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Kriminalität: Nancy Faeser will Gesichtserkennung – geht die Ampel zu weit?


Tagesanbruch
Deutschland steht eine Revolution bevor

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 12.08.2024Lesedauer: 7 Min.
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Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): Neue Befugnisse für Ermittler. (Quelle: Marco Rauch/dpa/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

vor 22 Jahren entwarf Regisseur Steven Spielberg im Film "Minority Report" eine Welt ganz ohne Mord und Totschlag. Eine Polizeieinheit erahnt in dem Science-Fiction-Streifen Gewaltverbrechen, bevor sie begangen werden – die Verdächtigen werden kaltgestellt und verurteilt, noch bevor sie zu Tätern werden können.

Natürlich ist diese Welt nicht so heil, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Precrime-Chefermittler John Anderton, gespielt von Tom Cruise, erfährt das am eigenen Leib, als er fälschlicherweise unter Mordverdacht gerät. Fortan versucht er, sich dem Überwachungsstaat zu entziehen und seine Unschuld zu beweisen. Doch Kameras beherrschen den öffentlichen Raum, scannen Augäpfel und erfassen so Identitäten pausenlos in Echtzeit. Der verzweifelte Anderton lässt sich schließlich in einer siffigen Bude von einem ebenso siffigen Arzt die Augen entfernen und ersetzen, um Big Brother zu täuschen.

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Einiges von dem, was sich US-Autor Philip K. Dick bereits 1956 in einer Kurzgeschichte ausmalte und Spielberg für seinen Film mit einem Team von Wissenschaftlern ausbaute, ist heute zumindest in Ansätzen wahr geworden. In Staaten wie China oder Großbritannien überwachen im Namen der Sicherheit schon lange Millionen Kameras Bürger auf dem Weg zur Arbeit, beim Shopping, im Verkehr, beim Sport. Der Retina-Scan, der Anderton zur riskanten Augen-OP treibt, hat sich bisher zwar nicht durchgesetzt – dafür aber eine ihr eng verwandte Technologie mit demselben Ziel: die Gesichtserkennung.

Oft wird sie heute von Privatpersonen ganz freiwillig genutzt. Handys werden so entsperrt oder Fotoalben für Freunde in Sekunden zusammengestellt. Nun aber könnte Deutschland eine Revolution bevorstehen: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will Gesichtserkennungs-Software verstärkt für Bundeskriminalamt und Bundespolizei nutzbar machen. Fotos von Schwerverbrechern und Terroristen könnten so in Zukunft mit Fotos in den sozialen Netzen abgeglichen werden, ihre Aufenthaltsorte sollen so leichter ausfindig gemacht werden. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist auf dem Weg, wie ein Sprecher des Ministeriums gerade auf einen Bericht des "Spiegel" hin bestätigte.

In der Ampelkoalition aber zeichnet sich Widerstand ab: Sicherheitsexperten von Grünen wie der FDP warnen vor einem erheblichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Wieder einmal also droht Streit in der ohnehin so zerstrittenen Koalition. Dieses Mal allerdings könnte das für die Bürger tatsächlich von Nutzen sein. Denn die Auseinandersetzung dürfte zu genauer Kontrolle und einem Vorgehen mit Maß führen, zu einer Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Und darauf kommt es auf dem umstrittenen und komplizierten Feld vor allem anderen an.

Beide Seiten nämlich haben gute Argumente – und eindrückliche Praxisbeispiele, die für ihre Positionen sprechen. Faeser kann auf Terroristen verweisen, die ihre Propaganda zunehmend im Netz verbreiten, bevor sie zur Tat schreiten. Sie wären dank der neuen Werkzeuge sehr viel leichter aufzuspüren. Schon jetzt dient der Ministerin dabei ein Fall aus jüngster Zeit als Beispiel, bei dem die deutschen Ermittler gelinde gesagt wie Hanswurst dastanden: der Fall Daniela Klette.

