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Russlands Krieg und globale Konflikte: "Putin fühlt sich ungeheuer ermutigt"


Militärexperte Reisner über globale Krisen
"Die Lage spitzt sich zu"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 22.06.2024Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Russische Artillerie in der Ukraine: Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht die einzige Bedrohung des Friedens.Vergrößern des Bildes
Russische Artillerie in der Ukraine: Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht die einzige Bedrohung des Friedens. (Quelle: Stanislav Krasilnikov/imago-images-bilder)

Kriege, Krisen, Spannungen: Globale Verwerfungen nehmen zu, die Sicherheitslage wird brisanter. Wie weit könnte die Situation eskalieren? Oberst Markus Reisner analysiert die Situation und spricht eine Warnung aus.

Krieg in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten, dazu zunehmende Spannungen und Aufrüstung rund um den Globus: Die Lage ist ernst, die alte vom Westen getragene Weltordnung wird schwächer. Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer beobachtet und analysiert insbesondere Russlands Krieg gegen die Ukraine seit der Invasion im Februar 2022.

Warum für die westlichen Staaten höchste Vorsicht geboten sei, Wunschdenken in Bezug auf die internationale Politik gefährlich ist und weshalb dringend Lehren aus der Geschichte gezogen werden müssten, erklärt Reisner im Interview.

t-online: Herr Reisner, zahlreiche Kriege und Konflikte erschüttern den Globus, die westlich geprägte Weltordnung erodiert. Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung ein?

Markus Reisner: Man muss immer mit dem Schlimmsten rechnen. Insbesondere als Militär neige ich dazu, das sprichwörtliche Glas halb leer anstelle von halb voll zu sehen. Ein Militär muss immer alle Eventualitäten bedenken, eine zu positiv gefärbte Annahme kann und darf nicht die Grundlage für Entscheidungen und Maßnahmen sein, die im Zweifelsfall Hunderte oder Tausende Menschenleben kosten können.

Wie gefährlich kann Wunschdenken sein? Etwa in Bezug auf ein baldiges Einlenken Russlands?

Es ist extrem gefährlich. Die Geschichte ist offen und nicht vorhersehbar. Wer hätte 1989 gedacht, dass der Eiserne Vorhang fällt? Niemand. Dass die Sowjetunion bereits so erodiert war, dass ihr Zusammenbruch bevorstand, ahnte so gut wie keiner. In unserer Gegenwart können Historiker hingegen exakt analysieren, warum der sowjetische Kollaps damals erfolgt ist. Und auf die gleiche Weise werden Historiker in zwanzig oder dreißig Jahren möglicherweise belegen, dass wir uns gegenwärtig in einer Vorphase einer neuen globalen Auseinandersetzung oder gar eines neuen Weltkriegs befinden.

Wer gegen wen?

Die Ukraine ist nur ein Schlachtfeld von vielen. Wir haben es, wie Papst Franziskus einmal bemerkt hat, eventuell mit einem "Weltkrieg auf Raten" zu tun. Die Lage spitzt sich zu, auch westliche Bodentruppen in der Ukraine sind nicht mehr vollkommen undenkbar. Die eigentliche Auseinandersetzung besteht aber zwischen dem sogenannten Globalen Süden und dem sogenannten Globalen Norden. Der Norden hat über sehr lange Zeit einen sehr prominenten Platz am globalen Gabentisch besetzt, nun wollen die Staaten des Globalen Südens ebenfalls ihren Anteil in Form von Rohstoffen. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hat vor nicht allzu langer Zeit gerade hier bei uns in Österreich zum Ausdruck gebracht, dass die Probleme des Westens nicht die Probleme Indiens sind. Wir sollen uns nicht für so wichtig halten.

Zur Person

Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".

Es gibt zahlreiche globale Kriege und Krisen, zugegeben. Auch der Konflikt zwischen China und den USA könnte eskalieren. Aber es muss doch nicht zwangsläufig in einen Weltkrieg ausarten?

