Die Schulzes aus Drage Wie verschwindet eine Familie so einfach?
Kann eine komplette, bürgerliche Familie verschwinden? Am Stadtrand von Hamburg ist 2015 genau das passiert. Die Fahnder stehen im Fall Schulze vor einem Rätsel: Polizeihunde haben Geruchsspuren an einem Weier in Niedersachsen gefunden. Doch die passen nur schwer in den möglichen zeitlichen Ablauf einer Mordtat.
Es ist der 22. Juli, ein Mittwoch. In Niedersachsen ist der letzte Schultag vor den großen Ferien. Die zwölfjährige Miriam aus Drage, ein lebensfrohes Kind, ist in der Schule seit Tagen krank gemeldet. Trotz des Unwohlseins chattet sie über Mittag per Whatsapp mit ihrer Freundin. Sie ist, wie viele Mädchen in ihrem Alter, in Pferde vernarrt und für das Wochenende zu einem Reitausflug angemeldet.
Sylvia Schulze, 43, ihre Mutter, verlässt um 16.20 Uhr ihren Arbeitsplatz im Lidl-Markt in Geesthacht. Ihr Mann hatte sie angerufen und gebeten, dass sie vorzeitig kommt. Miriam gehe es nicht so gut. Sylvia fährt mit ihrem grauen Dacia nach Hause in das rot geklinkerte Haus am südlichen Rand der Ortschaft.
Am Nachmittag führt Sylvias Mann Marco, 41, mehrere Telefongespräche von zu Hause aus, darunter um 17.25 Uhr mit dem Reiterhof, auf dem er aushilft, und um 19.33 mit seinem Schwiegervater. Er erzählt ihm zu dessen Erstaunen, Frau und Tochter schliefen bereits. Um 20.58 Uhr meldet sich sein Handy vom Netz ab.
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Miriams Chat, Sylvias Heimfahrt und Marcos Telefonate sind die letzten nachvollziehbaren Lebenszeichen von drei Menschen aus der Elbmarsch. Seit diesem frühen Mittwochabend im Sommer des Jahres 2015 hat niemand mehr etwas gehört, das ihnen mit Sicherheit zugeordnet werden kann. Der Fall hat die Rätsel in der jüngeren bundesdeutschen Kriminal-Chronik um ein Kapitel reicher gemacht.
Nur wenige Vermisste tauchen nie wieder auf
300 Personen werden in Deutschland täglich als vermisst gemeldet, sagt die Statistik des Bundeskriminalamtes. Das Schicksal der Hälfte klärt sich innerhalb einer Woche. 80 Prozent der Fälle sind innerhalb von vier Wochen erledigt. Die Mehrheit kehrt in ihr altes Leben zurück oder baut sich anderswo ein neues auf. Manche haben Selbstmord begangen. Es bleibt ein kleiner Teil von Dauervermissten. Die meisten sind männlich, wohl die wenigsten Opfer von kriminellen Handlungen.
Aber dass eine Familie aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und aus einem überschaubaren Wohnort einfach weg ist, von jetzt auf gleich, ohne Spuren? Das ist dann nicht nur lokales Tagesgespräch auf Jahre hinaus. Das erregt weltweit Aufsehen. So ist es 2015 mit den verschwundenen Schulzes aus der 4.000-Seelen-Gemeinde im Speckgürtel südöstlich von Hamburg passiert. 40.000 Einträge registrierte das Internet. Zwei Mal berichtete „XY Ungelöst“. In London beschäftigte es die „Times“.
Seit mehr als drei Jahren gibt es für den Verbleib von Mutter Sylvia und Tochter Miriam keine Erklärung. Die Leiche von Vater Marco trieb eine Woche nach dem Verschwinden tot in der Elbe. Feuerwehrkräfte aus Lauenburg bargen sie am frühen Morgen des 31. Juli. Die Obduktion ergab: Ertrunken, weil ihn ein 25 Kilo schwerer Betonfuß einer Straßensperre, der mit gelben Spanngurten am Körper befestigt war, auf den Grund des breiten Stroms gezogen hatte. Nahe dem Fundort machten Taucher zudem ein silberfarbenes Damenfahrrad aus. Es war das von Sylvia, mit weiteren gelben Spanngurten auf dem Gepäckträger.
Die Polizei in der Elbmarsch hat daraus eine Theorie entwickelt. Sie läuft auf einen „erweiterten Suizid“ hinaus, der bei Beziehungstaten nicht so selten ist: Der Mann hat Frau und Kind getötet und ist anschließend zur Lauenburger Brücke gefahren, mit dem Betonfuß am Körper über das Geländer geklettert und ins Wasser gesprungen.
