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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sachsens Sozialministerin Petra Köpping Die Unbeugsame
Petra Köpping kämpft in Sachsen für das Überleben der Sozialdemokratie. Die SPD-Spitzenkandidatin muss sich dabei unbequeme Fragen stellen – und politische Risiken eingehen. Was treibt sie an?
An einem Montag, wenige Wochen vor der vielleicht wichtigsten Wahl ihrer Laufbahn, steht Petra Köpping in einem Seniorenheim in Chemnitz. An hellen Holztischen sitzen Omas und Opas in Sonntagskleidung, alle mit Namensschildchen, Foto und einem gelben Smiley-Sticker mit der Aufschrift "Ich bin glücklich, hier zu sein."
Sachsens Sozial- und Gesundheitsministerin stellt sich mit breitem Lächeln vor, wird aber von einer Seniorin aus den hinteren Reihen unterbrochen: "Ich kenne Sie aus dem Fernsehen!" Köpping lächelt jetzt noch mehr. Für die SPD-Politikerin ist es ein Heimspiel. Nicht nur, weil Rentner eine wichtige Wählergruppe der Sozialdemokraten sind, sondern weil Köpping das eben ziemlich gut kann: mit den Leuten reden, sie für sich einnehmen.
Einer, der das nicht so gut kann, steht etwas angespannt neben ihr: Prof. Dr. Karl Lauterbach, Bundesminister für Gesundheit. Der Besucher aus Berlin weiß nicht so recht, wohin mit seinen Händen, und konzentriert sich darauf, interessiert zu gucken.
Eine Seniorin klagt über die steigenden Preise und darüber, dass das Leben härter geworden sei. Früher habe man beispielsweise noch mit zum Einkaufen gedurft, heute gehe das nicht mehr, Fahrermangel. "Das war immer so schön, da konnte man mal was sehen", sagt sie. Lauterbach steht da und bekommt fast kein Wort heraus. Das macht auch nichts, der Bundesminister ist hier nur Staffage. Ein bekanntes Gesicht, ein Mächtiger aus Berlin, mehr muss man nicht wissen. Es ist Köppings Show.
Die Staatsministerin trägt ein sommerliches, beige-braunes Shirt und eine Hose im gleichen Farbton. Sie strahlt und lässt den Besucher aus dem Bund wissen, dass das hier ihr Terrain ist. "Die Tagespflege in Sachsen ist aufgrund der gestiegenen Kosten ein Riesenproblem, lieber Karl", sagt sie zum Beispiel. Übersetzt: Hör' gut zu, Karl, so läuft das hier bei uns.
Lauterbach versucht mitzuhalten, es will aber nicht so recht klappen. "Als Universitätsprofessor" damals in den 90ern habe er Leute aus dem Osten eingestellt, erzählt er. "Weil es hier ja nichts gab." Es wirkt ein wenig, als berichte der Gelehrte aus dem Westen von seinem Erstkontakt mit Ostdeutschen, die er in der Not bei sich aufnahm. In die Herzen der Menschen katapultiert er sich damit wohl nicht.
Für Köpping hingegen könnte es nicht besser laufen: Je weiter weg Lauterbach wirkt, desto näher wirkt sie. Die Strategie geht auf, ein Punktsieg für Köpping.
Überlebt die Sozialdemokratie in Sachsen?
Doch die Sozialdemokratie in Sachsen braucht mehr als Punktsiege. Sie muss überleben. Seit 2017 regiert sie nun als Juniorpartner zusammen mit der CDU, 2019 kamen die Grünen dazu. Profitieren konnte die SPD unter der Kenia-Koalition von Ministerpräsident Michael Kretschmer kaum, zumindest nicht, was ihre Beliebtheit angeht: Seit Jahren krebst die Partei bei sieben Prozent, Tendenz fallend. Die aktuellste Umfrage Juni sieht sie bei nur noch sechs Prozent.
Für die Spitzenkandidatin Petra Köpping ist es der vielleicht wichtigste Kampf ihrer politischen Karriere. Landet die SPD unter der Fünfprozenthürde und fliegt aus dem Landtag, wäre das eine historische Zäsur: das bevölkerungsreichste Bundesland in Ostdeutschland ohne Sozialdemokraten im Parlament. Ein politisches Erdbeben wäre die Folge.
Aber selbst wenn die SPD es schafft, ihre 7 Prozent von der Wahl 2019 zu halten, wird es nicht einfach. Die Machtoptionen im Freistaat werden kompliziert: Die AfD, die in Sachsen als gesichert rechtsextrem gilt, könnte laut Umfragen mit 30 Prozent zweitstärkste Kraft werden. Um eine AfD-Regierung zu verhindern, könnte die CDU, sie liegt derzeit bei 34 Prozent, ein Bündnis mit der Wagenknecht-Partei BSW schmieden, die im Moment auf 11 Prozent kommt. Rein rechnerisch käme eine CDU-BSW-Koalition derzeit auf eine hauchdünne Mehrheit.