Nein, das muss es nicht. Morgen können Russlands Regime kollabieren, die Soldaten nach Hause gehen. Aber so muss es nicht kommen. Selbst als das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, war den Zeitgenossen nicht klar, dass damit ein jahrelanger Weltkrieg begann. Das konnte ihnen auch nicht bewusst sein. Aber wir sollten die warnenden Ereignisse in unserer Gegenwart ernst nehmen.

Manche Historiker – wie Richard Overy aus Großbritannien – datieren den Beginn des Zweiten Weltkriegs weit früher. Overy sieht seinen Ursprung im Jahr 1931, als das expansionistische Japan in die chinesische Mandschurei einmarschierte.

Das ist ein gutes Beispiel. In den Dreißigerjahren gab es zahlreiche gewalttätige Konflikte, in Europa, aber auch darüber hinaus. In Spanien kam es 1936 zum Bürgerkrieg, Adolf Hitler zwang zwei Jahre später das tschechoslowakische Sudetenland unter Gewaltandrohung ins Deutsche Reich, Japan führte ab 1937 Krieg gegen China. Diese Ereignisse lassen sich aus guten Gründen ebenfalls als Vorphasen des Zweiten Weltkriegs betrachten, als eine Art Dominosteine, die nach und nach fielen.

Der italienische Diktator Benito Mussolini attackierte 1935 zudem in einem brutalen Kolonialkrieg das afrikanische Völkerbundmitglied Abessinien, was das nach dem Ersten Weltkrieg etablierte System kollektiver Sicherheit endgültig demontierte. So wie es Russland spätestens 2022 mit seiner Attacke auf die Ukraine tat.

Damals in den Dreißigerjahren betrachteten die Menschen die Ereignisse mehr oder weniger isoliert, aber in ihrer Summe ergeben sie aus der Retrospektive betrachtet ein Gesamtbild. Wir wissen auch heute nicht, was passieren wird, wir erleben gerade "history in the making". Genaugenommen schreiben wir gerade sogar selbst Geschichte, denn unsere aktuellen Entscheidungen haben Auswirkungen auf die Zukunft. Sei es negativ oder sei es positiv.

Nehmen wir Russlands Krieg als Beispiel: Die westliche Unterstützung der Ukraine ist schwach, Wladimir Putin profitiert davon. Fühlen sich aber andere Staaten von dieser Schwäche der USA und Europas ebenfalls ermutigt, ebenfalls ihre Ziele durchzusetzen?

Putin fühlt sich ungeheuer ermutigt, andere könnten seinem Beispiel folgen. Diese Gefahr ist absolut real. Es gibt keinen gemeinsamen Masterplan dieser Staaten, wie es Anhänger von Verschwörungsmythen vielleicht herbeifantasieren, aber allen erscheint die Gelegenheit günstig. Iran strahlt Gefahr aus, gleiches gilt für die von ihm unterstützten Huthis im Jemen, wir haben auch noch das stetig zündelnde Nordkorea unter dem unberechenbaren Kim Jong Un, Aserbaidschan hat erst kürzlich Krieg gegen Armenien geführt, um ein paar Beispiele zu nennen. Was angesichts der akuten Krisen aber völlig untergeht, ist die Rolle Chinas und Indiens bei der Neuordnung der Welt. Das werden die ganz großen Gewinner sein.


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China ist Russlands eifrigster Unterstützer, die Regierung in Neu-Delhi kauft etwa große Mengen Öl vom Kreml.

Indien ist noch vor China der bevölkerungsreichste Staat der Welt, dazu eine Atommacht, aber es hat keinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Stattdessen sitzt dort Indiens ehemalige Kolonialmacht Großbritannien. Man kann den Indern kaum vorwerfen, dass sie einen anderen Blick auf die Welt haben als wir. Ebenso wie anderen Staaten des Globalen Südens, die einen immer größeren Anteil an Weltbevölkerung und globaler Wirtschaftsleistung aufweisen. Sie fordern nun ihren Platz am globalen Tisch. China erst recht.

