Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch "Das wird den Laden komplett zerlegen"
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Ampelkoalition ist Geschichte, aber ihre Nachbeben erschüttern noch immer die Politik. Auf den letzten Metern entfremden sich auch die verbliebenen Partner SPD und Grüne, auf ein geordnetes Verfahren zur Ukraine-Hilfe können sie sich nicht mehr verständigen: Weitere drei Milliarden Euro für Waffenkäufe soll das kriegszerrüttete Land eigentlich erhalten, im Haushaltsausschuss des Bundestags ließe sich die Summe wohl aufbringen. Die Schuldenbremse jedenfalls müsste dafür nicht angetastet werden. Eine Verständigung mit CDU und CSU ist denkbar, die Union signalisiert Verhandlungsbereitschaft.
Doch erst einmal bräuchte es einen Beschluss des Regierungskabinetts, und der kommt nicht. Kanzler Olaf Scholz zaudert, möglicherweise aus wahltaktischen Gründen und Bammel vor Kritikern der Waffenhilfe, und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock vermag ihn ebenso wenig umzustimmen wie andere Fürsprecher. So geschieht, was nicht geschehen sollte: Während die ukrainische Abwehrfront um Pokrowsk immer größere Löcher bekommt und Putins Raketen immer mehr Zivilisten töten, wird die nötige Hilfe für die Verteidiger wegen des Bundestagswahlkampfs auf die lange Bank geschoben. Das darf man erbärmlich nennen und obendrein beschämend für das wirtschaftsstärkste Land der EU.
Wobei das mit der Wirtschaft so eine Sache ist. Deutschland bleibt stark, vermögend, einflussreich, doch der ökonomische Motor stottert. Die Ampel hat die Kriegsfolgen nicht gut genug in den Griff bekommen, so ist die Wirtschaftspolitik zum wichtigsten Wahlkampfthema geworden. Unionskandidat Friedrich Merz würde wohl am liebsten über nichts anderes reden; er kündigt eine Kehrtwende an, wäre er nur erst Kanzler.
Das ausbleibende Wachstum, die Klagen von Firmen und der Druck der Umfragen setzen vor allem jenen Mann unter Druck, der qua Amt für die Wirtschaftspolitik zuständig ist: Robert Habeck versucht sich zwar im Wahlkampf als netter Nachbar zu inszenieren und spricht eloquent über die Gefahren des Populismus, die es zweifellos gibt: AfD-Chefin Alice Weidel keift auf TikTok und X wilde Parolen, verdreht historische Fakten und attackiert staatliche Institutionen. Widerspruch ist notwendig, und er kommt auch, von Scholz, von Merz, von Habeck.
Doch der Grünen-Anführer muss sich immer dringlicher rechtfertigen: nicht nur für seine unausgegorene Forderung, zur Finanzierung des Gesundheitswesens Sparer und Börsenanleger mit Sozialabgaben zu belasten. Nicht nur für die verschnupfte Reaktion führender Grüner auf Kritik an seinem Vorschlag. Sondern auch für die Regierungsentscheidungen der vergangenen drei Jahre – und es ist bemerkenswert, wie er dies tut.
Ich möchte seine Erklärungen nicht einfach wiedergeben, sondern Ihnen heute Morgen empfehlen, ihm selbst zuzuhören. Im Wahlkampf führen wir Interviews mit allen Spitzenkandidaten, und Robert Habeck hat zugestimmt, im Podcast mit uns zu sprechen. Das hat nicht nur den Vorteil, dass Sie unsere Fragen und seine Antworten im O-Ton hören können, sondern dass seine Äußerungen auch stehen bleiben: Gesagt ist gesagt, nachträglich gekürzt, gestrichen oder geschönt wird nichts.
Welche Fehler räumt Habeck also ein – im Kampf gegen die Wirtschaftskrise, beim Heizungsgesetz, generell in seiner Regierungszeit? Warum glaubt er, dass Markus Söder heftige Probleme hat und was war der Grund, dass er sich nach einer bedrohlichen Konfrontation mit aufgebrachten Protestierern nach einigem Zögern doch dazu entschied, im Amt zu bleiben, statt die Politik an den Nagel zu hängen? Darüber spricht Habeck freimütig im Podcast mit unserem politischen Reporter Johannes Bebermeier und mir. Hier können Sie das Gespräch exklusiv hören:
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In den Klauen der Seuche
Apropos Krisen und apropos grün: Der Ausbruch der Maul- und Klauenseuche in Brandenburg überschattet den heutigen Beginn der Internationalen Grünen Woche. Gehören auf der weltgrößten Messe für Ernährung, Landwirtschaft und Gartenbau normalerweise Ställe mit Rindern, Schafen, Ziegen und Alpakas zum Programm, so verzichten die Veranstalter in diesem Jahr auf Paarhufer. Denn für die ist die Viruserkrankung hoch ansteckend. Stattdessen sollen in der Tierhalle auf dem Berliner Messegelände Pferde im Fokus stehen. Agrarminister Cem Özdemir und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner eröffnen den Rummel, bei dem 1.400 Aussteller aus 60 Ländern mitmachen. Bis zum 26. Januar werden 300.000 Gäste erwartet.
