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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Finale Patrone" Meuthen-Aussagen haben Folgen für AfD-Prozess
Im März entscheidet das Verwaltungsgericht Köln, ob die gesamte AfD als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft werden darf. Unterlagen, die t-online exklusiv vorliegen, zeigen nun: Der medienwirksame Rücktritt von Jörg Meuthen wird eine Rolle spielen.
Mit einem halben Dutzend Interviews ist Jörg Meuthen Ende Januar als Co-Bundessprecher der AfD zurück- und aus der Partei ausgetreten. Eindringlich warnte der langjährige Chef der Partei vor "ganz klar totalitären Anklängen" und ihrem "immer enthemmteren" Kurs.
Die Aussagen kamen mitten in einer für die AfD kritischen Phase: Anfang März entscheidet das Verwaltungsgericht Köln, ob der Verfassungsschutz die AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall ins Visier nehmen darf. Die mündliche Verhandlung wurde wegen des großen Interesses in die Messe Köln verlegt.
Unterlagen, die t-online exklusiv vorliegen, zeigen nun: Meuthens Medienauftritte werden für die AfD im Mega-Prozess Folgen haben. Datiert ist das entscheidende Dokument auf den 7. Februar, gerichtet ist es an das Verwaltungsgericht Köln. In dem Schreiben listet die Anwaltskanzlei "Redeker, Sellner, Dahs", die den Verfassungsschutz im Prozess im Namen der Bundesrepublik Deutschland vertritt, auf neun Seiten Zitate aus Interviews verschiedener Medien mit Meuthen zu seinem Rücktritt auf. Auf weiteren drei Seiten kommt die Kanzlei unter anderem zu dem Schluss: Meuthens Aussagen aus Sicht eines Insiders bestätigen die Einschätzung des Verfassungsschutzes, die gesamte Partei als rechtsextremistischen Verdachtsfall einzustufen.
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Meuthen als zentraler Zeuge mit Insider-Wissen
Dabei habe Meuthens Beurteilung zur Ausrichtung und Entwicklung der AfD besonderes Gewicht, schreiben die Anwälte, weil er als jahrelanger Co-Bundessprecher "persönliche Kenntnis von allen Vorgängen insbesondere im Bundesvorstand und den Bundesparteitagen hatte", über "interne Kenntnisse von Vorgängen der Landesverbände verfügt haben dürfte", und aufgrund "mehrfacher Teilnahme an 'Kyffhäuser'-Treffen des formal aufgelösten 'Flügels'" über relevante Informationen verfüge. Ein Zeuge also mit kostbaren Inneneinsichten, auch in die extremsten Teile der Partei.
Das Urteil dieses Insiders, geäußert in TV- und Print-Interviews, fasst die Anwaltskanzlei auf den letzten Seiten in 14 Punkten zusammen – und es fällt vernichtend aus. Meuthen bestätige, dass es innerhalb der AfD eine zunehmende Radikalisierung gegeben habe, heißt es da. Verbale Entgleisungen seien laut Meuthen keine "Ausrutscher", Anleihen beim Nationalsozialismus keine Einzelfälle, sondern "viele Einzelereignisse", die sich wie eine "Perlenkette" aneinanderreihten. "Nicht ganz wenige Parteimitglieder" stellten die parlamentarische Demokratie als solche in Frage.
"Faschisten": Meuthen widerspricht der Einschätzung nicht
Das Klima in der Partei habe laut Meuthen etwas "Sektenartiges", Andersdenkende würden verachtet und unter Druck gesetzt. Zumindest in einzelnen Landesverbänden sehe Meuthen rechtsextremistische und totalitäre Tendenzen, insgesamt hätten Rechtsextremisten in der Partei einen Einfluss, "der entschieden größer ist als er sein dürfte". Meuthen stufe diese Rechtsextremisten nicht als "Nazis" ein, widerspreche aber der Einschätzung als "Faschisten" nicht.
Der offiziell aufgelöste rechtsextreme "Flügel" habe faktisch weiter Bestand und sei dominanter als von Meuthen zunächst angenommen. Er wolle nicht nur ein "Flügel", sondern die gesamte Partei sein und habe dieses Ziel laut Meuthen auch "nicht ganz erfolglos" verfolgt. Co-Bundessprecher Tino Chrupalla sowie andere Partei-Funktionäre wie Alice Weidel, Alexander Gauland und Stephan Brandner würden diesen extremen Kräften in der AfD nicht widersprechen.
Insgesamt sei es Meuthen lediglich "gegen harte Widerstände" gelungen, gegen Rechtsextremisten in der Partei vorzugehen. Und die Anwälte befinden: Mit Meuthens Austritt aus der AfD gehe nun die treibende Kraft, die einen "Großteil der zugunsten der Gesamtpartei berücksichtigten entlastenden Umstände" initiiert habe.
"Beabsichtigte Einstufung als Verdachtsfall ist rechtmäßig"
Schließlich heißt es, Meuthen räume mit seiner Begründung für den Austritt aus der Partei ausdrücklich ein, "dass der Einfluss extremistischer Bestrebungen so groß ist, dass er selbst als Co-Vorsitzender nicht mehr dagegen ankommt und seinen Weg für gescheitert erklärt". Meuthens Aussagen bestätigten "die Einstufung des ’Flügels’ als erwiesenen Fall einer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebung und die Rechtmäßigkeit einer Verdachtsfalleinstufung der Gesamtpartei".