Allerdings nutzen nicht nur die großen Akteure wie China und Indien die Gunst der Stunde.

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Richtig. Auch die Staaten der zweiten Liga sind aktiv: Immer mehr Regionalmächte versuchen in ihrem Umfeld, Fakten zu schaffen. Nehmen wir die Türkei, die enorm vom Krieg in der Ukraine profitiert hat, indem sie vielen Herren dient: Mal der Nato, mal Wladimir Putin, aber sie schlägt immer einen Gewinn für sich heraus. Der Iran ist ein anderer Akteur, den wir im Auge behalten müssen und ein gutes Beispiel dafür, wie wenig Sanktionen wirklich bringen. Teheran ist trotzdem zu einer Drohnengroßmacht avanciert, die Israel im April direkt angreifen konnte.

Die USA sind in ihrem Inneren gespalten. Müssten sie aber nicht vehementer auftreten, um die globalen Krisen einzudämmen und Hasardeure wie Wladimir Putin und die iranischen Mullahs in die Schranken zu weisen?

Die USA sind als alleiniger Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen, ihre absolute technologische Überlegenheit gegenüber dem Globalen Süden schwindet mittlerweile. Ebenso funktioniert der Ansatz der Soft Power, den die USA über Jahrzehnte verfolgt haben, nicht mehr so wie früher: Denn die USA leiden zunehmend unter dem Problem, dass sie sich selbst nicht mehr als Leuchtturm der Demokratie projizieren können. Die Erstürmung des Kapitols in Washington, D.C. durch Donald Trumps Anhänger am 6. Januar 2021 ist da nur eine weitere Wegmarke auf diesem Weg nach dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg 2003 und dem Folterskandal von Abu Ghraib 2004. Das hat dem Ansehen der USA massiv geschadet. Außerdem dämmen sie lediglich Brände ein, die aber dringend gelöscht werden müssten.

Wie die Bedrohung der Schifffahrt im Roten Meer durch die Huthis?

Die mit dem Iran verbündeten Huthis im Jemen galten als eine Art Terrormiliz in Badelatschen, dann haben sie plötzlich überaus effektiv eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt gestört. Das kam ziemlich überraschend. Die US Navy schafft es auch nicht, den Seeweg völlig freizukämpfen, man hat gemerkt, dass es mit Luftangriffen so einfach nicht funktioniert. Stattdessen müssten US-Truppen im Jemen landen, um dort physisch zu verhindern, dass die Huthis Schiffe mit Drohnen und anderem attackieren. Auf ein solches Abenteuer lassen sich die USA aber niemals ein. Von den Europäern rede ich gar nicht.

Besonders nicht nach den Erfahrungen im Irak und Afghanistan, wie der Neuausrichtung ihrer Aufmerksamkeit und Ressourcen gen Pazifik?

Genau. Eigentlich wollen sich die USA der Bedrohung durch China entgegenstellen, werden aber durch zahlreiche andere Konflikte auf Trab gehalten. Peking kann das nur recht sein.

Mit der Formel Eindämmen statt Löschen ließe sich auch die amerikanische Strategie in Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine beschreiben. Ist das ein Fehler?

Auf lange Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit. Die USA offenbaren Schwäche in Zeiten, die Konsequenz und Härte erfordern. Putin nutzt das gnadenlos aus, ebenso wie andere Akteure. Die Vereinigten Staaten haben das Potenzial, die Ukraine weit stärker zu unterstützten, sie tun das aber nicht aus Angst vor einem kollabierenden atomar bewaffneten Russland.

Derartige Bedenken kann man US-Präsident Joe Biden nicht vorwerfen.

