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Demokratie und EU: Auf dem Balkan braut sich was zusammen


Tagesanbruch
Wo kommen die jetzt plötzlich her?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.04.2025Lesedauer: 6 Min.
Teilnehmer eines Protestlaufs in Belgrad werden von Anwohnern begrüßt.Vergrößern des Bildes
Teilnehmer eines Protestlaufs in Belgrad werden von Anwohnern begrüßt. (Quelle: imago images)
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Wenn eine wilde Woche wie diese zu Ende geht, gibt es auf Englisch eine Abkürzung dafür: TGIF. "Thank God it's Friday", es ist Freitag und bald überstanden – da dankt man schon mal dem Herrn und schaut erleichtert auf die letzten Meter bis zum Wochenende. Krisen, Trump, Handelskrieg und Hammerzölle, dicker Koalitionsvertrag in Berlin, doch keine Zölle, dafür noch mehr Trump, derweil detonieren im Nahen Osten, in der Ukraine und anderswo Bomben und Granaten. Das Trommelfeuer der Ereignisse kommt nicht zur Ruhe, eine Atempause ist nirgendwo in Sicht. Was tun wir dagegen, hier im Tagesanbruch? Wir drosseln das Tempo. Wir schauen auf etwas, das gemächlich dahinrollt. Heute geht es um: Radfahrer. Entschleunigung pur.

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Eine schöne Strecke haben sie sich ausgedacht, unsere Radler, sie waren schon in Budapest und in Wien. Heute geht es von Salzburg nach Deutschland: Wenn sie in die Pedale treten wie geplant, kommen sie abends in München an. Tolle Tour, wunderbare Ziele, viel zu sehen, Wetter passt auch. Das tut der Seele gut. So schaffen sie es nicht nur bis zum Etappenziel, sondern sogar in den Tagesanbruch.

Ihre Fahrt beschließen wollen unsere Freizeitsportler in Straßburg. Vielleicht freuen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sich nun auf eine unpolitische Wochenausklangsgeschichte, ziehen an dieser Stelle aber misstrauisch die Augenbrauen hoch. Straßburg: Hat da nicht das Europaparlament seinen Sitz? Es hat. Wo kommen die Radfahrer eigentlich genau her? Aus Novi Sad in Serbien. Ist da nicht neulich irgendwas gewesen? Oh ja. Und wie.

Ein Bahnhofsvordach ist im November dort heruntergestürzt, hat 16 Menschen erschlagen und für Furor im ganzen Land gesorgt. Seitdem wird Serbien von Protesten erschüttert. Auch die Tour unserer Radler ist Ausdruck dieser Empörung. Denn aus dem brüchigen Vordach ist ein Symbol des Systems und aus dem tragischen Unfall eine Anklage gegen die Mächtigen im Land geworden. Das Geld für den Bau ist nicht in eine solide Konstruktion geflossen, sondern in die Taschen gut vernetzter Geschäftsleute: So skandieren es die Demonstranten auf der Straße. Aus dem Sumpf, der die Regierungspartei umgibt, blubbern politische Karrieren und private Vermögen wie Faulgase nach oben. Es stinkt zum Himmel.

Das interessiert uns hierzulande nicht besonders, verständlicherweise und zu Recht. Die lange Liste voller Trump-Chaos, Nato-Krise, russischer Bedrohung, wirtschaftlicher Sorgen und so weiter und so fort lastet nicht nur Tagesanbruch-Leser und -Autoren, sondern auch die Politik bis zum Anschlag aus. Was irgendwo auf dem Balkan vor sich hin köchelt, und das auf lediglich mittlerer Stufe, hat auf der Tagesordnung nicht auch noch Platz. Nur eines kann einen stutzig machen: dass in Hauptstädten, die uns nicht wohlgesonnen sind, die Blicke sich so seltsam beharrlich nach Serbien richten.

