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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Freigelassener Gefangener "Dann wäre Russland eine Zeitbombe"
Oleg Orlow saß seit Februar in einem russischen Gefängnis, weil er den Ukraine-Krieg kritisiert hatte. Wie hat der Menschenrechtsaktivist die Zeit seitdem erlebt und was macht er jetzt, nachdem er wieder in Freiheit ist?
Es ist noch gar nicht lange her, da wäre Oleg Orlows Weg in die Freiheit undenkbar gewesen. Erst im vergangenen Februar wurde der Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe wegen Kritik am Ukraine-Krieg verurteilt. Seine Organisation, die sich seit Jahrzehnten in Russland für Menschenrechte einsetzt und gegen Repressionen kämpft, war in seiner Heimat bereits verboten worden.
Im Ausland erhielt Memorial dagegen 2022 den Friedensnobelpreis – und Orlow selbst kam Anfang des Monats zusammen mit 15 anderen Gefangenen unerwartet aus Russland frei. An seiner Überzeugung, sich gegen den Krieg und das russische Regime von Wladimir Putin einsetzen zu müssen, hat seine Zeit in Haft nichts geändert. Das wird bei dem Interview, das t-online mit Orlow in Berlin führen konnte, schnell deutlich: Orlow nennt in dem Gespräch Putin und seine Gefolgsleute etwa nicht Politiker, sondern Terroristen.
t-online: Können Sie die Zeit von Ihrer Haft in Russland bis zu ihrer Landung in Deutschland grob nachzeichnen?
Oleg Orlow: Ich wurde am 23. Juli in das Büro der Gefängnisleitung in Sysran gerufen. Dort wurde mir angeboten, ein Begnadigungsgesuch an den russischen Präsidenten Waldimir Putin zu schreiben. Die genaueren Umstände wurden mir nicht erklärt. Es hieß nur: Wenn ich dieses Gesuch unterschreibe, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich freigelassen werden.
Das haben Sie abgelehnt …
… weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Ich akzeptiere das Urteil gegen mich nicht und Putin ist für mich kein legitimer Präsident. Ich dachte danach: Okay, das war's für mich. Jetzt bringen sie mich in ein anderes Straflager.
Wie ging es dann weiter?
Am 28. Juli kamen sehr früh am Morgen mehrere Leute in meine Zelle. Sie sagten mir, ich solle meine Sachen packen, weil ich jetzt gehen werde. Ich habe gefragt, ob sie mich jetzt in ein anderes Lager bringen. Es hieß dann, dass ich nur in eine andere Zelle müsse. Doch das stimmte nicht: Sie brachten mich in einen Durchsuchungsraum und anschließend zum Flughafen nach Samara. Da kam mir der Gedanke, dass ich vermutlich nach Moskau geflogen werde.
Zur Person
Oleg Orlow, geboren 1953 in Moskau, ist einer der bekanntesten russischen Menschenrechtsaktivisten. Ende der Achtzigerjahre gründete er mit weiteren Mitstreitern die Nichtregierungsorganisation Memorial, die 2021 in Russland verboten wurde. Orlow wurde wegen Kritik am russischen Krieg in der Ukraine im vergangenen Februar zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Rahmen des großen Gefangenenaustauschs wurde er Anfang August mit 15 weiteren Häftlingen aus Russland und Belarus freigelassen.
So kam es dann auch: In Moskau saßen Sie in dem Gefängnis Lefortowo.
Auch dort hatte ich keine Ahnung, wie es weitergeht. Es war eine komplette Ungewissheit. Erst am 1. August erhielt ich ein Dokument, in dem stand, dass ich begnadigt wurde. Da wurde mir bewusst: Es wird einen Austausch geben. 20 Minuten später saß ich schon in einem Bus, der mich und die anderen Gefangenen zum Flughafen brachte. Von der Türkei ging es dann nach Deutschland.
Der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, der ebenfalls ausgetauscht wurde, sagte anschließend, dass anstelle von ihm andere Leute hätten freigelassen werden müssen. Hatten Sie auch solche Gedanken?
Es hätten andere Leute an meiner Stelle freikommen müssen. Es hätten diejenigen sein müssen, die krank sind.
Fühlen Sie sich deswegen schuldig?
Ich kann keine Schuld empfinden, weil ich gar nicht gefragt wurde. Ich würde mich schuldig fühlen, wenn ich eine Wahl gehabt hätte – etwa, wenn sie gesagt hätten: Du kommst frei, aber Alexej Gorinow muss dafür weiter in Haft bleiben.
Der Lokalpolitiker wurde wie Sie wegen Kritik am Ukraine-Krieg verurteilt. Er sitzt weiter in Haft und hatte schon vor seiner Verurteilung gesundheitliche Probleme: Ihm fehlt ein Teil seiner Lunge.
Mir wurde von ihm ausgerichtet, dass er sich über unsere Freilassung sehr freue.
