Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig wird Drei fatale Fehleinschätzungen in der Corona-Krise
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
heute schreibe ich für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.
WAS WAR?
Selbst in normaleren Zeiten ist es für Spitzenpolitiker nicht leicht, "nah bei de Leut" zu sein, wie es der frühere rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck gern nannte. Wie die meisten Menschen verbringen die Kanzlerin, die Regierungschefs der Länder und die Minister viel Zeit unter Gleichgesinnten.
Früher oder später erleiden sie zudem oft das Schicksal vieler Top-Führungskräfte: Es gibt immer weniger Mitarbeiter, die sich noch trauen, den Mund aufzumachen. Auch auf den unteren Führungsebenen dominieren irgendwann die Jasager.
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Klar, da sind noch die Umfragen. Aber nur auf sie verlassen wollen sich die wenigsten, zumal die Demoskopie nicht auf alles eine verlässliche Antwort liefert. Und natürlich gibt es noch die Mails von Bürgern und allerlei Kommentare in den sozialen Medien. Nur sind die häufig im Ton derart daneben, dass beim Empfänger ein Abstumpfungsprozess einsetzt.
Und wenn es mal zu den "Menschen draußen im Lande" (Ex-Kanzler Helmut Kohl) geht, dann schon aus Sicherheitsgründen in gepanzerten Limousinen und mit entsprechender Entourage. Ehrliches Feedback gibt es auch bei diesen Ausflügen selten: Beim Verband wird die Ministerin hofiert. Und beim Wahlkampf hören dem Minister meistens nur die eh schon Überzeugten zu.
Deshalb betonen Spitzenpolitiker gern, wie wichtig es ist, ein gutes privates Umfeld zu haben, das auch mal Tacheles redet. Allerdings bleibt dafür wenig Zeit. Denn wer in der Politik oben angelangt ist, hat von montags bis sonntags oft einen beruflichen Termin nach dem anderen.
So rar er auch sein mag: Der Kontakt mit "echten Menschen", wie Politiker das Gespräch mit den Wählern manchmal nennen, als wären sie selbst Maschinen, ist für sie ein wichtiger Resonanzraum.
Vielleicht gehört es zu den am meisten unterschätzen Folgen der Corona-Pandemie, dass dieser direkte Austausch seit bald einem Jahr fehlt – und kaum durch Videokonferenzen ersetzt werden kann. Wer sagt einem schon via Zoom etwas ins Gesicht?
In der CDU-Spitze traute sich vor dem jüngsten Parteitag auch deshalb kaum jemand eine Prognose über den Ausgang der Wahl des Vorsitzenden zu, weil mangels interner Veranstaltungen keiner wirklich wusste, wie die Stimmung ist.
Es spricht einiges dafür, dass dem politischen Spitzenpersonal auch bei dem Thema, das die Wähler derzeit wohl am meisten umtreibt, das richtige Gefühl abhandengekommen ist: den Impfungen – oder eben den Nicht-Impfungen.
Das Problem fing bereits im Dezember an: Wer sich damals in Berlin umhörte, bekam vor allem die Botschaft zu hören, mit der baldigen Zulassung der ersten Impfstoffe sei endlich das Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Der Haken an dieser guten Nachricht: Ursprünglich war geplant, dass das in Deutschland entwickelte Produkt von Biontech in der EU deutlich später als etwa in den USA zugelassen wird. Wer den dezenten Hinweis gab, das sei kommunikativ doch etwas schwer vermittelbar, musste sich vorwerfen lassen, ein notorischer Kritiker zu sein. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) etwa argumentierte, im Falle einer schnelleren Zulassung hätte es die Debatte gegeben, kein Versuchskaninchen sein zu wollen.
Dann stieg – nicht wirklich überraschend – der öffentliche Druck auf die Politik so stark, dass die wiederum die europäische Zulassungsbehörde unter Druck setzte, sodass der Prozess schließlich beschleunigt wurde.
Auf die Fehleinschätzung vom Dezember folgte im Januar gleich die nächste: Nachdem die Impfungen auch in Deutschland begonnen hatten, musste man bei halbwegs realistischer Betrachtung bald zu der Erkenntnis kommen: Im Vergleich zu Ländern wie Israel, Großbritannien, den USA und den Seychellen sieht Europa nicht gut aus. Und innerhalb Europas wiederum steht Deutschland auch nicht gerade vorbildlich da.