Im schlimmsten Fall würde die SPD nicht mehr gebraucht werden oder sie könnte gezwungen sein, in eine Regierung mit der CDU und dem komplett unerfahrenen Newcomer BSW zu gehen. Beides nicht sonderlich attraktiv.
Kompliziertes Verhältnis zu Kretschmer
Mit dem Regierungschef der CDU, Michael Kretschmer, verbindet Köpping ein kompliziertes Verhältnis. Man sei sich "im Ziel einig", aber nicht im Weg dorthin, sagt sie. Inhaltlich gebe es für die SPD-Politikerin natürlich zahlreiche Gründe, sich stärker von ihm abzusetzen: Kretschmers außenpolitische Irrlichterei oder der gezielt eingesetzte Anti-Ampel-Populismus passen der sächsischen SPD überhaupt nicht.
Aber Köpping braucht Kretschmer, um regieren zu können. Der innere Zwiespalt führt naturgemäß zu Verrenkungen. Mal unterstützt sie ihn, wie bei der Schuldenbremse, mal geht sie auf Konfrontationskurs, wie beim Cannabisgesetz. Ansonsten versucht Köpping, den Widerspruch humorvoll aufzulösen: Hier eine Spitze, da ein Spruch – aber insgesamt ist sie eine Stütze seiner Macht.
Diese eigentümliche Dynamik zwischen den beiden zieht sich auch durch den Wahlkampf. Auf die Spitze getrieben hat es die SPD selbst, mit einem Wahlplakat, das es in Deutschland womöglich so noch nicht gab.
"Hinter dem Erfolg von diesem Mann, steckt eine Frau, die es kann" steht auf einem Plakat, das die SPD Ende Juli zum Kampagnenstart enthüllte. Die Botschaft: Die Sozialdemokratie ist ein Stabilitätsanker der Kretschmer-Regierung. Wer den CDU-Mann im Amt halten will, muss SPD wählen. Oder so?
Dass die Kampagne tatsächlich einige Wechselwähler überzeugen kann, darf bezweifelt werden. Nur dreimal wurde das Plakat überhaupt geklebt, heißt es im Herbert-Wehner-Haus, der Parteizentrale in Dresden: jeweils eines in Dresden, Leipzig und Chemnitz. Es ist wohl eher eine Botschaft mit Augenzwinkern und zugleich eine Charmeoffensive Richtung Kretschmer. Nach dem Motto: Der Regierungschef soll nach der Wahl mal nicht vergessen, wer ihm sieben Jahre lang die Stange gehalten hat.
"Nur über meine Leiche"
Mitte Mai, ein Termin im "Inklusiven Nachbarschaftsforum" in Leipzig. Köpping sitzt im Stuhlkreis mit rund einem Dutzend Frauen, die sich gegen häusliche Gewalt oder für die Rechte von queeren Geflüchteten einsetzen. Es gibt belegte Brötchen mit Cocktail-Tomaten und Gurken, dazu Kaffee und Saft.
Die Vereinsvertreterinnen klagen über fehlende Stellen im Sozialbereich, zu geringe Fördermittel und die dräuende Angst, dass eine erstarkende AfD ihre parlamentarische Macht nutzen wird, um ihr unliebsame Projekte zu stoppen.
Es geht auch um logistische Fragen. Köpping will, dass sich die Organisationen zusammenschließen. Manche Vereine seien so klein und spezialisiert, dass Betroffene gar nicht wüssten, dass es sie gibt. Bei den Frauen kommt das nicht so gut an, sie wollen lieber eigenständig bleiben. Es geht hin und her, "da muss ich noch mal einhaken", sagt Köpping, wenn sie anderer Meinung ist, oder "da möchte ich gegenhalten".
Eigentlich hätte Köpping hier leichtes Spiel: Sie könnte sich als progressive Sozialministerin inszenieren, Empathie zeigen für die wichtige Arbeit der Frauen und ansonsten dem Koalitionspartner CDU die Schuld geben, dass der mit Fördermitteln geizt.
Aber sie ist hier, um den Frauen ihre Kooperationsidee nahezulegen. Weil sie fest daran glaubt, dass es so in der Praxis besser funktionieren wird: "Ich bin der Typ, der von unten denkt", sagt sie. In einem anderen Punkt verspricht Köpping den Frauen hingegen uneingeschränkte Solidarität. Eine Kürzungswelle im Sozialen nach der Wahl im September werde es mit ihr nicht geben. "Nur über meine Leiche."
