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Ungeklärte Kriminalfälle: Wer verübte den Anschlag auf die Jüdische Gemeinde München?


München 1970
Wer verübte den Anschlag auf die Jüdische Gemeinde?

08.07.2018Lesedauer: 8 Min.
13. Februar 1970: Die Feuerwehr kämpft in der Nacht gegen die Flammen in der Israelitischen Kultusgemeinde in München.Vergrößern des Bildes13. Februar 1970: Die Feuerwehr kämpft in der Nacht gegen die Flammen in der Israelitischen Kultusgemeinde in München. (Quelle: Joachim Barfknecht/dpa)

Im Februar 1970 setzten unbekannte Täter das Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in München in Brand. Sieben ältere Juden, darunter zwei frühere KZ-Häftlinge, starben in den Flammen. Wieso konnte das schwere Verbrechen nie aufgeklärt werden?

Die Gemeindesekretärin Ruth Steinführer kommt die Treppe herunter. Im 1. Stock steht David Jakubowiec zwischen seinen Koffern. Warum er dort steht, fragt sie: „Fliegst du nicht schon heute?“ Nein, sagte er. „Du weißt. Ich bin fromm. Heute ist Sabbat“. Den Sabbat, den will er noch abwarten, erst dann die Maschine von München nach Tel Aviv nehmen. Von Deutschland nach Israel. Nur der Hinflug ist gebucht. Die Rückkehr nach Deutschland plant er nicht.

Ruth Steinführer hat ihre Erinnerung an den 13. Februar 1970 später Fernsehreportern erzählt. Sie hat diesen Abend überlebt, denn kurz nach dem Gespräch mit dem älteren Herrn verließ sie das Haus Reichenbachstraße 27 in der Isarvorstadt. Der 60-jährige David Jakubowiec, der als junger Mann die Hölle der Vernichtungslager der Nazis durchlitten hatte, konnte seinen gebuchten Flug nie antreten. Er hat das Land nicht mehr gesehen, in dem er friedlich alt werden wollte. Er verbrannte im gezielt gelegten Feuer, das an diesem Abend das Treppenhaus des jüdischen Gemeindezentrums in München erfasste.

Die Flammen arbeiteten sich von unten nach oben durch den gefürchteten „Kamineffekt“, wie Brandexperten den Sog nennen. Wer da hineingerät, ist ohne Chance. Sechs weitere jüdische Menschen überlebten das Inferno nicht. Regina Becher, 59. Max Blum, 71. Rosa Drucker, 59. Arie Leopold Gimpel, 50. Siegfried Offenbacher, 71. Georg Pfau. Georg Pfau, 63, hatte das KZ-Grauen genau so erlebt wie Jakubowiec.

48 Jahre ist das her. Eine lange Zeit. Fahnder wissen: Zeit kann ein Feind sein. Sie vernichtet Spuren. Sie lässt die Erinnerung von Zeugen verblassen oder in die Irre gehen. Sie lässt Täter eines natürlichen Todes sterben, die nie die Chance nutzen wollten, belastende Geheimnisse preiszugeben und ihre Gewissen zu erleichtern. Fahnder müssen dann erst einmal kapitulieren. Deutschlands oberste Ankläger erklärten am 23. November 2017: „Die Bundesanwaltschaft hat die Ermittlungen wegen des Brandanschlags auf die Israelitische Kultusgemeinde am 13. Februar 1970 in München mangels weiterer erfolgversprechender Ermittlungsansätze eingestellt“.

Der Anschlag ist der schwerste gegen jüdisches Leben in Deutschland seit dem Holocaust. Die Urheberschaft ist bis heute völlig ungeklärt. Dabei war das Attentat gezielt – und wohl hochpolitisch. Wer hat gezündelt? Waren es Rechtsextreme? Linksextreme? Anarchisten? Palästinenser? Ist der Täter im Umfeld der Gemeinde zu suchen? Die Bundesanwaltschaft beteuerte 2017 in ihrem Einstellungsbeschluss: In alle Richtungen habe sie bis zuletzt ermittelt. Man habe die „Phänomenbereiche“ untersucht. Nach links. Nach rechts. Ohne irgendetwas Beweiskräftiges zu finden.