Die RAF-Terroristin war jahrzehntelang unter falschem Namen untergetaucht. Während sie Gold und Geld, Panzerfaustgranaten und Maschinengewehre in ihrer Berliner Wohnung hortete, führte sie ein recht normales Leben, tanzte Capoeira und besuchte Feste wie den Karneval der Kulturen. Journalisten hatten Klette im Zuge von Recherchen für einen Podcast über die umstrittene Gesichtserkennungs-Software Pimeyes und Fotos in den sozialen Netzwerken bereits Monate vor den Ermittlern ausfindig gemacht. Klettes Festnahme wurde zwar dennoch als Erfolg gefeiert, der Wermutstropfen aber blieb: Mit einem Abo bei Pimeyes hätte das jeder Privatbürger wohl schon früher schaffen können. Peinlich, peinlich.

Es ist nicht so, dass Ermittler in Deutschland Gesichtserkennung gar nicht einsetzen dürfen. Das muss hier erwähnt werden, in den Meldungen zu Faesers Vorschlag geht das allzu oft unter und wird die angebliche Hanswurstigkeit der deutschen Polizei so überzeichnet. Das Bundeskriminalamt verwendet bereits seit 2008 Gesichtserkennungssoftware, kurz GES. Fotos von Verdächtigen werden dabei mit 7,2 Millionen Fotos aus dem Bestand aller Polizeidienststellen abgeglichen. Knapp 120.000 solcher Recherchen gab es 2023 laut BKA, knapp 4.000 Personen wurden so identifiziert.

Außerhalb der eigenen Datensammlungen aber, in den Weiten des Internets und der sozialen Netzwerke zum Beispiel, sind den Ermittlern aufgrund der strengen Rechtslage oft die Hände gebunden. Was Plattformen wie Pimeyes können, dürfen sie häufig nicht. Dass sich hieran etwas ändert, ist angesichts einer ständig wachsenden Bedrohungslage sinnvoll und zeitgemäß.

Wie viel aber soll sich ändern, wie sehr sollen solche Programme in Zukunft für die Polizei arbeiten dürfen? Hier greifen viele Argumente der Kritiker. Schließlich werden Massen an Daten von den Behörden durchforstet, mehrheitlich völlig unbescholtene Bürger durch das System gejagt. Sie können bei einem Fehler der Software rasch ins Visier der Ermittler geraten.

Der 31-jährige David P. zum Beispiel wurde so 2023 von der österreichischen Polizei zum Chef einer Falschgeldbande erklärt, per internationalem Haftbefehl gesucht und auf einer Reise nach Serbien zwei Monate lang in Untersuchungshaft gesteckt. Das Problem: David P. war unschuldig. Das Überwachungsvideo einer Supermarkt-Kamera, das ihm zur Last gelegt und unter anderem von der Gesichtserkennungssoftware geprüft wurde, zeigte in Wirklichkeit jemand anderen.

Das zeigt eindrücklich: Auch die Software irrt – mit verheerenden Folgen. Sie ist in der Regel ebenso fehlerhaft wie der Mensch, der sie programmiert. Weiß und männlich sind diese Programmierer oft – und ihre Software ist geeicht und trainiert vor allem auf das Erkennen von weißen und männlichen Personen. Bei Frauen ist ihre Genauigkeit geringer, bei nicht weißen Personen ist sie noch schlechter. Rassistische und sexistische Fehler: programmiert.

Es dürfte ein hartes Ringen werden in der Ampelkoalition, um jeden Millimeter Befugnis gestritten werden. Dieser Kampf aber ist es wert. Ihn vorausahnend, hat Faeser eines der umstrittensten Einsatzgebiete bereits ausgeschlossen: Eine Überwachung in Echtzeit soll es nicht geben. Zumindest eine dystopische Flucht à la John Anderton ist damit bereits ausgeschlossen.


Kriege und Grenzen

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Wie weit muss, wie weit darf man gehen? Das sind gerade auch die zentralen Fragen im Gaza- wie dem Ukraine-Krieg. In einem Telefonat mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drang Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag darauf, ein Abkommen mit den Terroristen der Hamas abzuschließen. Das Ziel: die Freilassung der israelischen Geiseln sowie ein Waffenstillstand und damit eine Deeskalation der Lage in Nahost.