Ein gewisser Herr Xi Jinping zum Beispiel hat auf seiner Europareise zwar für Berlin oder Brüssel keine Zeit gehabtaber Belgrad auf gar keinen Fall auslassen wollen. Sein Kollege Putin sendet freundliche Grüße und trifft Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić im Mai. Mister Trump hat zwar an seinen europäischen Nato-Verbündeten kein Interesse, zum Plausch mit Vučić aber pronto seinen Sohnemann Don Junior in Bewegung gesetzt.

Die Herrschaften wissen, warum. Serbien ist eine zentrale Drehscheibe am Eingang zur EU. Es liefert still und leise Waffen in die Ukraine, hält engen Kontakt zur Nato, erfreut sich zugleich bester Beziehungen zu Moskau und Peking. Viktor Orbán hat sich Vučić als Verbündeten auserkoren, um seine Achse gegen Brüssel zu stärken. Doch in der EU kann man auch nicht ohne Vučić: Das Pulverfass in Bosnien lässt sich ohne die Kooperation des serbischen Präsidenten nicht vor der Explosion bewahren. Auch Rohstoffe spielen eine Rolle: Lithium, begehrt für Batterien in Handys und Autos, gibt es in Serbien zur Genüge. Herr Vučić hat einen vollen Terminkalender.

Die nach Straßburg radelnden Demonstranten wären schon über einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit froh. "Nicht, weil wir erwarten, dass andere unsere Probleme lösen – sondern damit die Welt die Stimme Serbiens hört", schreiben sie tapfer auf ihrer Webseite, und wenn man zwischen den Zeilen geringe Erwartungen an die europäischen Institutionen herausliest, hat man seine Brille korrekt aufgesetzt.

Unsere liberale, freiheitsliebende, demokratiefreundliche Union unterscheidet sich in der Außenwahrnehmung nämlich drastisch von dem Bild, das wir selbst von uns haben. Die wohlklingenden Adjektive fallen weg, übrig bleibt ein Machtblock wie alle anderen in der Welt. Deshalb sind auf den Demonstrationen für mehr Demokratie in Serbien, anders als wir es gewohnt sind, keine EU-Fähnchen zu sehen.

Stattdessen hört man dort desillusionierte Töne: Es hagelt Kritik. Denn Brüssel schweigt und umwirbt lieber die Spinne im Zentrum des korrupten Systems. Das ist kein Einzelfall. Die EU, so kann man nüchtern feststellen, wird vom rhetorischen Riesen schnell zum Zwerg, wenn es ans prinzipientreue Handeln geht. In Serbien, das in diesem Jahr die größten Proteste seit Jahrzehnten erlebt, hat die breite Bewegung gegen Vučić die EU mittlerweile abgehakt: Die Demonstranten betrachten unsere Union als scheinheiligen Winzling, der zwar angebliche Ideale vor sich herträgt, aber mit dem Autokraten dicke Geschäfte macht.

Es ist leicht, sich über die Heuchelei der EU zu echauffieren. Doch es ist auch ein echtes Dilemma: Isolieren die Europäer den serbischen Präsidenten, hat Vučić andere Freunde, die bereitstehen, um die Lücken zu füllen, Serbien fester an sich zu binden und ihren Einfluss zu vergrößern. Mehr Xi, mehr Orbán, mehr Putin möchte man auf dem Balkan aber wirklich nicht sehen.

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Siegt also der Pragmatismus über die Prinzipien? Kann man sich im brutalen Umfeld dieser Tage Ideale wirklich noch leisten? Oder ist es genau umgekehrt: Höhlen das Machtkalkül und die emotionslose Realpolitik all das aus, was Menschen für den europäischen Gedanken begeistern könnte? Vielleicht sollten die Parlamentarier in Straßburg das mal mit den Radfahrern besprechen. Und wer heute Abend in München ist, kann es sogar selbst tun.


