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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tsunami-Katastrophe 2004 Eine zufällige Bekanntschaft rettete Jennifer das Leben
Eine Rucksacktouristin aus Bayern reist 2004 durch Südostasien. Zufällig lernt sie unterwegs eine Schweizerin kennen. Die Begegnung rettet ihr das Leben.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 änderte sich das Leben von Millionen Menschen schlagartig. Eine Serie von gigantischen Flutwellen, ausgelöst durch ein Seebeben im Indischen Ozean, traf die Küsten mehrerer Länder und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Der Tsunami kostete mehr als 230.000 Menschen das Leben und gilt als eine der verheerendsten Naturkatastrophen der bisherigen Geschichte.
Am stärksten betroffen waren die Küstenregionen in Thailand, Indonesien, Sri Lanka, Indien, Malaysia und der Malediven. Dort wurden ganze Dörfer und Städte regelrecht weggespült. Zerstört wurde auch der kleine Badeort Unawatuna an der Südwestküste Sri Lankas. Ausgerechnet dorthin war Jennifer Holleis unterwegs. Die Münchnerin reiste damals durch Südostasien. An Weihnachten wollte sich die damals 24-Jährige mit ihrem damaligen Freund in Unawatuna treffen. Ihr Partner besuchte damals seinen Bruder auf Sri Lanka, der dort ein Praktikum machte. "Wir hatten ausgemacht, dass ich am 23. Dezember dazukomme. Deshalb hatte ich einen Flug von Bangkok nach Colombo gebucht", erinnert sich Holleis heute.
Im Nachtzug zum Flughafen Bangkok
Zum Flughafen von Bangkok reiste Holleis mit dem Nachtzug. Im Restaurantabteil lernte sie eine Schweizerin kennen. Die beiden verstanden sich auf Anhieb so gut, dass Holleis ihren Flug umbuchte, um in Bangkok noch mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Das sollte ihr das Leben retten.
Denn in der Zeit, als sie und die Schweizerin Bangkok erkundeten, bebte der Meeresgrund und riesige Wellen rasten auf die Küsten Thailands und Sri Lankas zu, überfluteten ganze Ortschaften. Jedes Jahr an Weihnachten denkt Holleis an diese Tage zurück und wie sie dank einer reinen Zufallsbegegnung wohl dem Tod entkam.
Ahnungslos und sorglos lief sie damals durch die Straßen von Bangkok – bis ein Anruf aus der Heimat sie erreichte und sie von der Katastrophe erfuhr. Sie raste sofort zum Flughafen und flog nach Colombo. Mobilfunknetz und Internet waren komplett zusammengebrochen. Die Todeszahlen stiegen mit jeder Minute. Und sie versuchte verzweifelt, ihren Freund zu erreichen.
Jennifer Holleis: "Ich war innen ganz hohl vor lauter Angst"
Als sie in Colombo ankam, herrschte noch immer Funkstille. Gegen 3 Uhr morgens stieg die junge Frau in ein heiß umkämpftes Taxi. "Ich zeigte dem Fahrer den Zettel, auf dem der Name und die Adresse der Familie standen, zu der er mich bringen sollte." Während der Fahrt bekam der Taxifahrer die Nachricht, dass ein sehr enger Verwandter im Tsunami gestorben ist. "Er hat angefangen, zu weinen. Es war extrem traurig."
Am Ziel angekommen, stand Holleis auf einer dunklen, menschenleeren Straße. "Ich war aufgeregt, müde und innen ganz hohl vor lauter Angst um meinen Partner." Die verschlafenen Hausbesitzer ließen sie herein und zeigten ihr ein komplett leeres Zimmer. "Ich habe mich auf den Boden gelegt, mit dem Kopf auf meinem Handtuch, und bin eingeschlafen."
Am Morgen dann die freudige Überraschung: Ihr Freund und sein Bruder standen vor der Tür. "Das war eine Riesenerleichterung und eine wahnsinnige Freude."
Ein Freund schickt eine beunruhigende Nachricht
Weil Holleis ihre Reise nach Sri Lanka um ein paar Tage verschoben hatte, waren auch die Brüder erst später nach Unawatuna aufgebrochen. Durch eine glückliche Fügung kamen auch sie nie dort an. Weil die Straße überflutet war, ging ihre Busfahrt nur bis Colombo. Dort erfuhren die Brüder vom Tsunami.
Die Freude über das Wiedersehen in Colombo währte aber nur kurz. Ein Freund alarmierte Holleis per SMS: Sie sollte sofort Sri Lanka verlassen. Die Cholera sei ausgebrochen.
Auf den Straßen herrschte Chaos. Alle wollten nur noch weg. Es kam zu riesigen Staus. Weder private Autos noch Ambulanzen oder Leichentransporte kamen durch. "Es war furchtbar", sagte Holleis. An dieser Stelle entschied das Paar, nach Thailand zurückzufliegen.
Leere Blicke in den Gesichtern
Am Flughafen in Colombo trafen beide dann auf viele verzweifelte Urlauber, die halb nackt und oft nur in Shorts da standen. Sie hatten nichts mehr. Keine Kleidung, keinen Pass und auch Geld. Holleis und ihr Freund verschenkten fast ihre gesamte Kleidung. An die leeren Blicke in den Gesichtern erinnert sie sich bis heute.
Holleis und ihr Freund bekamen einen Flug nach Bangkok. Dort angekommen, wurden sie von Mitarbeitern des Internationalen Roten Kreuzes angesprochen und um Blutspenden gebeten. "Ich habe sechsmal Blut gespendet. In Deutschland wäre das undenkbar“, sagte Holleis und beschrieb die Situation vor Ort: "Überall waren Leute, die einfach an die Wand gestarrt haben. Schwer traumatisiert und völlig überfordert von der Situation."
Während viele Urlauber wieder nach Hause flogen, reisten Holleis und ihr Partner in den Norden von Thailand weiter. Dort blieben sie noch sechs Wochen – fernab von Küste und Meer.
Die Angst vor Verlust ist geblieben
20 Jahre sind seitdem vergangen. Aber sie prägen sie bis heute. Zwar ist sie kein ängstlicher Mensch und geht durchaus Risiken ein, so Holleis. Doch was ihren Partner betrifft, da habe sie enorme Angst vor Verlust. Nicht durch Trennung, sondern durch einen Unfall oder ein Unglück.
Mit der Schweizerin, die sie damals im Zug kennengelernt hat, ist sie bis heute befreundet. "Andrea war mein Schutzengel. Das habe ich wirklich so empfunden", sagte Holleis. Sie ist sich sicher, dass sie ohne ihre Freundin vielleicht nicht mehr am Leben wäre. Inzwischen sind sie mit jeweils anderen Partnern verheiratet und haben Kinder. Und jedes Jahr erinnern sie sich an ihre schicksalhafte Begegnung.
- Gespräch mit Jennifer Holleis (11.12.2024)
- Eigene Recherche