Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.SPD vor der Wahl Das war ein gewaltiger Fehler
![Olaf Scholz: Die SPD muss nach der Wahl eine schwere Entscheidung treffen. Olaf Scholz: Die SPD muss nach der Wahl eine schwere Entscheidung treffen.](https://images.t-online.de/2025/02/VM4hrFcgmuC6/981x219:2122x1193/fit-in/1920x0/olaf-scholz-die-spd-muss-nach-der-wahl-eine-schwere-entscheidung-treffen.jpg)
Eine Aufholjagd hatte Olaf Scholz versprochen. Aber der Kanzler und seine Partei liegen kurz vor der Wahl aussichtslos zurück. Der SPD stehen schwere Tage bevor.
Am 23. Februar um Punkt 18 Uhr fällt die ganze Aufregung dieser Tage wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Krawall um den "Tabubruch" von Friedrich Merz, die Demonstrationen gegen rechts und gegen die CDU, die scharfe Forderung nach Zurückweisung aller, wirklich aller Flüchtlinge an den deutschen Grenzen, der Streit um das Bürgergeld, das TV-Duell zwischen Scholz und Merz, all das ist dann Geschichte. In diesem Moment werden wir auf eine völlig veränderte politische Landschaft blicken.
Die Sozialdemokraten wissen, dass der 18-Uhr-Moment am Wahlabend für sie bitter wird. Die roten Balken werden auf den Fernsehschirmen weit hinter den schwarzen zurückbleiben, die SPD kann die ohnehin bescheidenen 25,7 Prozent, mit denen Olaf Scholz vor drei Jahren Kanzler wurde, nicht wieder erreichen. Scholz wird an diesem Abend noch einmal als Hauptfigur auf der politischen Bühne stehen, dann tritt er ab. Seine letzte Rolle ist die des Verlierers. Neben Gerhard Schröder und Angela Merkel wird er der dritte lebende Ex-Bundeskanzler sein. Es gibt schlimmere Schicksale.
![Uwe Vorkötter Uwe Vorkötter](https://images.t-online.de/2024/01/MYUp7tlkqVuR/289x463:2091x1394/fit-in/1920x0/image.jpg)
Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Seine Partei kann sich im Gegensatz zu ihrem Kanzler nicht in einen komfortablen Ruhestand zurückziehen. Für die SPD geht es nach dem 23. Februar um alles: um Regierung oder Opposition, um die Zukunft der Traditionspartei, um das Überleben der Sozialdemokratie in einer Gesellschaft, die politisch nach rechts rückt. Sofort wird die Personalfrage im Raum stehen: Wer bestimmt künftig den Kurs der SPD? Und welche Richtung schlägt die Partei dann ein?
Am Wahlabend haben die Parteivorsitzenden das Wort, das entspricht der politischen Kleiderordnung. Also Saskia Esken und Lars Klingbeil. Beide sind für die absehbare Niederlage nicht nur politisch, sondern auch persönlich verantwortlich. Als die Ampelkoalition im November zerbrach, haben sie öffentlich die Absicht des Kanzlers unterstützt, wieder als Kandidat anzutreten: Olaf will das, Olaf macht das. Als Alternative stand Boris Pistorius bereit. Ob der Verteidigungsminister, der weit über das SPD-Milieu hinaus hohes Ansehen genießt, die Wahl hätte gewinnen können, ist Spekulation. Scholz konnte nur noch verlieren. Esken und Klingbeil haben seine aussichtslose Kandidatur nicht verhindert. Das war ein fataler Fehler.
Keine Vorsitzende der Herzen
Saskia Esken ist 63 Jahre alt. Ihre Wirkung nach innen, in die SPD hinein, ist nicht zu unterschätzen. Aber ihr fliegen die Herzen nicht zu, im Gegenteil, ihr schroffer Apparatschik-Ton schreckt bürgerliche Wähler ab. Sie ist keine Frau für die Zukunft der SPD. Lars Klingbeil wird 47, ausgerechnet am Wahlsonntag. Er ist einer der wenigen Hoffnungsträger seiner Partei aus der nächsten Generation. Zweifellos hat er die Ambition, der SPD am Tag danach die Richtung vorzugeben. Seine Richtung führt in die Regierung, als Juniorpartner von Friedrich Merz. Fraglich ist, ob die Genossen ihm folgen.
Wenn die SPD um die 20 Prozent erreicht, hat er gute Chancen. Er könnte dann Vizekanzler werden. Im Endspurt sei es ihm noch gelungen, das Schlimmste zu verhindern, wird es dann heißen. Das Schlimmste, das ist ein Ergebnis von 15 oder 16 Prozent. Ein historischer Tiefpunkt. Ein Absturz, aus dem die Linken in der SPD folgern, eine Koalition mit der rechten Merz-CDU komme der Selbstaufgabe gleich. Und nicht nur die Linken werden es dann schon immer gewusst haben: Klingbeil hätte Scholz verhindern müssen, Klingbeil fehlt es an Härte und an Führungsstärke. Die SPD hat reichlich Erfahrung darin, ihre Vorsitzenden zu demontieren. Fragen Sie mal Andrea Nahles, Martin Schulz, Sigmar Gabriel.
