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Zum journalistischen Leitbild von t-online.China reagiert drastisch Der Corona-Schrecken von Shanghai
Wegen der Omikron-Variante stößt Chinas Null-Covid-Strategie an ihre Grenzen. Die Antwort der Behörden: ein brutaler Lockdown. Bilder aus der Metropole Shanghai zeigen immer dramatischere Folgen.
"Bitte zügeln Sie das Bedürfnis Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster, singen Sie nicht. Ihr Verhalten birgt die Gefahr, Viren zu übertragen." Diese Durchsage ist auf einem Video zu hören, das im chinesischen Shanghai aufgenommen worden sein soll. Eine Drohne fliegt durch ein Wohnviertel und warnt die Bewohner.
Andere Videos zeigen einen Roboterhund, der durch die Straßen der Millionenmetropole läuft. Auf den Rücken ist ein Megafon geschnallt. Die automatisierte Stimme weist auf Hygienemaßnahmen und den aktuell geltenden Lockdown hin.
Es sind Szenen, die an einen Science-Fiction-Film erinnern. Und doch: In Shanghai sind sie Realität. Die bevölkerungsreichste Stadt Chinas kämpft seit Wochen gegen steigende Corona-Infektionszahlen an. Am Montag wurde am zehnten Tag in Folge der Rekord gebrochen: Die Behörden meldeten 26.087 Fälle.
Verstörende Aufnahmen aus Shanghai
Aufnahmen aus Shanghai wirken zunehmend verstörender: Hunde und Katzen werden totgeprügelt – angeblich, weil sie aus Haushalten kommen, in denen Bewohner infiziert waren. Menschen werden gewaltsam in Quarantäneunterkünfte gebracht. Kinder werden in Schutzanzügen, ohne ihre Eltern, abtransportiert.
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Bewohner, die sich öffentlich gegen die Lockdownmaßnahmen wehren, werden mit Vorrichtungen in Schach gehalten, die einer Greifzange ähneln.
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Menschen streiten sich um Lebensmittel. Von Balkonen aus rufen Einwohner nach Hilfe, aus Angst zu verhungern – denn Supermärkte sind teilweise geschlossen und viele Lieferdienste überlastet. Mitglieder von Nachbarschaftskomitees werden dabei gefilmt, wie sie Haustüren zuschweißen – offenbar um zu verhindern, dass Menschen ihre Wohnung verlassen.
Trotz der strengen Zensur in China gelangen immer wieder Aufnahmen an die Öffentlichkeit, die die bedrückenden Zustände vor Ort zeigen. Sehen Sie diese hier oder oben im Video.
Shanghai ist seit zwei Wochen abgeriegelt
Es scheint, als hätte die chinesische Regierung die Kontrolle über das Corona-Chaos verloren. Im Vergleich zu amerikanischen oder europäischen Großstädten sind die Zahlen zwar weiterhin gering, in China ist es aber der größte Ausbruch seit Wuhan 2019, von wo aus die Pandemie ihren Lauf nahm. 90 Prozent der Infektionen des Landes kommen aus Shanghai.
Zugleich gehört die Volksrepublik zu den letzten Ländern weltweit, die an einer Null-Covid-Strategie festhalten: Mit strikten Lockdowns und Massentestungen sollen jegliche Ansteckungen vermieden werden. Shanghai ist dementsprechend seit zwei Wochen ganz oder teilweise abgeriegelt. Etwa 25 Millionen Menschen wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben.
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Wer sich infiziert, muss in eine staatliche Isolationseinrichtung. Dort sollen die hygienischen Zustände katastrophal sein. "Wer nicht krank ist, wird es dort. Zu Hause sein ist im Moment das größte Glück", sagte eine Frau aus Shanghai der "Süddeutschen Zeitung". Zumindest die umstrittene Maßnahme, dass infizierte Kinder von ihren Eltern getrennt werden, wurde inzwischen wieder gelockert.
