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Corona | 20 Mio. Dosen am Tag: Impft China ohne Rücksicht auf Verluste?


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20 Millionen Dosen am Tag?
Warum die Impfzahlen aus China skeptisch machen


Aktualisiert am 10.06.2021Lesedauer: 7 Min.
Massenhafte Impfungen in China: Das bevölkerungsreichste Land der Welt gibt nun Gas beim Impfen.Vergrößern des Bildes
Massenhafte Impfungen in China: Das bevölkerungsreichste Land der Welt gibt nun Gas beim Impfen. (Quelle: China Daily/reuters)
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China hat den Impfturbo gezündet. Bis zu 20 Millionen Menschen werden täglich geimpft. Das sah vor wenigen Wochen noch ganz anders aus. Doch der starke Anstieg ist nicht nur mit der zunehmenden Impfbereitschaft der Bevölkerung zu erklären.

"Lass dich schnell impfen. Alle rennen um die Wette, um den chinesischen Impfstoff zu bekommen. (...) Der Impfstoff ist sehr sicher und das ist garantiert." So lauten die Zeilen im chinesischen Rapsong "Get Jabbed Quick" (zu Deutsch: "Lass dich schnell impfen"), den die Gesundheitskommission der chinesischen Provinz Sichuan veröffentlicht hat. Chinesische Bürger aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen, ob Mediziner, Bauarbeiter oder Polizisten, tanzen in Gruppen und singen dazu.

Aber dass das bevölkerungsreichste Land der Welt in den vergangenen sechs Wochen rund 510 Millionen Menschen geimpft hat, ist nicht nur auf einen musikalischen Werbespot zurückzuführen.

Fakt ist: China ist der neue Impfweltmeister. 1,32 pro 100 Einwohner werden dort derzeit im wöchentlichen Durchschnitt geimpft. Landesweit sollen in der Volksrepublik inzwischen knapp 825 Millionen Impfdosen verabreicht worden sein (Stand: 10. Juni). Dabei startete die Impfkampagne in dem asiatischen Land sehr schleppend. Monatelang lagen die Chinesen im weltweiten Vergleich weit hinter Impfvorreitern wie Großbritannien oder den USA. Inzwischen werden fast 20 Millionen Dosen täglich verimpft. Die Impfquote steigt so rasant an, dass der chinesischen Regierung zufolge bis Ende des Jahres mindestens 80 Prozent der Bevölkerung eine Spritze erhalten haben sollen.

Zahlen aus China verunsichern

In Metropolen wie Peking können sich die Menschen in Einkaufszentren und an vielbefahrenen Straßen impfen lassen. In China lautet die Devise offenbar: Stau? Dann hole ich mir schnell die Spritze ab. Peking könnte bald die erste chinesische Stadt sein, die das Ziel der Herdenimmunität erreicht hat. Laut Medienberichten sollen dort bereits 87 Prozent der Bevölkerung die erste Spritze erhalten haben.

Doch die Zahlen aus China verunsichern: Hatte das Land doch zu Beginn der Impfkampagne schwer mit Impfskeptikern zu kämpfen. Anfang des Jahres gab einer Umfrage zufolge lediglich rund die Hälfte der Bewohner an, sich gegen das Coronavirus impfen lassen zu wollen. Eine Umfrage vom April offenbarte laut chinesischen Medien, dass der Anteil inzwischen bei 80 Prozent liegen soll. Was steckt hinter dem vermeintlichen Sinneswandel? Warum ist die Impfquote so schnell angestiegen? Die Ursachen sind vielschichtig.

1. Massiver Druck der Regierung

"China hat eine große Mobilisierungskapazität", erklärt der China-Experte und Präsident der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, Klaus Mühlhahn, im Gespräch mit t-online. Es gebe Straßenkomitees und Nachbarschaftsorganisationen, die von Tür zu Tür gingen und für Impfungen werben würden. "Die fragen dann die Bewohner: 'Bist du schon geimpft worden?', 'Warum lässt du dich nicht impfen?'". Das funktioniere so nicht nur in den Großstädten, sondern auch in jedem kleinen Dorf. "Die Regierung schickt Leute mit Informationsblättern los und entweder wird ein Impftermin an der Tür gebucht oder sogar eine Impfung verabreicht."

Nicht immer geschieht das völlig freiwillig: "Die Leute werden zwar nicht abgeführt, aber sie werden schon sehr harsch angesprochen. Ich würde nicht unterschätzen, dass die Regierung in der Lage ist, viele Leute zu überzeugen – im Zweifel mit Verboten oder Strafen", erklärt der Sinologe.