Doch die deutsche Politik übte sich so lange in Schönreden, dass es nicht mehr nur albern wirkte, sondern fast schon besorgniserregend. Wie sehr sich die Akteure in der Landes- und Bundespolitik beim Impfchaos von dem entfernt haben, was die Menschen umtreibt, zeigt kaum etwas so deutlich wie der Wutausbruch von Stephan Pusch, dem Landrat von Heinsberg.
Was seine Facebook-Standpauke noch bemerkenswerter macht: Hier attackiert ein CDU-Politiker eine christdemokratisch geführte Landesregierung in Düsseldorf und einen Berliner Bundesgesundheitsminister aus der eigenen Partei. So etwas macht man nur, wenn es gar nicht mehr anders geht.
Und als wäre das nicht schon alles genug, könnte nun die dritte Fehleinschätzung folgen. Inzwischen ist auch der Impfstoff von Astrazeneca zugelassen. Die Debatte drehte sich zuletzt darum, dass davon weniger kommt als gedacht. Aber vielleicht ist das immer noch mehr als genug. Denn Studien zeigen, dass das Produkt offenbar weniger wirksam ist, als etwa das von Biontech.
Der italienische Publizist Ferdinando Giugliano machte deshalb folgende Auto-Analogie auf: Beim Impfstoff von Biontech handele es sich um einen Ferrari (teuer, aber mit exzellentem Ergebnis), der von Astrazeneca sei dagegen ein Fiat Panda (praktisch, aber mit Problemen behaftet).
Das Produkt von Biontech ist noch knapp, aber es sieht danach aus, als würde es im zweiten und dritten Quartal in deutlich höherer Menge verfügbar sein. Unzählige Menschen werden damit bald vor der individuell vielleicht wichtigsten Frage dieses Jahres stehen: Will ich mich lieber jetzt mit Astrazeneca impfen lassen oder später mit Biontech?
Anders formuliert: Will ich ab Ostern einen Fiat Panda haben oder mich lieber bis zum Sommer noch irgendwie durchschlagen, dann aber einen Ferrari fahren? Weil es wohl eher unwahrscheinlich ist, dass sich verschiedene Impfstoffe kombinieren lassen, man also seinen Impfstoff-Panda nicht später in Zahlung geben kann, dürften sich viele sagen: Da warte ich lieber noch ein bisschen.
Von solchen pragmatischen Überlegungen wiederum will unter Spitzenpolitikern derzeit kaum jemand etwas wissen. Stellvertretend für viele sei Kanzleramtsminister Helge Braun zitiert, der t-online sagte: "Jeder sollte unser Impfangebot (...) nutzen, sobald sie oder er an der Reihe ist. Unabhängig davon, um welchen Impfstoff es sich handelt." Schließlich seien alle zugelassenen Impfstoffe empfehlenswert.
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob das mehr als ein frommer Wunsch ist.
WAS STEHT AN?
Damit die Stimmung nicht endgültig kippt, muss die Politik nun Entschlossenheit demonstrieren. Und da gibt es ein probates Mittel: Man beruft einen Gipfel ein.
Meistens haben diese zwar ähnlich überschaubare Konsequenzen wie Zehn-Punkte-Pläne. Aber immerhin sprechen heute ab 14 Uhr Kanzlerin, Ministerpräsidenten, Minister, Impfstoffhersteller und Vertreter der EU-Kommission nicht länger übereinander, sondern miteinander.
"Es ist dringend Zeit, dass sich Bund, Länder und Pharmaindustrie nun an einen Tisch setzen, um das Chaos beim Impfen zu beenden", sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil meinem Kollegen Johannes Bebermeier – und erinnerte dabei an die Zusage der Kanzlerin, dass alle Bürger bis zum Ende des Sommer ein Impfangebot bekämen. "Jetzt muss auf den Tisch, wie der verbindliche Weg dahin aussieht", so Klingbeil. Dazu gehören für ihn feste Zusagen der Hersteller über Zeitpunkt und Umfang der Lieferungen und Klarheit darüber, wann diese in den Bundesländern ankommen, damit diese verlässlich Termine vergeben werden können.
