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Bundestagswahl: Warum spielt die Klimakrise im Wahlkampf keine Rolle?


Tagesanbruch
Die Hölle droht am Horizont

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.02.2025 - 08:03 UhrLesedauer: 7 Min.
Stau in deutscher Großstadt: Beim Verkehr liegen die Klimaziele in weiter Ferne.Vergrößern des Bildes
Stau in deutscher Großstadt: Beim Verkehr liegen die Klimaziele in weiter Ferne. (Quelle: IMAGO/Michael Gstettenbauer)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, sollte man meinen. Allerdings ist er auch ein Wesen, das vollständig im Hier und Jetzt lebt. Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, fällt ihm schwer. Bedrohungen in der Zukunft zu erkennen, noch schwerer. Sogar dann, wenn die Gefahren sich glasklar am Horizont abzeichnen und ihre Vorboten bereits die Gegenwart erschüttern. Kommen auch noch Ignoranz oder Laissez-faire hinzu, die vielen Zeitgenossen ebenfalls zu eigen sind, werden die Scheuklappen endgültig nicht mehr hochgeklappt.

Nur mit den menschlichen Unzulänglichkeiten ist es zu erklären, dass in diesem Bundestagswahlkampf die größte Herausforderung des Landes kaum vorkommt. Alles andere erscheint wichtiger. Die Wirtschaft wieder anzukurbeln ist wichtig, keine Frage. Ohne Aufschwung weniger Steuergeld, weniger Wohlstand, weniger Gestaltungsspielraum. Auch die Sicherheitslage ist zweifellos wichtig, erst recht seit den Gewalttaten in Magdeburg und Aschaffenburg. Fühlen Bürger sich nicht mehr sicher, verlieren sie das Vertrauen in den Staat. Das Behördendickicht zu lichten und den Bürokratiedschungel zu roden, sind ebenfalls dringende Aufgaben. Das Land muss seine Fesseln lösen, um schneller Probleme lösen zu können. All das und noch viel mehr ist wichtig und wird zu Recht in Bundestagsreden und Talkshows, an Wahlkampfständen und in Medienkommentaren beschworen. Aber bei Lichte betrachtet ist es nicht die Priorität Nummer eins, der sich Politiker, Journalisten und alle Wähler eigentlich widmen sollten, wenn sie etwas weiter vorausblicken würden als nur auf die nächste vierjährige Legislaturperiode.

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Falls Sie den Tagesanbruch schon etwas länger lesen, ahnen Sie womöglich, worauf ich hinaus möchte. Es gab eine Zeit, in der die dringendste Herausforderung für diese und vor allem alle nachfolgenden Generationen hier oftmals angesprochen wurde. In den vergangenen Monaten ist es seltener geworden, was nicht gut ist, Asche auf mein Haupt. Aber es entsprach den Prioritäten, die Politik und Öffentlichkeit anderen Themen beimessen.

Elf Tage vor dem Wahlsonntag ist es an der Zeit, die angemessene Gewichtung wiederherzustellen. Wer Kinder oder Enkel hat oder Verantwortung für die Kugel empfindet, auf der wir alle miteinander umherlaufen, für den kann es eigentlich kein wichtigeres Thema geben als den Schutz des Klimas, der Umwelt und der Artenvielfalt. Denn was gegenwärtig auf unserem Heimatplaneten geschieht (und Stand jetzt haben wir nur diesen einen), würde man in einem Hollywood-Drehbuch mit "Höllenfahrt" betiteln. Daran sind nicht nur Mister Trump, die Chinesen, Russen oder Inder schuld. Wir sitzen alle im selben Boot, wir acht Milliarden Zweibeiner, allerdings tragen diejenigen unter uns, die in Industriestaaten oder Schwellenländern leben, überdurchschnittlich dazu bei, das Höllenfeuer anzufachen.

Das vergangene Jahr war das wärmste in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen anno 1881. Der Trend entspricht der globalen Entwicklung: Gletscher und Eisberge schmelzen im Rekordtempo dahin, während der Meeresspiegel steigt, immer heftigere Stürme, längere Dürren und verheerendere Überschwemmungen verwüsten ganze Regionen. Mehr als 3.000 Hitzetote wurden hierzulande im vergangenen Jahr gezählt, im Jahr zuvor waren es europaweit fast 48.000. Wissenschaftler rechnen uns vor, dass sich die Zahl in den kommenden Jahrzehnten verdreifachen kann. In Afrika erhebt man die Zahlen nicht. Aber wer es sich leisten kann, wird seine Heimat verlassen, wenn er dort nicht mehr überleben kann. Dann geht’s nordwärts.