Zuckerbrot oder Peitsche

In China gilt das Prinzip: Zuckerbrot ODER Peitsche, abhängig von der Region. So bekommen manche Menschen in der Großstadt Shanghai 300 Yuan (rund 38 Euro), wenn sie sich impfen lassen – das Zuckerbrot. In anderen Teilen des Landes müssen Eltern Lehrern darüber Auskunft geben, ob sie geimpft sind oder nicht. Und dann gibt es noch ein anderes Extrem: Unternehmen drängen ihre Mitarbeiter zur Impfung, dort heißt es dann: Werde geimpft oder du wirst gefeuert – die Peitsche. "Als Arbeitnehmer hat man in China keinen Arbeitsschutz, das wäre also sogar legal", erklärt Mühlhahn.

"Solange man keine besonderen gesundheitlichen Probleme hat, muss jeder geimpft werden", erzählt auch eine Betroffene aus China der "Deutschen Welle". Krankenhausmitarbeiter bekämen nicht gesagt, welches Vakzin sie erhalten. "Die meisten Menschen, selbst wenn sie vermeiden wollen, mit einem der chinesischen Impfstoffe geimpft zu werden, müssen es irgendwann trotzdem tun, weil niemand mit dem Druck der Regierung umgehen kann", erklärt die Frau demzufolge.

2. Enorme Ankurbelung der Produktionskapazitäten

"Dass China beim Impfen jetzt so viel aufholt, hat auch damit zu tun, dass die Regierung es lange Zeit vernachlässigt hat", sagt Experte Mühlhahn. Die Volksrepublik habe lange nicht aufs Impfen gesetzt, sondern auf Testen und Lockdowns. Ganze Regionen werden nach wie vor unter Quarantäne gestellt, selbst wenn nur Fälle im einstelligen Bereich erkannt werden. Dann haben die Impfstoffhersteller die Produktion enorm gesteigert. Viele neue Fabriken entstanden in kürzester Zeit, es erfolgten Notfallzulassungen für die chinesischen Impfstoffe. Die Hersteller verlassen sich zumeist auf eigene Produkte, nicht auf Material aus dem Ausland. So ist das Land nicht auf andere Länder angewiesen – ein Problem, das sonst viele Nationen weltweit plagt.

Zudem setze China bei den Vakzinen auf eine altbewährte Technologie, erklärt Mühlhahn. "Der Vorteil: Sie haben mehr Impfstoff als Deutschland beziehungsweise Europa", so der Experte. Mit der Verfügbarkeit der Impfstoffe schien auch der Druck zu steigen, möglichst schnell möglichst viele Einwohner zu impfen. Aber nicht nur aus Zwang ist die Impfquote so rasant angestiegen.

3. Mehr Vertrauen der Bevölkerung

Die chinesische Bevölkerung habe inzwischen mehr Vertrauen in die Impfstoffe als zu Beginn der Impfkampagne im vergangenen Jahr, erklärt Mühlhahn. "Grundsätzlich ist die Skepsis bei den Chinesen, was Arzneien angeht, erst einmal hoch. Die Bürger vertrauen nicht in die Qualitätskontrollen und Produzenten", sagt der Experte. Die Regierung habe eine klare Strategie. Chinesische Impfstoffe werden an Länder wie Brasilien geliefert, um zu zeigen: Die Vakzine sind sicher. Und tatsächlich wurden keine schwerwiegenden Nebenwirkungen von Sinopharm und Sinovac bekannt – doch auffällig ist, dass in Ländern, die sich auf die Impfstoffe aus China fokussiert haben, immer noch viele Neuinfektionen auftreten.

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So etwa auf den afrikanischen Seychellen, wo Mitte Mai bereits fast zwei Drittel der Bevölkerung geimpft waren – und dann eine massive Corona-Welle die Inseln erfasste. Das verwendete Vakzin: Sinopharm. Die Wirksamkeit des Impfstoffes soll dem Hersteller zufolge nach der zweiten Spritze bei etwa 79 Prozent liegen. Wie die Entwicklung auf den Seychellen und in anderen Ländern, die vermehrt chinesische Impfstoffe eingesetzt haben, jedoch zeigt, ist ein angemessener Schutz nach der ersten Impfung deutlich weniger gewährleistet. Beim zweiten Impfstoff Sinovac sorgen erhebliche Schwankungen bei der Bestimmung der Wirksamkeit für Bedenken. Die Angaben je nach Land liegen zwischen 50 und 91 Prozent.

