegen der überschießenden Energie und des Hochmuts (Goethe hätte noch das schöne, fast ausgestorbene Wort "Hoffart" dafür gewählt), mit dem sie in Regierungsverantwortung ihre in der Sache wichtige und existenzielle Mission betrieben haben.

Alles begann Anfang der Siebzigerjahre in dem kleinen südbadischen Ort Wyhl, an dem sich ein neues und erst mal skurriles Bündnis aus Ökologen und Bauern gegen den geplanten Bau eines Kernkraftwerks zusammengetan hatte. Dort, im Kaiserstuhl an der Grenze zu Frankreich, in einer Gegend, die spätestens seit dem Vormärz für ihren Trotz und ihre Widerstandskraft berühmt-berüchtigt war, genau dort steht die Wiege der Grünen.

Aus einer Bewegung wurde eine Partei, und 15 Jahre später stand Joschka Fischer in Turnschuhen neben dem hessischen SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner und führte mit ihm eine Regierung auf Landesebene. Weitere 13 Jahre später nippte er im feinen Zwirn Sekt aus einer Schale zusammen mit dem SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Mastermind Oskar Lafontaine und stieß auf Rot-Grün im Bund an. Er im Zentrum dieses ikonografischen Fotos.

Seither durchdrang die Mission der Grünen fast alle Parteien, immer mehr. Die CDU-Kanzlerin Angela Merkel war weit grüner als ihr Vorgänger Schröder, auch wenn sie nie mit den Grünen regierte. Wer junge Menschen fragte, was sie denn zu wählen gedächten, bekam eine klare Antwort. Die Kinder derer, die selbst als Kinder auf den Schultern ihrer Eltern in Wyhl saßen, trugen die Fackel weiter, emissionsfrei versteht sich.

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Aber jetzt, und das markiert die Abrisskante, haben die jungen Menschen in Deutschland zwischen 16 und 24 Jahren, die zur Wahl gegangen sind, zu 17 Prozent Union und zu 16 Prozent AfD gewählt. Nicht, weil sie die Dringlichkeit des Themas Klima und Erderhalt nicht mehr sähen. Sondern weil andere Themen konkurrieren und ihnen aus ihrer Sicht nicht zu Unrecht das Leben schwer machen: Migration und gleichzeitige Massenverrentung der Boomergeneration auf ihre Kosten.

Da stutzt man für einen Moment und denkt: Halt mal, war nicht eben noch "Fridays for Future" und Schulstreik fürs Klima? Meine Kollegin Sara Schurmann hat vergangene Woche in ihrer klugen Kolumne dargetan, dass man bei diesem Phänomen schon einer Schimäre, einer Luftspiegelung, erlegen war. Die Gegenbewegung hatte jenseits von Greta Thunberg und Luisa Neubauer längst eingesetzt.

Die Grünen haben die Jugend verloren

Die deutschen Grünen haben nicht das Thema an sich verloren. In ihrem Umgang damit haben sie die Jugend verloren. Denn die bedingungslose und in weiten Teilen anarchische Migration, die sie seit 2015 gesehen haben, die hatte bis vor Kurzem die größten Befürworter in den Reihen der Grünen.

Damit zurück zum aktuellen politischen Geschehen und den personellen Konsequenzen aus der Europawahl, dieser Wasserscheide nach mindestens 30 Jahren politischen Taktgebens der Grünen. Die EVP, der Zusammenschluss der europäischen bürgerlich-konservativen Parteien, reklamiert den Wahlsieg zu Recht für sich und damit auch das Anrecht, in Ursula von der Leyen weiterhin eine aus ihren Reihen als Kommissionspräsidentin zu stellen. Dafür sucht sie im Gegendeal mit weiteren Posten eine Lösung mit Sozialdemokraten und Liberalen im EU-Parlament. Wenn das nicht reicht bei den Mehrheiten, dann blickt sie eher auf die rechte Seite als zu den Grünen. Das hat am Dienstag EVP-Chef Manfred Weber von der CSU noch einmal sehr klar formuliert.

Die neue Zeit

Das politische Pendel schwingt also erkennbar von den Grünen weg in die andere Richtung. Der Passus im deutschen Koalitionsvertrag, wonach bei einer Nichtwahl von der Leyens die Grünen ein Anrecht auf den Posten haben, liest sich wie Realsatire, wie ein Echo aus vergangener Zeit. Zu dieser neuen Zeit passt Österreich, wo sich Schwarz-Grün gerade zerlegt und mit Hängen und Würgen zur regulären Wahl am 29. September hangelt. Die Debatte über eine mögliche Kanzlerkandidatur von Robert Habeck versus Annalena Baerbock mutet auch etwas seltsam an angesichts der Lage, in der sich die Grünen befinden.

Die Grünen und die Rechtspopulisten, also in Deutschland die AfD, haben in den vergangenen Jahren die beiden politischen Pole besetzt und von dort aus die Politik bestimmt. Wenn das Pendel jetzt, nach dem überschießenden Elan der Grünen (das Heizungsgesetz als pars pro toto), in die andere Richtung schlägt, dann ist das nicht ungefährlich angesichts der Stärke der AfD in Deutschland und der Rechtspopulisten in ganz Europa. Die Hoffnung ist aber berechtigt, dass es sich schneller wieder im Bereich der gemäßigten Parteien der Mitte einpendelt. Nichts wäre unseliger, als wenn den 30 Jahren grüner Hegemonie ein ähnlich langer Zeitraum des Taktgebens der Rechtspopulisten folgte. Denn deren Ziele sind in großen Teilen bei Weitem nicht so hehr wie jene der Grünen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen
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