Seit es vergangene Woche bei einer Wasserbüffelherde im Landkreis Märkisch-Oderland zum ersten Ausbruch der Seuche in Deutschland seit mehr als 35 Jahren kam, hat es zwar keine weiteren bestätigten Fälle mehr gegeben. Ein neuer Verdachtsfall wurde jedoch gestern aus dem Landkreis Barnim nördlich von Berlin gemeldet. Für die Bauern bedeuten die Eindämmungsmaßnahmen und die von einigen Ländern verhängten Einfuhrbeschränkungen für deutsches Fleisch einen gewaltigen Schaden: Der Verband der Fleischwirtschaft rechnet mit Einbußen im dreistelligen Millionenbereich. Nach der deutschen Industrie beginnt also auch die Landwirtschaft zu kriseln.
Tödliche Fehler?
Drei Menschen wurden getötet und acht weitere teils schwer verletzt, als am 23. August vergangenen Jahres ein 26-jähriger Syrer auf einem Solinger Stadtfest wahllos auf Menschen einstach. Der mutmaßlich von der Terrororganisation "Islamischer Staat" inspirierte Anschlag löste nicht nur landesweit Entsetzen aus. Sondern angesichts des Umstands, dass der Täter längst hätte abgeschoben sein sollen, auch eine Debatte über die Migrationspolitik.
Welche Fehler haben die Landesregierung und die Behörden in Nordrhein-Westfalen möglicherweise gemacht? Das soll ab heute ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss klären. Zu Beginn der Beweisaufnahme sind drei Sachverständige aus Rechts- und Politikwissenschaften geladen. Die in der Kritik stehende Flüchtlingsministerin Josefine Paul von den Grünen könnte am Montag erstmals als Zeugin vernommen werden.
Zahl des Tages
Dass in der deutschen Verwaltung etwas schiefläuft, zeigt auch der Fall des Attentäters vom Magdeburger Weihnachtsmarkt: Bevor der Mann aus Saudi-Arabien sechs Menschen tötete und mehr als 300 verletzte, hatte er sich nicht nur erkennbar radikalisiert. Nun kommt heraus: Er fiel den Behörden in mindestens sechs Bundesländern 110 Mal (!) aktenkundig auf. Das Bundeskriminalamt hat die Vorgänge aufgelistet: 14 Ermittlungsverfahren, 18 eigene Anzeigen mit wirren Vorwürfen, Wutanfälle und Drohungen gegen Richter, Staatsanwälte, den eigenen Rechtsanwalt. Zweimal wurde Taleb al-Abdulmohsen zudem verurteilt – zuletzt wegen Missbrauchs von Notrufen am Tag vor der Bluttat von Magdeburg.
Da ist was faul im Staate Deutschland. Die Innere Sicherheit muss schleunigst besser werden – Föderalismus hin, Datenschutz her.
Hoher Besuch
Die CDU-Zentrale erwartet hochrangigen Besuch: Kanzlerkandidat Friedrich Merz empfängt im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin konservative Staats- und Regierungschefs aus acht europäischen Ländern und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Gipfel der Europäischen Volkspartei. Im Mittelpunkt steht der Abbau der EU-Bürokratie; Merz will die Dokumentationspflichten für Firmen lockern. Das mag trocken klingen, wäre jedoch tatsächlich eine spürbare Entlastung der Wirtschaft. Markus Söder kommt übrigens auch. Mal sehen, ob er schmeichelt oder stichelt.
Ohrenschmaus
Seine Filme sind einzigartig: abgründig und verstörend, mitreißend und inspirierend, schrecklich-schön. Nun ist das Regiegenie David Lynch gestorben. Mit gerade mal 78 Jahren, das ist doch kein Alter. Als ich zum ersten Mal den Thriller "Lost Highway" sah, lief es mir kalt den Rücken runter. Nie werde ich Mephistos Blick vergessen. Zugleich ist mir die Filmmusik im Ohr geblieben. Etwa Lou Reeds heisere Eloge "The Magic Moment".
Lesetipps
Die Wahlumfragen verändern sich kaum, keine Partei legt richtig zu – warum eigentlich? Unser Politikchef Christoph Schwennicke hat die Antwort.
Olaf Scholz hält das nächste Waffenpaket für die Ukraine zurück. Damit stößt er sogar seine eigenen Leute vor den Kopf, schreibt unser Reporter Daniel Mützel.
Die AfD setzt im Bundestagswahlkampf auf eine perfide Werbestrategie. Experten bewerten sie als bewusst irreführend, berichten meine Kollegen Annika Leister und Stefan Steurenthaler.
Mit einer dringenden Warnung vor den Digitaloligarchen verabschiedet sich Joe Biden aus dem Weißen Haus. Der US-Präsident hat recht, meint unser Amerika-Korrespondent Bastian Brauns: Wenn Demokraten weltweit jetzt nicht handeln, ist es bald zu spät.
Zum Schluss
Bundestagswahlkampf 2025:
Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen Tag. Morgen früh melde ich mich mit einem weiteren Podcast-Gast bei Ihnen.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.