Das ist richtig, zukünftige Historiker werden beurteilen, als wie sinnvoll sich dieses Zögern langfristig erweisen wird. Derzeit ist Bewegung in Sachen Ukraine-Krieg, die Ukrainer dürfen etwa zumindest teilweise mit westlichen Waffen russisches Territorium angreifen. Riskieren wir damit und weiteren Maßnahmen einen Atomkrieg? Die Möglichkeit besteht. Die Russen könnten aber auch zusammenzucken und kapieren, dass es für sie gefährlich wird. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie folgt bestimmten Mustern: Und diese Muster belegen, dass eine energische und konsequente Haltung mehr Eindruck auf aggressive Mächte hat als defensive Zurückhaltung. Wir müssen doch nur in die jüngere Vergangenheit blicken, um diese These bestätigt zu sehen.

Worauf spielen Sie an?

2020 wurde Qasem Soleimani, ein bedeutender iranischer General und Kommandeur einer Elite-Einheit, durch einen amerikanischen Drohnenangriff getötet. Kurz darauf attackierte der Iran US-Basen im Irak als Vergeltung. Was unternahmen die USA daraufhin? Nichts. Der damalige US-Präsident Donald Trump erwog wohl einen Gegenschlag, dann kam es aber nicht dazu. Das Signal war verheerend, die USA wirkten schwach und angreifbar.

Diesen Eindruck wollte Israel nach der iranischen Attacke im vergangenen April vermeiden und unternahm einen Gegenschlag.

Genau. In dieser Weltregion gilt das Recht des Stärkeren, Schwäche kann sich niemand erlauben.

Dieser Grundsatz gilt mehr und mehr auch für den gesamten Globus.

Leider ist es so. Daher müssen die Staaten des Westens – insbesondere die Europäer – dringend ihre Fähigkeit zur Abschreckung und ihre Resilienz erweitern. Russland hat die Ukraine bereits 2014 und dann noch mal vor mehr als zwei Jahren überfallen, was bedeutet, dass wir seit zehn Jahren die Gefahr ignoriert haben oder noch immer nicht anerkennen wollen. Aber in Anbetracht der Ergebnisse der Europawahl dürfte es kaum ein größeres Umdenken geben. Das ist mir bewusst.

Wie gut sind wir auf einen großen Konflikt vorbereitet?

Wir sind überhaupt nicht vorbereitet. Eigentlich müssten die Politiker vor die Bevölkerung treten und bekennen, dass es sich nicht ausgegangen ist, wie wir in Österreich sagen. Sprich, die bisherige Politik hat gegenüber Russland, China und anderen Staaten nicht die Ergebnisse erbracht, die nötig gewesen sind. Stattdessen ist Europa nunmehr extrem gefährdet. Die Staatshaushalte müssten überprüft und möglicherweise Einsparungen im Sozialen und in den Maßnahmen für den Klimaschutz vorgenommen werden. Das gewonnene Geld ließe sich dann in Großaufträgen an die Rüstungsindustrie investieren, die dann für uns und die Ukraine produziert.

Das wird weder in Politik noch Gesellschaft unbedingt gut ankommen.

Uns bleibt keine andere Wahl. Da braucht es nicht einmal moralische Argumente, sondern es reichen bereits egoistische Motive. Denn wir haben eine Menge zu verlieren, wenn Russland sich die Ukraine einverleibt und weitere Nato-Staaten bedroht. Russland kämpft auch nicht allein, es bekommt Drohnen aus dem Iran, China hilft mit Satellitendaten und ganzen Triebwerken, Nordkorea liefert Millionen Stück an Artilleriemunition. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen, sonst diktieren uns diese Leute die Bedingungen.

Wie auch die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Weltkriegs steigt?

Wir genießen doch den großen Vorteil, aus der Geschichte lernen zu können. Die Zeichen der Zeit erkennen und deuten, das ist wichtig: Über gerade vergangene und aktuelle Konflikte haben wir schon gesprochen, aber auch der Zustand des Balkans wie die zunehmende russische Präsenz in Afrika sollten uns Europäern große Sorgen machen. Von den anstehenden Wahlen in den USA noch ganz zu schweigen. Es ist doch allemal besser, gut vorbereitet in eine Krise zu gehen, als blank.

Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Markus Reisner in Wien
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