Türkei im Krisenmodus

Seit mehr als drei Wochen sitzt der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu in Untersuchungshaft. Der Protest dagegen treibt Hunderttausende auf die Straße und reißt nicht ab – obwohl die Polizei hart gegen die Demonstranten vorgeht und Hunderte festgenommen hat. Im Kampf um den Machterhalt sind Sultan Recep Tayyip Erdoğan nahezu alle Mittel recht: Zuletzt diffamierte er die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP als "fleischgewordenen Faschismus" und erstattete Strafanzeige gegen ihren Vorsitzenden Özgür Özel, weil der die Regierung als "Junta" bezeichnet hatte.

Während die Bemühungen Deutschlands um eine Freilassung İmamoğlus überschaubar bleiben, wird heute in mehreren Verfahren gegen den Präsidentschaftskandidaten verhandelt: Unter anderem werden ihm Betrug bei Ausschreibungen und verbale Angriffe auf Personen im Kampf gegen Terror vorgeworfen. Bei einer Verurteilung drohen ihm Haftstrafen und ein politisches Betätigungsverbot. Nicht nur der deutsche Journalist Denis Yücel, der vor sieben Jahren selbst 367 Tage in türkischer Haft saß, stellt die Frage, ob in der Türkei "die letzten Reste von Demokratie auch noch geschliffen" werden und sich das Land "von einer Autokratie in eine Diktatur" wandelt.


Protest für Klimaschutz

Zwar will die schwarz-rote Bundesregierung in spe nach eigenem Bekunden an den deutschen Klimazielen festhalten. SPD-Chefin Saskia Esken kündigte bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags "massive Investitionen" in den Klimaschutz an. Trotzdem überwog bei der Präsentation der Eindruck, dass Wirtschaftswachstum künftig höhere Priorität genießt. Umweltverbände monieren den nun doch erst für 2038 vorgesehenen Kohleausstieg und den geplanten Ausbau der Gasinfrastruktur. Wenn die Klimaschutzbewegung Fridays for Future heute zum internationalen Klimastreik aufruft, will die deutsche Sektion den Protest daher als Reaktion auf die "fossile Rückschrittskoalition" verstanden wissen.


Die gute Nachricht

Eine halbe Million Deutsche erkrankt pro Jahr an Krebs, Tendenz steigend. Nun ist Ärzten ein medizinischer Durchbruch gelungen: Eine neue Therapie lässt den Krebs bei mehr als der Hälfte aller Patienten verschwinden. Meine Kollegin Lynn Zimmermann hat die Details.


Bild des Tages

Mein Lieblingsfrühlingsbild kommt aus der Wilhelma in Stuttgart: Dort blühen die Magnolien besonders prächtig. Welches ist Ihr liebster Anblick in diesem Frühjahr? Schicken Sie uns Ihr Foto an die E-Mail-Adresse t-online-newsletter@stroeer.de und wählen Sie den Betreff "Frühling". Die schönsten Bilder veröffentlichen wir bis Ostern im Tagesanbruch.


Ohrenschmaus

Heute wird der lässige Herbie Hancock lässige 85 Jahre alt. Wenn Sie diesen Song hören, haben Sie den ganzen Tag einen wunderbaren Ohrwurm.


Lesetipps

Humor kann Berge versetzen und politisches Packeis brechen. Leider ist er weltweit abhandengekommen. Unser Politikchef Christoph Schwennicke plädiert für die Renaissance einer einzigartigen menschlichen Fähigkeit.


Hat US-Präsident Trump einen gigantischen Aktienbetrug begangen? Sein jüngstes Zollmanöver legt den Verdacht nahe, wie mein Kollege Martin Küper berichtet.


In der russischen Armee kämpfen auch Chinesen gegen die Ukraine. Mein Kollege Patrick Diekmann beschreibt die gefährlichen Folgen für den Kriegsverlauf.


Die neue Regierung will Rentnern attraktive Zuverdienstmöglichkeiten bescheren. Meine Kolleginnen Sara Zinnecker und Christine Holthoff erklären, wie das funktionieren soll und wo der Haken ist.


Zum Schluss

Intensive Beratungen im Willy-Brandt-Haus.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Wochenausklang.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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