"Kollegen müssen sich ein schäbiges Duschbad im Gebäude teilen"
Im Finanzzentrum der Wirtschaftsmetropole übernachten viele Banker und Börsenhändler inzwischen in ihren Büros auf Campingbetten und ernähren sich von Instantnudeln. Denn das Herz der Finanzwirtschaft der Volksrepublik soll trotz der harten Anti-Covid-Maßnahmen weiter schlagen.
Zwar arbeiten die Finanzmärkte Shanghais größtenteils noch ohne Unterbrechung, doch die problematischen Anzeichen mehren sich. Pläne für eine Börsenlistung werden von Unternehmen auf Eis gelegt. Das Handelsvolumen beim Yuan ist bereits über ein Zweijahrestief hinaus gesunken.
Mitarbeitende, die in den Büros geblieben sind, erhalten etwa Luftmatratzen, Kissen und Decken und sind auf spärliche Waschgelegenheiten angewiesen. "Kollegen müssen sich ein schäbiges Duschbad im Gebäude teilen", klagte ein ausländischer Banker. Seit dem 28. März haben sich schätzungsweise 20.000 Finanzmarktprofis und andere Beschäftigte in ihren Bürotürmen im Stadtteil Lujiazui eingebunkert.
BA.2 stellt die Null-Covid-Strategie auf die Probe
Die strengen Regeln sorgen zunehmend für Unmut in der Bevölkerung. Wer mutig ist, schließt sich kleinen Protestgruppen an – und muss mit Gewalt, Geldstrafe oder sogar Gefängnis rechnen.
Die Omikron-Variante BA.2 stellt Chinas Corona-Politik auf eine harte Probe: "Das Virus hat sich schnell und auf verborgene Weise verbreitet", sagte Vize-Parteichef Gu Honghui. Zuvor hatte Staatschef Xi Jinping seine Strategie fortwährend verteidigt: "Ausländische Sportler haben uns gesagt, wenn es eine Goldmedaille für Epidemie-Bekämpfung gäbe, würde China sie bekommen", sagte Xi bei einer Ehrung von Teilnehmern der diesjährigen Olympischen Winterspiele in Peking.
Die chinesische Regierung sieht in ihrer Corona-Strategie und durch den Erfolg, die Infektionszahlen in den vergangenen zwei Jahren vergleichsweise gering gehalten zu haben, einen Beweis für die Überlegenheit des kommunistischen Systems gegenüber westlichen Demokratien. Ein Scheitern ist nicht erlaubt und würde auch Staatschef Xi schaden.
Geringe Impfquote in der älteren Bevölkerung ist ein Problem
Doch nun fehlt es an einer natürlichen Immunität, da China bisher nur wenige Infektionen erlebt hat. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Infektionsrate bei 27,27 Prozent, in China bei lediglich 0,03 Prozent (Stand: 11. April).
Ein großes Problem stellt auch die geringe Impfquote in der älteren Bevölkerung dar: Lediglich 46,9 Prozent der über 80-Jährigen sollen zwei Impfdosen erhalten haben, berichtete die "South China Morning Post". Bei den über 60-Jährigen seien es rund 74 Prozent. Mitte März erklärte Zeng Yixin von der Nationalen Gesundheitsbehörde, dass die Impfquote "immer noch sehr gering" sei. Lediglich 20 Prozent der über 80-Jährigen hätten einen Booster erhalten.
Welche Risiken eine niedrige Impfquote bei der älteren Bevölkerung birgt, ließ sich zuletzt in Hongkong beobachten: Dort wurde im März die weltweit höchste Todesrate unter Corona-Patienten im Verhältnis zur Einwohnerzahl gemessen: mehr als 25 je 100.000 Einwohner. In neunzig Prozent der Fälle traf es ältere Menschen ohne ausreichenden Impfschutz.
Jüngere Einwohner wurden bei Impfungen priorisiert
Dass viele ältere Bürger in China gar nicht oder nicht ausreichend geimpft sind, liegt vor allem daran, dass das Land zu Beginn seiner Impfkampagne nicht die Senioren, sondern die jüngeren Menschen, die reisen und arbeiten gehen, priorisiert hat. Zudem ist die Skepsis gegenüber Arzneimitteln in China relativ hoch, wie der Sinologe Klaus Mühlhahn im Gespräch mit t-online erklärte.