Gab es einen Ehestreit bei den Schulzes?
Der erfahrene Bremer Profiler und Buchautor Axel Petermann hält Eheprobleme als Motiv für so eine Tat für nicht abwegig: „Es ist leider so, dass manche Männer sich nicht damit abfinden können, wenn es eine Trennung gegen ihren Willen geben soll. Dann töten sie den Partner, um ihn zu behalten, zu bewahren, um ihn niemand anderem zu gönnen“. Auch eine gute Freundin von Sylvia Schulze hat über einen Streit der Eheleute berichtet, der in ihrer Anwesenheit stattfand und bei dem es um eine Trennung ging – samt der Drohung des Ehemannes, sich umzubringen. Die Mutter von Marco ist überzeugt: Ihr Sohn ist unschuldig.
Doch wenn es ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang war: Wieso nahm sich Marco Schulze, der möglicherweise über eine Schusswaffe verfügte, auf diese umständliche, seltene und mit dem viele Kilo schweren Klotz am Bein mühsame Art das Leben? Auch: Wo hat er die Leichen von Sylvia und Miriam Schulze gelassen? Frau und Tochter werden von der niedersächsischen Polizei bis heute als „vermisst“ geführt, nicht als tot. Tote hat man nie gefunden.
Nicht einmal Indizien für ein schweres Verbrechen können die Fahnder der SoKo Schulze aus der Kreisstadt Winsen sicherstellen, als sie am 24. Juli 2015 gegen Mittag das Haus der Familie durchsuchen. Sie sind vom Arbeitgeber der Frau alarmiert worden, weil sie nicht zum Dienst in der Backstube erschienen ist.
In dem Haus finden sie alles so vor, als sei die Familie nur ein paar Minuten unterwegs. Die Fenster sind gekippt, die Katze wartet hungrig aufs Futter. Geld, Ausweise und wichtige Papiere sind vorhanden. Auch die beiden Autos der Schulzes, ein grüner Opel und der graue Dacia, stehen im Carport. Es fehlen: Jegliche Blut- oder Kampfspuren, zwei Fahrräder und die Handys, die nicht geortet werden können.
Massive Fahndung erbringt keine Spur
Die SoKo löst in den Wochen nach dem Verschwinden eine bundesweite Suche aus. Hundertschaften, unterstützt von Hubschraubern und Leichenspürhunden, durchkämmen die Gegend. In Stove durchwühlen sie den von Schulzes gerne besuchten Elbstrand. Nichts. Auch die Befragung der Nachbarn und Freunde und die Überprüfung der Bankverbindungen ergibt wenig Relevantes. Berichte über eine Überschuldung der Familie und den Verlust eines Teilzeitjobs des Mannes als Speditionsfahrer bleiben zunächst pure Spekulation.
Doch Wochen später, im August 2015, scheint sich alles zu ändern: Eine Zuschauerin sieht einen Fahndungsaufruf bei "XY" und meldet sich noch am Abend der Sendung bei der Polizei. Denn sie war am 22. Juli nachmittags am Seppenser Mühlenteich spazieren. Der Ort liegt 45 Kilometer westlich von Drage.
Was sie erzählt, könnte bedeuten: Die Zuschauerin ist hier Zeugin des Mordgeschehens geworden. Michael Düker, damals Chef der SoKo, berichtet, sie habe im Wald ein paar Minuten entfernt "Geräusche und laute Schreie einer Frau" gehört, Worte wie "Spinnst du?" und "Nein, Papa". Dann ein Plopp wie das Platzen eines Luftballons oder das Zuschlagen einer Autotür.
Vor allem: In dieser Auseinandersetzung ist drei Mal der Spitzname von Sandra K. gefallen, der Tochter aus der ersten Ehe von Sylvia Schulze. Sie wohnt in der Nähe von Holm-Seppensen. Die Mittzwanzigerin wird später in einem Interview mit dem Magazin "Closer" bestätigen: "Mein Spitzname ist gefallen, den sonst niemand kannte."
Die Suchhunde schlagen an
Am Morgen nach der Sendung wird der bis zu fünf Meter tiefe Mühlenteich Schauplatz einer umfangreichen kriminaltechnischen Ermittlung. Die Fahnder schicken ein Sonarboot auf den Grund. Doch während das Boot 17 mögliche Gegenstände im Teich erkennt, nur keine Leichen, und auch die dem Boot folgenden Taucher nichts finden außer Baumstümpfe und Abfall, schlagen die eingesetzten Hunde am Ufer an. Danach ist sicher: Die Schulzes waren hier. Die Geruchsspuren aller drei Familienmitglieder führen zum Teich. Vom Teich weg erkennen die Tiere nur die Fährte von Marco.