"Sie mag Menschen"
Wer Köpping eine Zeit lang beobachtet, weiß: Kommunikation ist nicht ihre Baustelle. Ihre direkte Art, ihre Schlagfertigkeit, die Fähigkeit, einen Raum einzunehmen, sind ein politisches Pfund, das sie bewusst einsetzt. Vor allem spürt man, was Parteigenossen und Wegbegleiter über sie sagen: Dass Köpping das wirklich gerne macht, mit den Leuten reden, dass sie sich ernsthaft dafür interessiert, was die ihr erzählen. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sagt t-online, Köpping besitze eine "Zugewandtheit zu Menschen", die selten anzutreffen sei in der Politik. "Sie mag Menschen und geht auch dorthin, wo es unbequem ist."
Das Problem von Petra Köpping ist ein anderes: Ihre SPD bekommt nicht das, was sie ihrer Ansicht nach verdient. Seit Jahren steckt die Partei im Umfragekeller, auch wenn sie im Sozialbereich durchaus etwas vorzuweisen hat. Sie hat die Jugendhilfe gestärkt, für mehr Schulsozialarbeiter gesorgt, Krankenhäuser in wirtschaftlicher Notlage gefördert, die Bildungsmisere zur Chefinnensache gemacht und im Zweifel – wie beim Cannabis-Gesetz oder der Krankenhausreform – auch mal Streit mit ihren Berliner SPD-Kollegen riskiert.
Auch persönlich sei sie dabei an ihre Grenzen gegangen, sagt sie: Habe den Kopf in der Corona-Krise hingehalten, habe unbequeme Entscheidungen des Kabinetts umsetzen müssen und sei dafür von fackeltragenden Neonazis auf ihrem Grundstück bedroht worden.
Nichts scheint zu zünden
Aber irgendwie scheint nichts zu zünden. Weder die 30 Milliarden Euro aus dem Bund, die demnächst in Forschungseinrichtungen, die Chipindustrie und den neuen Bundeswehrstandort im Landkreis Bautzen fließen sollen. Noch ihre wohlklingenden Wahlversprechen, angefangen bei der Forderung nach einem höheren Mindestlohn, über die Verteidigung der Rente mit 63 bis hin zum "Sachsenfonds 2025", der Milliarden in Schulen, Krankenhäuser und Pflege pumpen soll.
Köpping findet das unfair. Der Sieben-Prozent-Sockel, auf dem die SPD seit Jahren klebt, bilde nicht das ab, was sie in den letzten Jahren alles für Sachsen erreicht habe, sagt sie. Köpping weiß natürlich, dass die Probleme im Freistaat tiefer reichen: eine noch immer große Ungleichheit bei Renten und Löhnen im Vergleich zum Westen, die Demografiefalle und damit verbundene Abstiegsängste, fehlende Fachkräfte, die Erosion der Mitte, ein struktureller Vertrauensverlust in die Politik – das alles schürt ein gefährliches Protestgemisch, von dem vor allem die AfD profitiert. Hinzu kommt: Der Frust auf die Ampelregierung ist fast nirgendwo so groß wie in Sachsen.
"Wir haben schon viele Reformen hinter uns, Karl"
Köpping kennt den Befund aus erster Hand. Ihr Buch "Integriert doch erstmal uns! Eine Streitschrift für den Osten" aus dem Jahr 2018 ist eine bewegende Erzählung über das Gefühl vieler Ostdeutscher, noch immer nicht angekommen zu sein. Die lebenslangen Narben aus der Nachwendezeit, der Transformationsdruck der 90er, die biografischen Brüche: Köpping versucht, diese Erfahrung immer wieder in die politische Debatte einzuspeisen, weil sie sonst vergessen wird.
Beispielhaft zeigt sich das bei dem Termin mit Lauterbach in dem Chemnitzer Seniorenheim am Montag. Köpping ermahnt ihren Parteifreund im Zuge seiner Krankenhausreform, die weniger regionale Kliniken vorsieht und die Lauterbach auch gerne "Revolution" nennt: "Wir haben schon viele Reformen hinter uns, Karl", sagt Köpping. "Wir sprechen hier lieber von Spezialisierung."
Könnte sie etwas besser machen?
Doch obwohl sie die strukturellen Probleme in Sachsen kennt wie kaum eine Zweite, und die SPD mit zwei Ressorts in einer CDU-geführten Landesregierung kaum Berge versetzen kann, lässt ihr eine Frage keine Ruhe. Könnte sie etwas besser machen?