Die Sorge vor einem Flächenbrand in der Region ist zurzeit groß. Nach der Tötung von zwei führenden Köpfen der Hamas haben der Iran und die libanesische Terrororganisation Hisbollah massive Vergeltungsschläge gegen Israel angekündigt. Weiter angeheizt wird das durch einen Luftangriff Israels auf ein Schulgebäude in Gaza am Samstag, bei dem nach Angaben des von der Hamas kontrollierten palästinensischen Zivilschutzes mindestens 93 Menschen starben. Aus Gaza heißt es, das Gebäude sei als Flüchtlingsunterkunft genutzt worden – Israel wiederum betont, in dem Komplex habe sich eine Kommandozentrale der Hamas befunden.

Um mehr Befugnisse in seinem Kampf gegen Putins Armee bittet derweil der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das von Russland angegriffene Land setzt Moskau gerade mit einer Offensive seiner Truppen auf russischem Territorium unter Druck. Nun will Selenskyj westliche Waffen mit größerer Reichweite auf dem Gebiet des Nachbarn einsetzen. Russland habe auch keine Einschränkungen für den Einsatz seiner Raketen, argumentiert er. Dasselbe müsse für die Ukraine gelten.

Die Diskussionen werden in den kommenden Tagen weitergehen. Im Krieg in Nahost soll es am Donnerstag eine Gesprächsrunde in Kairo oder Doha geben, die für den weiteren Verlauf entscheidend sein könnte.


Was steht an?

Debatte ums Geld: Die Kontroverse um den Bundeshaushalt 2025 ist wieder aufgeflammt. Die Ampelkoalitionäre haben angekündigt, alle Unklarheiten bis Mitte August beseitigen zu wollen. In der Regierungs-Pressekonferenz um 11.30 Uhr dürfte es deswegen unter anderem ums liebe Geld gehen.

Wichtiger Jahrestag: Die Genfer Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsopfer wurden vor 75 Jahren unterzeichnet. Diese "Genfer Konventionen" sind Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts.

Prozess hinter verschlossenen Türen: In Essen beginnt am Montagmittag ein Prozess, in dem vier 14 bis 15 Jahre alte Jugendliche angeklagt sind. Sie sollen im Februar 2024 in Oberhausen zwei ukrainische Nachwuchs-Basketballer erstochen haben. Die Anklage lautet auf gemeinschaftlichen Mord. Aufgrund des Alters der Angeklagten ist der Prozess nicht öffentlich.


Lesetipps

Der Menschenrechtler Oleg Orlow saß wegen seiner Kritik am Ukraine-Krieg in Russland in Haft. Vor einigen Tagen kam er im Rahmen des großen Gefangenenaustauschs mit Russland frei. Mein Kollege David Schafbuch hat ihn in Berlin getroffen.

US-Vizepräsidentin Kamala Harris holt in Umfragen auf und kann Donald Trump teilweise sogar überholen. Wie reagiert Trump? Mein Kollege Patrick Diekmann hat mit dem US-Experten Josef Braml gesprochen.

SPD-Spitzenkandidatin Petra Köpping kämpft in Sachsen für das Überleben ihrer Partei. Sie muss sich dabei unbequeme Fragen stellen – und politische Risiken eingehen. Mein Kollege Daniel Mützel hat sie begleitet.

Von der Eröffnungs- bis zur Abschlussfeier: Frankreich hat die Olympischen Spiele in Paris gigantisch inszeniert. Muss Deutschland die vergleichsweise blasse Fußball-EM im Nachhinein peinlich sein? Darüber streiten Robert Hiersemann und Florian Wichert im "Zweikampf der Woche".


Ohrenschmaus

Aufenthaltsverbote, Ausgangssperren und Festnahmen am laufenden Band: In den 60er-Jahren ging die Polizei in Los Angeles auf dem Sunset Strip mit Härte gegen Jugend, Rockfans und Hippies vor. Stephen Stills schrieb in dieser Phase für seine Band Buffalo Springfield einen Klassiker, den Sie hier hören können.


Zum Schluss

Nach etwas mehr als zwei Wochen sind die Olympischen Spiele in Paris beendet. Was bleibt?

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.

Herzlich

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
X: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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