Wer hier brandschatzt, weiß, wen er treffen will

Der Februar 1970. Am Freitagabend der Faschingswoche, die Nation hat gerade die Tagesschau gesehen, huscht ein Unbekannter in den Eingang der Reichenbachstraße 27. Draußen herrschen Temperaturen um die null Grad. Eine leichte Schneedecke zieht sich bis zum nahen Gärtnerplatz, wo das Bayerische Staatstheater Lortzings „Zar und Zimmermann“ vor ausverkauftem Haus aufführt. Im Haus der Israelitischen Kultusgemeinde leben 26 Personen, mehrere Einrichtungen sind untergebracht. Ein Kindergarten. Ein koscheres Restaurant. Büros. Im Obergeschoss befinden sich Altenwohnungen, unterm Dach Studentenzimmer, im Hinterhof die jüdische Synagoge der Landeshauptstadt. Wer hier brandschatzt, weiß, wen er treffen will.

Der Unbekannte kippt ein Gemisch aus Benzin und Öl ins ganze Treppenhaus. Er nutzt dazu einen weiß-blauen 20-Liter Kanister von Aral, der in braunes Packpapier eingewickelt ist. Oben angekommen, nimmt er für den Rückzug den Aufzug – um nahe der Haustür „die Feuerbrücke im Untergeschoss zu entfachen“, wie das Bundeskriminalamt in einem Bericht drei Wochen danach schreibt.

„Wir werden verbrannt. Wir werden vergast“

Um 20.56 Uhr hört eine Funkstreife vom „Zimmerbrand in der Reichenbachstraße 27, 4. Stock“. Münchens Hauptfeuerwache liegt in der Nähe. Zwei Minuten später ist die Wehr vor Ort. Das Löschteam sieht: Kein Zimmerbrand. Das Obergeschoss und der ausgebaute Dachstuhl stehen in Flammen. Menschen rufen in den Fenstern um Hilfe. „Wir werden verbrannt. Wir werden vergast“.

Dramatische Szenen sind das. Panik bricht aus. „Eine spitze Riesenflamme schoss herein“, erinnert sich die Studentin Sara Elasari-Gruss. Ein Mann springt aus dem vierten Geschoss, schlägt im Hof auf und ist tot. Es ist Max Blum. Vom Dach können zwei Wehrleute die 80-jährige Hedwig Königsberg retten. Für Siegfried Offenbacher wird wahrscheinlich seine Taubheit zur Todesfalle. Er bekommt von den Schreien und dem Heulen der Sirenen nichts mit. Und deshalb auch nicht vom nahenden Feuer.

Sieben Tote. 15 Verletzte. Ein Sachschaden von 730.000 D-Mark, denn große Teile der Bibliothek sind ein Raub der Flammen. Die Frage nach dem Warum haben Bundesanwälte viel später so beantwortet: „Es besteht der Anfangsverdacht, dass sich der Brandanschlag gegen die Bewohner des Altenheims als Teil der jüdischen Bevölkerung in Deutschland richtete“. Im Klartext: Aus Judenhass.

Zeugenaussagen halfen kaum weiter

Doch unmittelbar nach der Brandnacht richten sich die Ermittlungen wie immer zuerst auf das örtliche und zeitliche Umfeld. Wie der Kanister ins Haus kam. Wer das Benzin-Öl-Gemisch im Treppenhaus verschüttet hat. Ob irgendeine Person zuvor verdächtig Erkundigungen einholte. Auch: Wer wurde wo gesehen? Die Aussagen von Zeugen erweisen sich als wenig hilfreich. Sie berichten zwar über Ausspähversuche „südländisch“ aussehender Personen, vom auffälligen Benehmen eines Taxikunden zur Tatzeit, von einer möglichen Herkunft des Aral-Behälters. Schnell aber geraten die Recherchen bayerischer Sicherheitsbehörden in die Sackgasse. Der frühere Innenminister Ernst Benda (CDU) fordert wütend: So geht es nicht! Das Bundeskriminalamt müsse die zentralen Ermittlungen ganz übernehmen.

Doch je mehr den Fahndern der mit kriminalistischen, technischen und politischen Experten beschickten Sonderkommission das Tat-Motiv einleuchtet, desto schwerer lässt sich ein Bild von möglichen Verdächtigen machen. Zu aufgeregt sind die Zeiten, zu brisant die politischen Umstände, zu breit das Angebot der extremen Ideologien, die anti-jüdische oder antisemitische Einstellungen vertreten.