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Mitte April überraschte dann ein Zugeständnis der chinesischen Regierung. Um die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe zu erhöhen, erwog China eine Vermischung verschiedener Präparate. Die Behörden müssten "über Wege nachdenken, wie das Problem gelöst werden kann, dass die Wirksamkeit der existierenden Impfstoffe nicht hoch ist", sagte der Leiter des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und -prävention, Gao Fu. Es war das erste Mal, dass ein ranghoher Vertreter Chinas die relativ geringe Wirksamkeit der von China entwickelten Corona-Impfstoffe öffentlich eingeräumt hatte.

Corona-Ausbrüche sind überzeugendes Argument

Die vermeintliche Transparenz habe in der Bevölkerung Vertrauen geschafft, sagt China-Experte Mühlhahn. Auch die Notfallzulassungen der beiden Impfstoffe durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hätten das Misstrauen eingedämmt. Sie bescheinigen, dass höchste Standards in Bezug auf Wirksamkeit und Herstellung bei Sinopharm und Sinovac eingehalten werden. Mühlhahn erklärt: "In bestimmten Sachen ist die chinesische Bevölkerung sehr misstrauisch, zum Beispiel bei den Zahlen zur Wirksamkeit. Aber wenn ein Argument überzeugt, so wie beim Tragen von Masken, dann machen die das, dann sind viele Leute bereit."

Ein ebenso überzeugendes Instrument für die Bürger, sich impfen zu lassen, sind offenbar Corona-Ausbrüche. In den vergangenen Monaten waren die Zahlen – zumindest der Regierung zufolge – so gering, dass beinahe jedes größere, aber auch kleinere Cluster für Aufsehen sorgt. So seien etwa Mitte Mai in einer Kleinstadt im Osten der Provinz Anhui vier lokal übertragene Fälle registriert worden, berichteten Medien. Beamte betonten demnach, die Infizierten seien nicht geimpft worden. Die Region verzeichnete nach dem Anstieg der Neuinfektionen eine deutlich ansteigende Impfquote.

4. Der internationale Handel darf nicht stillstehen

Ein weiterer prägnanter Grund für den Impfboom in China ist die Wirtschaft. "Der Regierung ist die relative Isolation des Landes immer mehr bewusst geworden", erklärt Experte Mühlhahn. Chinesen könnten schwerer ins Ausland reisen und Ausländer kämen schwerer rein. "China hat gemerkt, sich vom Rest der Welt abzuschotten, ist wirtschaftlich nicht tragbar. Man muss Impfungen vorantreiben, damit man mit der Welt Handel betreiben kann", sagt Mühlhahn.

Zugleich mahnt der Wissenschaftler: Zahlen, die aus China kommen, sollten mit Vorsicht genossen werden. Derzeit verzeichnet die WHO in China offiziell insgesamt knapp 115.000 Infektionen und etwa 5.100 Menschen, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. In Relation zur 1,44-Milliarden-Bevölkerung ist das lediglich ein minimaler Anteil. Auch dass bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung geimpft sein soll, bezweifelt Mühlhahn.

"Regierung hat ein Riesenproblem mit Transparenz"

"Das sind politische Zahlen. Die Regierung hat immer ein Riesenproblem mit Transparenz, deshalb glaubt die Bevölkerung denen auch nicht." Dies bezieht der Sinologe auch darauf, dass aus China keine Zahlen zu Erst- und Zweitimpfungen bekannt sind, sondern lediglich die totale Anzahl der verimpften Dosen. "Die Zahlen drücken Ambitionen aus, keine Fakten", betont Mühlhahn. Dennoch sei die Prognose der Regierung, bis Ende des Jahres 80 Prozent und damit nahezu eine Herdenimmunität zu erreichen, sehr denkbar.

Dafür spricht auch, dass China als erstes Land Corona-Impfungen für kleine Kinder zugelassen hat. Sinovac teilte vor wenigen Tagen mit, eine Notfallzulassung für Kinder ab drei Jahren erhalten zu haben. Unklar war allerdings, wann die Impfungen bei Kindern in der Volksrepublik tatsächlich beginnen. Und auch dann stellt sich wieder die Frage, ob die Eltern ihre Kinder aus Zwang oder Überzeugung impfen lassen. Womöglich erscheint dann der nächste Song: "Get Your Kids Jabbed Quick"?

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