Die Pressestelle des Bundesverfassungsschutzes sowie die Kanzlei "Redeker, Sellner, Dahs" dementieren das Schreiben auf Anfrage von t-online nicht. Die Kanzlei verweist jedoch auf den Verfassungsschutz. Der wiederum teilt mit, man könne sich weder konkret zu "Schreiben anderer Stellen" noch wegen der laufenden Verfahren überhaupt zum Thema AfD äußern.
Auch das Verwaltungsgericht Köln erklärt auf Anfrage von t-online, dass man zu "den angesprochenen Details der laufenden Verfahren keine Angabe machen" könne. Das Gericht bestätigt aber: "Die Kanzlei 'Redeker, Sellner, Dahs', die einen Sitz auch in Bonn hat, vertritt in den von Ihnen genannten Verfahren die Beklagte bzw. Antragsgegnerin."
Die Beklagte ist in den Verfahren die Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise der Bundesverfassungsschutz. Die AfD nämlich setzt sich juristisch präventiv gegen die mögliche Einstufung als Verdachtsfall zur Wehr, die durch Medienberichte im Januar 2021 bekannt geworden war. Seit Januar 2019 ist die Gesamtpartei bereits als sogenannter Prüffall, der "Flügel" seit März 2020 als rechtsextrem eingestuft.
"Finale Patrone für Beobachtung der Partei"
Die Einstufung als "Verdachtsfall" könnte für die AfD weitreichende Folgen haben: Parteimitglieder können dann observiert und abgehört werden, auch V-Leute dürfte der Verfassungsschutz in der AfD einsetzen. Wer im öffentlichen Dienst angestellt ist und einen Eid auf die Verfassung abgelegt hat, könnte Probleme mit seiner Dienststelle bekommen. Der Vorsitzende des Beamtenbundes hält eine Mitgliedschaft in der AfD mit einer Beamtentätigkeit für unvereinbar, sollten extremistische Bestrebungen in der Gesamtpartei festgestellt werden.
Vertretern der AfD liegt das Schreiben der Anwaltskanzlei nach Informationen von t-online bereits vor – und sorgt für massive Unruhe. Es bestätigt die schlimmsten Befürchtungen von Funktionären. In großen Teilen der AfD gilt der Prozess zwar ohnehin als "Schauprozess", die Entscheidung pro Beobachtung der AfD bereits als ausgemacht.
Meuthen aber habe stets versichert, dass er nicht wie andere Parteimitglieder öffentlich nachtreten werde, sollte er sich aus der AfD verabschieden. Jetzt aber liefere ausgerechnet er, der langjährige Vorsitzende, dem Verfassungsschutz "die finale Patrone für die Beobachtung der Partei", heißt es aus Parteikreisen.
Chrupalla: Meuthen-Aussagen zu diesem Zeitpunkt "bemerkenswerter Zufall"
Der derzeit einzige verbleibende Bundessprecher der AfD, Tino Chrupalla, wies die im Papier erhobenen Vorwürfe auf Nachfrage von t-online am Mittwoch als falsch, zudem vage und allgemein zurück. "Dass Meuthen dem Verfassungsschutz rund einen Monat vor der Verhandlung vermeintlich das liefert, was der Verfassungsschutz bislang verzweifelt suchte – nämlich eine Aussage direkt aus der Parteispitze – ist ein bemerkenswerter Zufall", so Chrupalla. Offenbar brauche Meuthen den Verfassungsschutz, um seine eigenen politischen Pläne zu verwirklichen, so Chrupalla weiter – und der Verfassungsschutz brauche Meuthen, um "seine Kampagne gegen die AfD voranzutreiben".
Auch AfD-Fraktionschefin Alice Weidel kritisierte im Gespräch mit t-online Meuthens "Steilvorlage an den Verfassungsschutz" scharf. "Während Meuthen weiter Diäten für ein AfD-Mandat in Brüssel kassiert, gefährdet er Existenzen 'einfacher' Parteimitglieder, die im Gegensatz zu ihm nicht das Hasenpanier ergriffen haben."
Meuthen sitzt seit Ende 2017 für die AfD im EU-Parlament, erst im Frühjahr 2024 wird es neu gewählt. Der 60-Jährige hatte nach seinem AfD-Austritt angedeutet, dass er sich künftig in einer anderen Partei engagieren könnte. Er führe derzeit viele Gespräche. "Es wird etwas Neues kommen", sagte er dem Magazin "Cicero". Sowohl eine Neugründung als auch der Beitritt in eine Partei werde von ihm derzeit erwogen, zitierten ihn die "Badischen Neuesten Nachrichten".
- Schreiben der Anwaltskanzlei "Redeker, Sellner, Dahs" an das Verwaltungsgericht Köln
- Anfrage an den Bundesverfassungsschutz
- Anfrage an das Verwaltungsgericht Köln
- Anfrage an die Kanzlei "Redeker, Sellner, Dahs"
- Anfrage an das Bundesinnenministerium
- Mit Material von dpa