Trotz der alarmierenden Zahlen und Szenarien rangiert der Klimaschutz in der Agenda von Politik und Medien nur noch unter ferner liefen. Das hat Folgen. Einer Umfrage von Statista zufolge sahen Ende vergangenen Jahres nur rund ein Drittel der befragten Deutschen die Erderhitzung als vordringliches Problem des Landes – das Thema landete in einer Rangliste abgeschlagen auf Platz neun. In anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus. Das wiederum beeinflusst Parteien, Regierungen und Behörden bei der Frage, welche Probleme sie zuerst anpacken und welche sie auf die lange Bank schieben.

Die Folgen der Aufschieberitis sind gravierend. Eigentlich hatten die meisten Staaten der Welt sich im Pariser Klimaschutzabkommen 2015 verpflichtet, regelmäßig nationale Klimapläne vorzuweisen, in denen sie konkrete Schritte festlegen, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad, zumindest aber auf deutlich unter 2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Diese Konzepte dienen als Grundlage für die jährlichen Weltklimakonferenzen. Ohne nationale Pläne kein globaler Gesamtplan.

Zehn Jahre später haben wir das 1,5-Grad-Ziel gerissen und steuern geradewegs auf 3 bis 4 Grad Erderwärmung zu. Die Zahlen mögen klein klingen, doch sie sind gewaltig. Ein dreieinhalb Grad heißerer Planet ist eine vollkommen andere Welt. Ich erspare es Ihnen, das Szenario auszumalen, weil ich Ihnen nicht den Morgen verderben will. Aber sie können es nachlesen, kurzes Googeln genügt. Ich belasse es bei einer einfachen Feststellung: 3,5 Grad bedeutet Kontrollverlust. Viele Fragen, mit denen wir uns heute beschäftigen, werden den Menschen, die in der Zukunft mit dieser Erhitzung leben müssen, wie fahrlässiger Firlefanz vorkommen. Wie Selbsthypnose. Oder wie ein Ablenkungsmanöver.

Denn genau das ist es, was wir gegenwärtig veranstalten, und zwar allesamt. Ob wir Politik machen oder Politiker wählen, wir alle oder zumindest die Mehrheit von uns steckt den Kopf tief in den Sand und tut so, als verschwinde das Höllenfeuer am Horizont dadurch.

Wie sonst ist es zu erklären, dass die allermeisten Staaten – auch Deutschland – ihre nationalen Klimaschutzpläne verzögern, vertrödeln, verwässern? Am Montag ist die Abgabefrist abgelaufen, bisher sind nur Großbritannien, die Schweiz und einige kleine afrikanische und lateinamerikanische Staaten ihrer Pflicht nachgekommen. Den Plan der USA hatte Joe Bidens Regierung noch pünktlich eingereicht, aber da der selbsternannte "größte Dealmaker aller Zeiten" Amerikas Mitgliedschaft im Pariser Klimavertrag gekündigt hat, ist er Makulatur. Zusammengenommen sind die säumigen Staaten für mehr als 80 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. 80 Prozent! Und sie schieben das Problem einfach vor sich her. Wie hoch muss ein Sandhaufen sein, dass man sich so tief darin vergraben kann?

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Statt Aussitzen bräuchte es einen sofortigen Notfallplan der Staatengemeinschaft. "Die Lücke zwischen den bisherigen Klimaverpflichtungen der Länder und dem, was für das Einhalten der Pariser Ziele nötig ist, ist sehr groß. Wenn sich das nicht zügig ändert, steigt das Risiko beträchtlich, in eine eskalierende Klimakrise hineinzugeraten", sagt Petter Lydén von der Umweltorganisation Germanwatch. Wissenschaftler rechnen kühl vor: Um das 2030-Ziel noch zu erreichen, müssten die bisherigen Anstrengungen beim klimafreundlichen Umbau der Wirtschaftsproduktion, des Verkehrs, des Wohnungsbaus, der Energieversorgung, der Landwirtschaft und der Renaturierung verdoppelt werden. Allein in Deutschland brauche es zusätzlich zu den bisherigen Investitionen weitere 50 bis 150 Milliarden Euro – jährlich.