Weite Teile der Bevölkerung werden sich nach der Wahl eine Koalition Merz/Pistorius wünschen. In der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es keine Differenzen zwischen den beiden. Den wirtschaftsliberalen Kurs von Merz würde Pistorius sozialpolitisch austarieren. In der Migrationsfrage könnten sie einen Kompromiss finden, der den Willen der Mehrheit, weniger Flüchtlinge ins Land zu lassen, respektiert. Das wäre eine Regierung, die funktionieren kann. Aber Pistorius ist schon einmal in der Defensive geblieben – als es um die Kanzlerkandidatur ging. Er müsste diesmal offensiv die Führung beanspruchen, auch gegen den Widerstand in den eigenen Reihen.
Die Funktionärsbasis der SPD hat andere Favoriten für den Tag nach der Niederlage. Rolf Mützenich zum Beispiel, 65, der in Haltung und Habitus die derzeitige Sozialdemokratie repräsentiert wie kein anderer. Er kommt aus der Friedensbewegung, wie so viele seiner Generation. Nie würde er sagen, Deutschland muss kriegstüchtig werden, wie Pistorius. Sein Leben lang hat er für Abrüstung gestritten, er tut sich schwer mit allem Militärischen. Mützenich steht für die besseren Zeiten der SPD, also für die vergangenen. Sozialdemokratische Nostalgie und Regierungsverantwortung schließen sich aus.
Einfach unverbesserlich?
Regierung oder Opposition, wohin will die SPD? "Opposition ist Mist", stellte ihr Ex-Chef Franz Müntefering einst fest. Aber das sehen längst nicht alle so; und es muss auch nicht stimmen. Stellen Sie sich kurz vor, sowohl Die Linke als auch Sahra Wagenknecht würden an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Dann wäre auf der linken Seite des Bundestags das Feld frei für die SPD. Höhere Steuern für die Reichen, 15 Euro Mindestlohn, Mietpreisdeckel, Finger weg von den Renten, vom Bürgergeld – all diese Forderungen hätte sie exklusiv. Es sind Forderungen, die eine Partei nur als Opposition ausleben kann. Auch Hubertus Heil hält sich übrigens für einen geeigneten Vorsitzenden, das wäre seine Chance.
Dass die SPD als Juniorpartner von Merz regieren will, ist nicht wahrscheinlich. Die Frage lautet, ob sie es muss. Schon einmal hat der Bundespräsident sie bei der staatspolitischen Verantwortung gepackt. 2017 war das, Frank-Walter Steinmeier drängte sie in die Regierung Merkel. Weil es keine Alternative zu Schwarz-Rot gab. Diesmal könnte Schwarz-Grün eine rechnerische Alternative sein – aber daraus eine politische Alternative zu machen, ist nach dem verbissenen Wahlkampf, den vor allem Markus Söder gegen die Grünen geführt hat, schwer vorstellbar. Also muss die SPD wieder regieren, ob sie will oder nicht? Kann sein.
Regieren müssen, das könnte der Partei immerhin eine selbstzerstörerische Debatte ersparen. Die SPD besteht aus gut organisierten Gruppen und Seilschaften: die eher konservativen Seeheimer, die Parlamentarische Linke, die jüngeren Netzwerker; dazu die offiziellen Parteigliederungen, Landesverbände, Jusos, Frauen. Sie alle werden nach der Wahl Aufarbeitung, Ursachenforschung und Neuaufstellung verlangen. Aber Vorsicht, vermuten Sie dahinter nicht allzu viel Bereitschaft zur Selbstkritik. In der SPD führen solche Selbsterforschungen regelmäßig zu dem Schluss, dass das eigene Programm nicht klar genug formuliert war, das eigene Profil durch zu viele Kompromisse verwässert wurde. Dass es am Programm oder am Profil lag, schließen Sozialdemokraten kategorisch aus.
Apropos Frauen. Wo sind eigentlich die Sozialdemokratinnen, die das Schicksal der ältesten deutschen Partei jetzt mitbestimmen? Anke Rehlinger wird genannt, die Ministerpräsidentin des Saarlands. Eine patente Frau, an Problemlösungen interessiert, nicht an Ideologie. Sie regiert in Saarbrücken allein, mit absoluter Mehrheit der Mandate – dass es das noch gibt! Aber: Das Saarland ist beschaulich, kein Vergleich mit der politischen Schlangengrube Berlin. Einmal wählte die SPD einen patenten, bodenständigen und erfolgreichen Mann aus der Provinz an ihre Spitze: den Pfälzer Kurt Beck. Er scheiterte in der Bundesliga.
"Verdammt noch mal!
Oder Bärbel Bas? Die Bundestagspräsidentin, linker Flügel der SPD, könnte eine Doppelspitze mit Klingbeil bilden. Aber: Bas hatte jetzt drei Jahre lang das zweithöchste Staatsamt nach dem Bundespräsidenten inne. Ist Ihnen ein einziger Satz in Erinnerung, mit dem sie die Republik geprägt oder aufgerüttelt oder beeindruckt hätte? Mir nicht.
Ich erinnere mich an diesen Satz: "Wir haben ein Interesse daran, dass noch was übrig bleibt von diesem Laden, verdammt noch mal!" Es war ein Temperamentsausbruch von Kevin Kühnert, 2017, er war Juso-Chef, es ging um die Große Koalition. Jetzt, nach drei Jahren Ampelkoalition, bleibt tatsächlich nur noch wenig übrig von diesem Laden. Kevin Kühnert ist krank geworden. Typen wie ihn, jung, leidenschaftlich, gescheit, kämpferisch, mit strategischem Blick, könnte die SPD jetzt dringend gebrauchen. Aber da ist nur eine große Leere.