"Wir werden zu konkreten Absprachen kommen", sagte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff (CDU) meinem Kollegen Tim Kummert im Interview. Allerdings klingt er dabei nicht allzu euphorisch: "Es gibt viele Bundesländer, die diesen Gipfel für notwendig hielten, daher werde auch ich mich dem nicht verweigern." Abstimmung sei und bleibe in föderalen Systemen das zentrale Element.
Wir werden also abwarten müssen, wie rasch wieder eintritt, was nach vergleichbaren Showveranstaltungen in der Vergangenheit allzu oft galt: Über allen Gipfeln ist Ruh.
Italien entschärft die Corona-Regeln in vielen Regionen. Auch Zypern beginnt mit stufenweisen Öffnungsschritten, unter anderem machen Friseursalons wieder auf. Und die österreichische Regierung will über erste Maßnahmen nach Ende des Lockdowns am 8. Februar entscheiden. Europa macht sich also mal wieder locker. Zumindest vorübergehend.
FDP, Grüne und Linke stellen mittags ihre Normenkontrollklage gegen die jüngste Wahlrechtsreform vor. Wer die endlose Debatte und unbefriedigende Lösung zur Verkleinerung des Bundestages verfolgt hat, kann wohl nur zu einem Ergebnis kommen: Den Oppositionsparteien bleibt keine andere Wahl.
Vor dem Amtsgericht Hannover geht es um die Kosten für ein maßgeschneidertes Hochzeitskleid, das aus Sicht der Braut nicht passte und auch noch zu spät geliefert wurde. Die Schneiderei klagt, weil sie den vollen Preis für das Kleid haben will. Hoffen wir, dass bei der Hochzeit ansonsten alles gepasst hat.
WAS LESEN?
Im "Polizeiruf 110" vom Sonntagabend quittierte Maria Simon ihren Dienst als deutsch-polnische Ermittlerin Olga Lenski. Und Millionen Menschen schauten zu – wie derzeit bei fast jedem Krimi, der im Fernsehen läuft. Denn das Genre verzeichnet immer wieder neue Rekord-Einschaltquoten. Mein Kollege Steven Sowa ist der Frage nachgegangen, ob das nur am Dauer-Lockdown liegt.
Keine winterfesten Unterkünfte, kaum medizinische Versorgung: Die Lage der Migranten in Bosnien sei eine Katastrophe, sagt der Arzt Gerhard Trabert. Im Interview mit meiner Kollegin Camilla Kohrs erzählt er, was er erlebt hat – und wofür die EU verantwortlich ist. Mein Kollege Philip Friedrichs stellt Traberts Erlebnisse in einem eindrücklichen Video dar.
Das Paul-Ehrlich-Institut sammelt alle Zahlen rund um die Corona-Impfungen in Deutschland – darunter auch Verdachtsfälle von Komplikationen. Meine Kollegin Melanie Weiner erklärt, welche Nebenwirkungen am häufigsten auftreten und wie sicher die neuen Impfstoffe im Vergleich zu erprobten Produkten etwa gegen Grippe sind.
Mit seinen Aussagen unter anderem über die "Jungtürken" bei Borussia Dortmund sorgte der langjährige Sky-Kommentator Marcel Reif für Aufsehen und Empörung. Der ZDF-Kommentator Béla Réthy allerdings verteidigt Reif im Gespräch mit meinem Kollegen Noah Platschko: "Ich halte die Diskussion für scheinheilig".
WAS AMÜSIERT MICH?
Meine ehemalige Spiegel-Kollegin Anna Clauß hat eine Biographie über Markus Söder geschrieben, die morgen erscheint. Als ich gestern ein kurzes Interview mit ihr las, musste ich schmunzeln. Auf die Frage nach Söders Schwächen sagte Clauß, der bayerische Ministerpräsident habe einen Hang zur Prahlerei und dränge sich überall, wo er könne, in den Vordergrund. Ihr Fazit: "Er ist unbestritten ein sehr kluger Kopf, aber eben auch ein Klassenstreber, der sich über die Eins im Zeugnis am meisten zu freuen scheint, wenn die anderen nur Dreien haben."
Freuen Sie sich heute gern auch über die Erfolge der Anderen!
Morgen schreibt an dieser Stelle wieder mein Kollege Florian Harms für Sie.
Ihr
Sven Böll
Managing Editor t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Twitter: @SvenBoell
Mit Material von dpa.
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