Die Bundesrepublik hat sich völkerrechtlich verpflichtet, ihre Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 65 Prozent zu drosseln. Der Reduzierungspfad war schon im vergangenen Jahr kaum zu halten, ab jetzt wird es noch viel schwerer. Wird das Jahresziel zweimal in Folge gerissen, muss die Bundesregierung eigentlich hart eingreifen. Dazu ist sie gesetzlich verpflichtet. Der nächste Überprüfungsbericht steht nach der Bundestagswahl an.

Wer auch immer der nächste Kanzler wird und wer auch immer dann in den Ministerien sitzt: Erkennen sie nicht schleunigst, was die Uhr geschlagen hat, müssen sie sich auf brenzlige Zeiten gefasst machen. Aber da sind die Amtsträger nicht allein. Für alle Wähler gilt exakt dasselbe.


Ohrenschmaus

Zur klimatischen Stimmung passt ein Klassiker. Wie die Faust aufs Auge.


Kraftprotz kommt

Er kann kaum gehen vor Kraft: Gestern landete der neue US-Verteidigungsminister Pete Hegseth in Stuttgart, um die Kommandozentrale der US-Streitkräfte für Europa und Afrika zu besuchen. Dabei produzierte der von Donald Trump eingesetzte ehemalige Fox-News-Moderator gleich ein paar markige Bilder vom gemeinsamen Krafttraining mit Soldaten, die er auf Elon Musks Plattform X postete.

Heute geht es weiter: Hegseth wird im Nato-Hauptquartier in Brüssel beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe erwartet, morgen steht die Konferenz der Nato-Verteidigungsminister an. Ob die Trump-Administration jenseits des Erpressungs-Deals mit Seltenen Erden irgendeine belastbare Strategie zur Beendigung von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine verfolgt, bleibt unklar. Außer der Forderung, die Verbündeten müssten ihre Verteidigungsausgaben steigern und ihre militärischen Kapazitäten ausbauen, ist bislang nichts Inhaltliches überliefert. Umso größer sind die Erwartungen an die Münchner Sicherheitskonferenz ab Freitag, die US-Vizepräsident J. D. Vance beehrt. Mister Hegseth wird dann schon in Polen weilen, um zum Abschluss seiner Europa-Tour die dortigen US-Soldaten zu treffen. Wieder mit Hanteln, ist anzunehmen.


Spalter unter sich

Hat er sie eingeladen oder hat sie ihn um ein Treffen gebeten? In diesem Punkt gehen die Darstellungen auseinander. Jedenfalls besucht AfD-Chefin Alice Weidel heute den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in Budapest. Während die AfD ihre Bewunderung für den notorischen EU-Blockierer seit Jahren betont, zeigte sich dieser bislang reserviert. Folgerichtig gehören die deutschen Rechtsextremisten auch nicht zu der von ihm gegründeten EU-Parlaments-Fraktion der "Patrioten für Europa". Nicht auszuschließen aber, dass die Vision eines ganz großen Rechtsbündnisses den Fidesz-Vorsitzenden doch noch reizt. Am Vormittag ist eine gemeinsame Pressekonferenz geplant.


Lesetipps

Eigentlich dürfen alle wahlberechtigten Deutschen an der Bundestagswahl teilnehmen. Doch Zehntausende Auslandsdeutsche werden de facto ausgeschlossen, wie Recherchen meiner Kollegen Mauritius Kloft und Christoph Cöln zeigen. Das könnte gravierende Folgen haben.



Eine Aufholjagd hatte Olaf Scholz versprochen. Doch der Kanzler und seine Partei liegen kurz vor der Wahl aussichtslos zurück. Der SPD stehen schwere Tage bevor, glaubt unser Kolumnist Uwe Vorkötter.


Zum Schluss

Olaf Scholz hat seine wohl letzte Bundestagsrede gehalten.

Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Tag. Heute Nachmittag erhalten alle Tagesanbruch-Abonnenten eine Sonderausgabe mit einem besonderen Gast.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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