Zeit des Aufruhrs in Europa und der Welt

Ende der 1960er-Jahre hat nicht nur in Deutschland eine Ära der Umbrüche eingesetzt. Eine sozialliberale Koalition löste in Bonn die CDU-Kanzler ab. Rechtsextreme waren erstmals in die deutschen Landtage eingezogen und mit der NPD beinahe auch in den Deutschen Bundestag. Die Linke probt den Aufstand und ein Jahrzehnte dauernder Terror der RAF entwickelt sich im Untergrund. Palästinenser überziehen den Nahen Osten wie Europa nach Israels Sieg im Sechs-Tage-Krieg mit Anschlägen und Attentaten. Die bayerische Landeshauptstadt wird – man könnte zynisch sagen: im doppelten Wortsinn – zum einem Brennpunkt.

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Beim Polizeipräsidium und der Süddeutschen Zeitung geht in den Tagen nach dem siebenfachen Mord ein anonymer Brief aus einer der NPD nahe stehenden Anwaltskanzlei ein. Er ist datiert auf den 5. Februar und vermittelt scheinbar ein Wissen der Schreiber über die bevorstehende Tat. Von Juden ist die Rede, von alten Leuten als Opfer. „Eine solche Aktion unberechenbarer Wirrköpfe würde unserer Partei ungeheuren Schaden zufügen“, heißt es dort warnend an einen Parteifreund adressiert. Doch Einvernahmen, Durchsuchungen der Räumlichkeiten und weitere Recherchen ergeben wenig. Der Brief wird von den Behörden schließlich als eine mögliche Fälschung eingestuft.

Attacken palästinensischer Attentäter häuften sich

Als wesentlich komplexer wird sich die Nahost-Spur erweisen, und das über Jahre. Am Dienstag vor der Tat in der Reichenbachstraße war nur wenige Kilometer entfernt auf dem Flughafen Riem die Entführung einer israelischen Maschine gescheitert. Mit Ari Katzenstein, der sich schützend über eine Handgranate geworfen hatte, hatte es ein Todesopfer unter den Passagieren gegeben hatte. Waren der Vorgang in Riem, der in der Reichenbachstraße, ein Bombenattentat auf eine Swissair-Maschine nahe Zürich mit 47 Toten nur eine Woche später und am Ende noch der Anschlag auf Israels Olympiamannschaft 1972 Teile einer durchplanten Kette der Gewalt?

Bis heute hält sich diese Theorie. Wolfgang Kraushaar, der Hamburger Geschichtswissenschaftler, vermutet: „Die Anschläge verbindet eine gemeinsame Zielsetzung. Sie richtet sich gegen israelische Staatsbürger und in der Bundesrepublik lebende Juden“. Hinter einer solchen Serie könne „ein Regisseur“ stecken. In seinem 2013 erschienenen Buch „...wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ legt er aber noch eine zweite, verwandte Fährte – eine, die auch ein Oberstaatsanwalt wie der Münchner Jurist Thomas Steinkraus-Koch für plausibel hält: Dass den ersten Gewaltauftritten der RAF eine andere, bislang kaum beachtete und bekannte Terrorwelle der deutschen Linksextremen vorangegangen ist. Dass die Reichenbachstraße ein Brandanschlag unter mehreren aus dieser Ecke war, hier gegen „die Zionisten“ gerichtet. Vielleicht in Absprache mit Palästinensern? Oder zumindest in Sympathie zu ihrem Kampf?

"Südfront" des linken Widerstandes

„Tupamaros München“ und „Südfront“. So hießen in dieser Zeit zwei Gruppierungen in der Stadt mit einer bunt gemischten Unterstützerszene. Sie sahen sich als Sammelbecken des linken Widerstandes. Hier focht man gegen den Vietnam-Krieg, gegen Erziehungsheime für Jugendliche, gegen den „Muff von tausend Jahren“ an den Universitäten – und koalierte ab und an mit palästinensischen Gruppierungen. Zu den führenden oder sympathisierenden Köpfen der 60 Mitglieder umfassenden „Südfront“ gehörten neben Alois Aschenbrenner auch Ulrich Enzensberger, des Bruder des bekannten Schriftstellers Hans-Magnus Enzensberger, und spätere Namen der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) wie Rolf Heißler und Brigitte Mohnhaupt.