Ist der nur 350 Meter lange Seppenser Mühlenteich der Tatort? Hat Marco Schulze hier seine Frau und seine Tochter umgebracht? Hat er die Toten an diesem Platz irgendwie beiseite geschafft, ob versenkt oder vergraben? Die Fährten, die die Suchhunde aufgenommen haben, sprechen zunächst dafür.
Der Kriminalhauptkommissar Düker hat schnell gezweifelt, dass es wirklich so war. Zu viele Spaziergänger hätten an dem kleinen See etwas mitbekommen müssen. Und da ist, so Düker, vor allem „das Zeitfenster von zwei Stunden“. Marco Schulze hätte zwischen seinen beiden Telefonaten am Nachmittag des 22. Juli jeweils 45 Minuten für die Hin- und die Rückfahrt gebraucht – und damit gerade 30 Minuten für den Mord und die Beseitigung der Leichen zur Verfügung gehabt. Geht das in einer so nervlich außerordentlich belastenden Situation?
Der Zeugenbericht und die Spuren vom Mühlenteich sind heute, drei Jahre später, der letzte, fassbare Ermittlungsstand. Der Rest sind Gerüchte, Mutmaßungen, Rand-Informationen. Die Fragen, die sie sich in der Schule stellen, gehören dazu: Warum räumte Frau Schulze Tage vor den Ferien den Schulspind ihrer Tochter aus? Weil sie mit ihr weg wollte? Auch, dass sieben Jahre vorher schon einmal jemand aus Drage spurlos verschwunden ist, der junge Zimmermann Helge Matthies. Nie wieder hat man was von ihm gehört. Und dass noch viel früher, 2004, der Arbeitslose Ulrich Sattler aus der Norderelbe geborgen worden ist, ähnlich an Beton gebunden wie die Leiche Marco Schulzes. Sind da Zusammenhänge? Oder alles nur Zufall?
Fünf Szenarien zum Verschwinden der Schulzes
Das Haus der Familie Schulze hat lange leer gestanden und ist jetzt verkauft. Der Verkaufserlös liegt auf einem Sperrkonto, die verschwundenen Erben von Marco Schulze sind ja nur vermisst und nicht für tot erklärt. In der Elbmarsch bleibt der Fall ein Thema. Die Lokalzeitung Winsener Anzeiger hat fünf Szenarien durchdekliniert.
Szenario 1: Deckt sich mit der Polizeitheorie vom „erweiterten Suizid“. Marco Schulze hat die Familie getötet und danach sich selbst.
Szenario 2: Sylvia Schulze hat ihren Mann umgebracht und sich mit der Tochter ins Ausland abgesetzt.
Szenario 3 und 4: Andere haben Marco Schulze oder seine ganze Familie getötet – warum auch immer.
Szenario 5: Sylvia Schulze wollte sich von Marco trennen. Sie hat sich mit der Tochter Miriam ins Ausland abgesetzt. Marco Schulze hat das nicht verwunden und sich in der Elbe das Leben genommen.
Die Redaktion glaubt: Angesichts der Umstände des Suizids des Mannes kämen eigentlich nur die Möglichkeiten 1 und 5 in Frage: Dass Marco Schulz seine Familie und dann sich selbst tötete – oder sein Selbstmord eine Reaktion auf eine Trennung durch die Frau war.
Für Sandra K., Sylvias Tochter aus erster Ehe, steht der Täter fest: Marco. Er habe Alkoholprobleme gehabt, den Führerschein und den Zweitjob verloren, offenbarte sie. Und er habe als Lagerist in einem Geesthachter Chemiewerk gearbeitet und sei an alle möglichen Substanzen herangekommen, um Tote zu beseitigen. Dennoch: „Ich kannte ihn 13 Jahre lang und habe ihn lieb gehabt. Ich könnte ihn nicht hassen“.
Ganze Familien verschwinden in Mitteleuropa selten spurlos. Erst 2017 ist es wieder vorgekommen. Diesmal waren es ein Elternpaar und zwei Kinder. Die Troadecs aus Orvault nahe der französischen Großstadt Nantes blieben drei Wochen vermisst. Auch Frankreich erlebte in dieser Zeit ein Nerven-Drama: Immer wieder wurden persönliche Dinge der Opfer aufgefunden, von der Krankenkassenkarte bis zu blutverschmierten Handys, das alles an Orten über Hunderte Kilometer verteilt. Dann gestand Pascal Troadec, der Schwager des vermissten Familienvaters, die Tat. Sein Motiv: Ein Erbstreit. Es ging um Goldbarren.
- Stern, ZDF, Winsener Anzeiger, Closer
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