Im weiteren Verlauf der Pandemie habe die Null-Covid-Strategie den Älteren außerdem ein "falsches Sicherheitsgefühl" vermittelt, sagte Yanzhong Huang, Fachmann für das chinesische Gesundheitswesen bei der Denkfabrik Council on Foreign Relations in New York, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Durch die Abschottung von Regionen, in denen Infektionen entdeckt wurden, waren die Infektionszahlen während der Pandemie vergleichsweise niedrig – so sank auch die Angst vor einer Ansteckung.
Inzwischen sollen laut Regierung zwar fast 90 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft sein, die chinesischen Totimpfstoffe Sinopharm und Sinovac sind Studien zufolge jedoch weniger wirksam gegen die Omikron-Variante. Aus diesem Grund forderten Patientenschützer in Hongkong, ältere Einwohner mit dem deutschen Biontech-Vakzin zu impfen, um sie besser zu schützen.
Es deutet sich eine minimale Wende an
Hält die Regierung trotz des Unmuts der Bevölkerung an den Maßnahmen fest? Der städtische Gesundheitsbeamte Wu Qianyu sagte auf einer Pressekonferenz am Sonntag, die Vorschriften würden "nicht im Geringsten gelockert".
Nun deutet sich jedoch eine – zumindest minimale – Wende an. Ab dem heutigen Montag soll es Lockerungen in Shanghai geben: Den Bewohnern in den Stadtteilen mit den niedrigsten Corona-Infektionszahlen werde es nach und nach erlaubt, ihre Wohnungen wieder zu verlassen, teilten die Behörden mit. Die Einzelheiten blieben zunächst aber vage.
Nach Angaben des Behördenvertreters Gu Honghui sollen die Stadtteile entsprechend ihrer Infektionszahlen in drei verschiedene Stufen eingeteilt werden. "Differenzierte Präventions- und Kontrollmaßnahmen" würden damit die "tatsächlichen Umstände" vor Ort widerspiegeln, sagte er. In den Wohngebieten, in denen in den vergangenen 14 Tagen keine neuen Fälle mehr aufgetreten seien, dürften die Bewohner wieder vor die Tür.
Verwirrte Einwohner der Metropole versuchten am Montag, von ihren Nachbarschaftskomitees zu erfahren, was die Ankündigung für sie konkret bedeutet. In einem Bezirk im Süden der Stadt, der demnach in die unterste Kategorie fallen müsste, wurde ihnen mitgeteilt, dass sie nun einmal pro Tag ihre Wohnungen zum Einkaufen verlassen dürften.
Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua ist es den Bewohnern der Wohngebiete ohne neue Infektionsfälle "im Prinzip" nun erlaubt, sich innerhalb ihres Bezirks frei zu bewegen. Allerdings gebe es "strenge Beschränkungen" bei Zusammenkünften. Bei Neuinfektionen könne jederzeit wieder abgeschottet werden, sagte Gu Honghui. Für ein Aufatmen in der Bevölkerung ist es also noch zu früh.
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- South China Morning Post: Coronavirus: Shanghai rewrites daily cases record for 10th day, adding 26.087 new infections as lockdown strains supply chains and daily lives (englisch, kostenpflichtig)
- South China Morning Post: Coronavirus Hong Kong: give elderly in care homes BioNTech vaccine instead of Sinovac to better protect them, patients’ concern group says (englisch)
- Spiegel: Schlägertrupps in Seuchenmontur
- Frankfurter Allgemeine Zeitung: Warum in China so viele Ältere nicht geboostert sind (kostenpflichtig)
- Independent: Drone flying over Shanghai tells residents on balconies to comply with Covid lockdown (englisch)
- Tagesschau: "Es könnte wirklich übel ausgehen"
- Corona-Zahlen in China
- Süddeutsche Zeitung: Holt mich hier raus