Gute Drähte verbanden sie mit Berlin, wo Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann die Sache der Palästinenser unterstützten. Kunzelmann, in arabischen Lagern zum Kämpfer ausgebildet, warf den zögernden Genossen vor, sie litten 25 Jahre nach dem 2. Weltkrieg unter einem „Judenknax“. „Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“, der Buchtitel Kraushaars, ist ein Zitat Kunzelmanns aus einem seiner Propaganda-Pamphlete.

Vor allem aber: Am 9. November 1969 hatte Kunzelmanns Gruppe – gezielt auf den jüdischen Gottesdienst im Gedenken an die Reichsprogromnacht – eine Brandbombe in der Berliner Synagoge platziert. Sie hätte Besucher töten können. Sie funktionierte dank eines Zündfehlers nicht. Haben die Täter von Berlin an der Isar nur vollzogen, was ihnen drei Monate zuvor an der Spree aus technischen Gründen misslungen war?

Führt die "linke Spur" zu den Attentätern?

Aussagen und Tat-Utensilien könnten für die „linke Spur“ sprechen, die Ermittler Steinkraus-Koch für „die heißeste“ hält. Teufel, der als Witzbold der Szene galt, hortete in seiner Wohnung zahlreiche Brandsätze und orakelte in einem TV-Auftritt von Straftaten, die ihn bald langjährige Haft kosten könnten. Bei einem damals 18-Jährigen, der zu der Südfront-Gruppe gehörte, wurde Pack-Papier der Machart gefunden, in die der Aral-Kanister eingewickelt war. Südfront-Anhänger hätten bei einem Betrieb gearbeitet, in dem sie an Lösungsmittel herangekommen wären, ein Auto aus dem Bereich sei um die Tatzeit mehrfach in der Reichenbachstraße gesehen worden, sagt Steinkraus-Koch.

Vor allem: Aus den Vermerken des Bundeskriminalamtes (BKA) geht hervor, dass die spätere RAF-Top-Terroristin Gudrun Ensslin gegenüber ihrer Komplizin Irmgard Möller laut der Aussage eines Ohrenzeugen wegen des Münchner Anschlags einen Wutanfall bekommen haben soll: „Ihr Arschlöcher. Gut, dass die Sache den Neonazis untergeschoben wurde“. Auch Möller gehörte zum „Südfront“-Umfeld.

Mögliche Mitwisser schweigen

Fritz Teufel, 2010 verstorben, und Dieter Kunzelmann, der im Frühjahr 2018 starb, können nicht mehr aussagen. Gudrun Ensslin beging 1977 in der Haftanstalt Stammheim Selbstmord. Irmgard Möller, die vielleicht den Täter kennt oder sogar mehr von dem Brandanschlag auf das Gemeindehaus in der Reichenbachstraße weiß, schweigt wie fast alle überlebenden RAF-Protagonisten. Der Aral-Kanister mit dem Benzin-Öl-Gemisch, das die sieben jüdischen Altenheimbewohner tötete, und der über möglicherweise noch vorhandene DNA-Spuren heute zum Täter führen könnte, ist 1995 bei Aufräumarbeiten in der Münchner Asservatenkammer entsorgt worden.

Es seien „Indizien vorhanden, die für eine Tatbegehung aus dem linksextremistischen Bereich sprechen“, stellte die Karlsruher Bundesanwaltschaft im November 2017 fest. Dann aber: Namentlich sei bei den jüngsten Ermittlungsversuchen auch der „rechtsextremistische Phänomenbereich“ einbezogen worden. „Vorhandene Verdachtsmomente reichen für einen konkreten Tatverdacht gegen eine bestimmte Person oder Gruppierung nicht aus“.

Alle Spuren haben ins Leere geführt.

Münchens Stadtrat will das nicht so stehen lassen. Mit den Stimmen von SPD, CSU, Grünen, Bayernpartei, FDP, ÖDP und Linken entschied er im März: „Die Stadt setzt sich dafür ein, dass an der Aufklärung des Verbrechens weiter gearbeitet wird“.

Verwendete Quellen
  • „...wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“, Autor: Wolfgang Kraushaar. Rowohlt-Verlag, Hamburg, 2013
  • „Als der Terror zu uns kam“. ARD-Doku 2012. Autor: Georg M. Hafner
  • Erklärung des Generalbundesanwalts vom 23.11.2017 – 84/2017
  • Eigene Recherchen
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