Von den anderen, die mit Ihnen freigekommen sind, hört man mitunter, dass sie nicht von einer Freilassung, sondern von einer Ausweisung sprechen. Welcher Begriff ist für Sie passender?
Aus Sicht der Bundesregierung und des Kanzlers Olaf Scholz ist das ganz sicher eine Freilassung. Aus russischer Sicht ist das natürlich eine Ausweisung. Ich kann mich für keinen der Begriffe entscheiden. Ich lebe jetzt jedenfalls in Freiheit.
Die Bundesregierung hat gesagt, dass sie sich die Entscheidung für diesen Austausch sehr schwer gemacht habe. Wie empfinden Sie es, gegen Leute wie den lebenslang verurteilten Mörder Wadim Krassikow ausgetauscht worden zu sein?
Dafür muss man mehrere Dinge beachten. Krassikow wurde nicht gegen uns – also die politischen Gefangenen aus Russland – ausgetauscht. Die Hauptpersonen, um die es in diesem Austausch ging, waren Staatsbürger aus den USA und Deutschland, etwa der Mann, der in Belarus zum Tode verurteilt wurde (Rico Krieger, Anm. d. Red). An diesen Zug wurden weitere Wagons angekoppelt – und ich bin einer davon.
Ihre Freilassung sehen Sie also nur als eine Art Beifang?
Russland hat ganz bewusst Geiseln genommen. Dazu zählen die Deutschen oder der Amerikaner Evan Gershkovich. Und der Austausch von Geiseln mit einem Mörder ist eine ganz übliche Gangart, wenn man mit Terroristen verhandelt. Wir wurden mitbefreit. Die Behauptung, dass die einen Russen gegen die anderen Russen ausgetauscht wurden, entspricht so gesehen nicht den Fakten.
Es gibt in Deutschland die Befürchtung, dass der Kreml durch den Austausch darin bestärkt wird, weitere Angriffe auf Menschen außerhalb Russlands anzuordnen. Halten Sie das für denkbar?
Jeder Austausch birgt diese Gefahr. Ich habe 1995 selbst in Tschetschenien über die Freilassung von 1.500 Geiseln verhandelt. Dafür sind dann Terroristen entkommen. Es bleibt immer eine moralische Frage: Hätten wir diese Menschen lieber sterben lassen sollen? Was wäre in Deutschland passiert, wenn einer Ihrer Bürger in Belarus hingerichtet wird? Die deutsche Gesellschaft muss das für sich beantworten. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich so ein großes moralisches Dilemma ist.
Sie haben angekündigt, Ihre Arbeit für die Menschrechtsorganisation Memorial nach Ihrer Freilassung weiter fortzusetzen. Unter anderem warnen Sie, dass Russland bei einem Sieg über die Ukraine eine Bedrohung für ganz Europa wäre. Umgekehrt gefragt: Kann das russische Regime durch eine Niederlage zerbrechen?
Wenn Russland verliert, kann das natürlich Putins Regime stürzen. Bis jetzt zeichnet sich ein solches Szenario aber nicht ab. Der Sieg Russlands wird aber definitiv Europa bedrohen. Dann wäre Russland eine Zeitbombe.
Wie können Deutschland und andere Staaten die Ukraine aus Ihrer Sicht am besten helfen?
Es braucht einfach mehr von dem, was bisher bereits getan wurde. Die Ukraine muss unterstützt werden, auch militärisch. Putins Regime hat eine große Schwäche: den Mangel an Soldaten. Das sehen wir bereits an der Front. Es gibt nicht genügend Freiwillige, obwohl ihnen mittlerweile sehr viel Geld angeboten wird. Deswegen wird weiter in den Gefängnissen nach Soldaten gesucht.
Auch Sie wurden gefragt, ob Sie nicht lieber als Soldat kämpfen wollten.
Jeder Häftling wird gefragt, ob er nicht an die Front will. Aber selbst dort verringert sich die Zahl der Freiwilligen. Wir wissen mittlerweile sehr genau, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass ein Häftling an der Front ums Leben kommt. Eine neue Mobilmachung würde aber sehr viel Unzufriedenheit in Russland auslösen. Deshalb wäre es gerade jetzt wichtig, die Militärhilfen für die Ukraine zu stärken. Das würde Putin besonders schaden.
Sie sehen in Ihrem Austausch also kein Zeichen dafür, dass Putin mittlerweile offener für Verhandlungen oder einen Waffenstillstand in der Ukraine ist?
Ich finde, diese Dinge hängen überhaupt nicht miteinander zusammen. Das Verhandeln über die Freilassung von Geiseln mit Terroristen ist die eine Sache. Aber das bedeutet nicht, dass man mit denselben Leuten über die Zukunft zweier Länder sprechen sollte.
Herr Orlow, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Oleg Orlow