Vor einiger Zeit habe sie auch mal den Boris gefragt, "warum unsere Politik nicht bei den Menschen ankommt", erzählt sie. Pistorius ist wie Köpping in der Kommunalpolitik verwurzelt, war erst Oberbürgermeister von Osnabrück, dann Innenminister in Niedersachsen, das lange fest in sozialdemokratischer Hand war. Doch auch der Bundesverteidigungsminister hatte kein Patentrezept.
"Ich brauche den Kontakt zu den Menschen"
Die beiden kennen sich gut. 2019 wollte sie mit Pistorius die Parteispitze übernehmen. Die SPD suchte damals neue Vorsitzende und ließ die Bewerber auf zahllosen Regionalkonferenzen gegeneinander antreten. Eine "Ochsentour", wie Köpping heute sagt.
Am Ende landete das Duo Köpping-Pistorius auf Platz fünf von sechs, auch wenn sie nur wenige Prozentpunkte von den Siegern Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans trennten. "Ich glaube, Boris wollte gewinnen. Aber meine Priorität war es nicht", sagt Köpping. Sie habe bei diesem "westdeutsch geprägten Rennen" den Osten vertreten wollen und auch ein wenig mit ihrem sächsischen Dialekt "aufmischen" wollen, erzählt sie lachend.
Die Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den Schaltstellen der Macht ist eines von Köppings großen Themen. Als die Ampel 2021 ihr Kabinett bildete, wurde ihr Name häufiger im Zusammenhang mit dem Gesundheitsministerium genannt. Doch Köpping lehnte damals ab. "Ich brauche den Kontakt zu den Menschen, als Bundesministerin hat man den nicht so", begründet sie heute ihre Entscheidung.
Schaue man in ihre Fahrtenbücher, sehe man, dass kein Kabinettsmitglied so viel unterwegs sei wie sie. Sie wolle "nah dran sein" an den Leuten, nur so könne sie Politik machen, sagt sie.
Manchmal, wenn sie "graue Stunden" habe, fahre sie durch Großpösna und das Leipziger Umland, wo sie zweimal Bürgermeisterin war und Landrätin war. Einfach so, um sich zu vergewissern, "was wir alles geschafft haben". Etwa das Rittergut in Großpösna, das verfallen war, aber 2008 grundsaniert wurde. Oder die schwimmende Kirche Vineta, die seit 2010 im Störmthaler See treibt. "Das war nicht nur ich, das waren die Menschen, die Bürgermeister, die Helfer vor Ort", sagt Köpping. Allzu oft werde vergessen, wie viel sich zum Guten verändert habe und wie schön Sachsens Städte und Gemeinden heute seien, sagt sie.
Verzweiflung an der Ampel
Die Umfrage vom Freitag hat in Dresden für etwas Erleichterung gesorgt. Plötzlich könnte es reichen für eine Fortsetzung der Kenia-Koalition. Aber sicher ist das nicht, es wird ein knappes Rennen.
Sollte es nicht für Schwarz-Rot-Grün reichen, hat die SPD nur dann eine Chance auf Regierungsbeteiligung, wenn sie als Juniorpartner in ein Dreierbündnis mit CDU und BSW einsteigt. Ein politisches Experiment mit ungewissem Ausgang. Köpping ist sich dessen bewusst, äußert sich zum BSW nur vorsichtig. "Beim BSW sind weder die Inhalte klar noch die Leute, die sie umsetzen sollen", sagt sie. Doch sie wolle sich die Option offenhalten, alles andere sei ungewiss. Auch wenn klar sei, dass sie "keine putinfreundlichen Parolen" akzeptieren werde.
Noch drei Wochen bis zur Landtagswahl. Einen Anti-Ampel-Wahlkampf lehne sie ab. "Zu einfach, zu populistisch", sagt sie. Nicht alle SPD-Wahlkämpfer im Osten halten sich an dieses Prinzip. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke etwa versucht gerade, sich als Friedensvermittler im Ukraine-Krieg zu inszenieren. Köpping hält sich mit solchen Umdrehungen kurz vor der Wahl zurück. Unbeugsam könnte man das nennen.
Dass sie dennoch manchmal an der Ampel verzweifelt, kann sie schwer verhehlen. Sie sei vor allem vom "ständigen Streit und schlechter Kommunikation" genervt. Könnte sie sich vorstellen, mal nach Berlin zu wechseln, um es besser zu machen, etwa bei der nächsten Bundestagswahl? 2021 war sie immerhin mal im Gespräch für das Bundesgesundheitsministerium. Damals lehnte sie ab.
"Über so etwas mache ich mir wirklich überhaupt keine Gedanken. Ich konzentriere mich voll auf den Wahlkampf in Sachsen", sagt sie. Ein Nein klingt anders.
- Eigene Beobachtungen