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Kanzleramtschef Helge Braun skizziert im Interview eine Öffnungsstrategie


Interview
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Kanzleramtschef Helge Braun
"Bis Ende März bis zu 16,9 Millionen Dosen Impfstoff"


Aktualisiert am 30.01.2021Lesedauer: 8 Min.
Nur nicht die Zuversicht verlieren: Kanzleramtschef Helge Braun freut sich, dass der Lockdown wirkt.Vergrößern des Bildes
Nur nicht die Zuversicht verlieren: Kanzleramtschef Helge Braun freut sich, dass der Lockdown wirkt. (Quelle: HC Plambeck für t-online)

Als Kanzleramtschef ist er der wichtigste Krisenmanager von Angela Merkel: Helge Braun verspricht im t-online-Interview Verbesserungen beim Impfen, lobt die Erfolge des Lockdowns – und skizziert eine Öffnungsstrategie.

Herr Braun, welche Note würde der Bürger Helge Braun Bund und Ländern für den Impfstart geben?

Das Thema ist zu ernst und es steht mir auch nicht zu, Kopfnoten zu verteilen.

Der verbreitete Eindruck ist allerdings: Im Vergleich zu anderen Staaten wie Israel, Großbritannien oder den USA sehen Deutschland und die EU nicht gut aus.

Wir sind ohne jeden Zweifel in einer schwierigen Situation. Es war immer klar, dass wir am Anfang zu wenig Impfstoff haben, deshalb gibt es ja eine Priorisierung. Gleichzeitig steigt die Erwartungshaltung, bald geimpft zu werden, von Tag zu Tag – nicht zuletzt, weil uns allen die Mutationen des Coronavirus Sorgen machen.

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Hat die Bundesregierung mit ihrem Versprechen, dass bis Sommer alle geimpft werden, die das wollen, zu hohe Erwartungen geschürt?

Wir können nur sagen: Wenn alles gutgeht, können wir allen Bürgern im Sommer ein Impfangebot machen. Voraussetzung dafür ist, dass die Impfstoffe wie geplant zugelassen werden und die Hersteller termingerecht liefern. Dabei muss man im Hinterkopf haben, dass die Impfstoffproduktion sehr empfindlich ist und auch eine Charge einmal nicht brauchbar sein kann.

Was muss denn jetzt passieren, damit es endlich richtig losgeht?

Die Zulassung der Vektorimpfstoffe der beiden produktionsstarken Hersteller wird die verfügbaren Impfmengen erheblich steigern. Wir müssen möglichst schnell von den Herstellern verlässlich wissen, wann sie wie viel Impfstoff liefern.

Wer ist denn genau "wir"?

Vor allem die EU-Kommission. Sie muss sich jetzt darum kümmern, dass die Impfstoffe so kommen, wie es vereinbart war. Vor Ort sind wir in Deutschland gut aufgestellt. Wenn wir ausreichend Impfstoff haben, können wir sehr viele Menschen sehr schnell impfen.

Hat die EU-Kommission zu spät Impfstoffe geordert? Das sagt der Pharmakonzern Astrazeneca zur Begründung, warum die EU gegenüber Großbritannien benachteiligt wird.

Das ist derzeit schwer zu beurteilen. Man muss immer zwei Fragen unterscheiden: Wie viel Impfstoff muss man bestellen? Und wann werden die Produkte geliefert? Bestellt hat die EU mehr als genug. Wir benötigen deshalb nicht mehr Impfstoff, sondern wir hätten ihn gerne früher. Und das hängt an den Produktionskapazitäten und an der Verteilung zwischen den Kunden.

Wissen Sie Stand heute, mit wie vielen Dosen Deutschland bis Ende März rechnen kann?

Wir haben bereits 1,3 Millionen Dosen von Biontech letztes Jahr bekommen, bis Ende März sollen rund zehn Millionen Dosen von den beiden bereits zugelassenen Herstellern kommen. Von anderen Unternehmen müssen wir die Zulassung abwarten. Wenn diese erfolgreich verlaufen, können wir auf bis zu 5,6 Millionen Dosen von den weiteren Herstellern hoffen.

Der Impfstoff von Astrazeneca ist offenbar weniger wirksam als der von Biontech. Was ist, wenn Menschen sagen: Bevor ich mich im Frühjahr mit einem schlechteren Impfstoff versorgen lasse, warte ich lieber bis zum Sommer auf einen guten?

Alle zugelassenen Impfstoffe sind empfehlenswert, weil sie alle sehr gut vor Corona schützen.

Aber offenbar haben sie auch eine unterschiedliche Wirksamkeit.

Wenn die Studienlage eine gute Wirksamkeit nicht beweist, gibt es auch keine Zulassung. Angesichts der aktuellen Situation ist es jedoch sehr sinnvoll, sich möglichst schnell impfen zu lassen. Jeder sollte unser Impfangebot deshalb nutzen, sobald sie oder er an der Reihe ist. Unabhängig davon, um welchen Impfstoff es sich handelt.

Haben Bund und Länder wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Produktionskapazitäten zu erhöhen?

Ein Impfstoff hat rund 130 Komponenten, bis er fertig in der Ampulle ist. Daran sieht man, wie komplex die Produktion ist. Deshalb dauert der komplette Neuaufbau von Produktionskapazitäten Jahre. Darauf können wir also nicht setzen. Wir müssen vorhandene Kapazitäten nutzen. Deshalb unterstützen der Bund und Hessen Biontech beim Aufbau seines Werks in Marburg. Und es gibt derzeit Gespräche darüber, ob noch irgendwo in Deutschland Anlagen stehen, die genutzt werden könnten.

Wo denn zum Beispiel?

Sanofi hat jetzt angekündigt, seinen Standort in Frankfurt zu prüfen. Sie können mir glauben: Jedes Tor, das einen Spalt geöffnet ist, stoßen wir gerade auf.

Ein Tor gäbe es noch: Sie könnten Impfstoffe zu öffentlichen Gütern erklären und Hersteller wie Bayer verpflichten, die Vakzine von Biontech oder Astrazeneca zu produzieren. Dann ginge es viel schneller.

In der Marktwirtschaft ist es doch so: Wenn ein Gut knapp ist, muss man Unternehmen nicht zu irgendetwas zwingen. Jede Firma hat dann ein großes Interesse, die Nachfrage zu bedienen. Ich glaube deshalb nicht, dass gerade irgendeine potenzielle Kapazität ungenutzt bleibt.

Selbst die unternehmerfreundliche FDP fordert eine "Krisenproduktion" des Impfstoffs – auch, indem andere Unternehmen das Biontech-Produkt in Lizenz herstellen. Warum sind Sie nicht mutiger und machen das?

Wir sind ganz schön mutig: Der Staat hat der Industrie finanzielle Unterstützung zugesagt, wenn sich irgendeine Produktionsausweitung aus welchen Gründen auch immer nicht betriebswirtschaftlich tragen sollte. Ich habe wirklich nicht den Eindruck, dass irgendeine Kapazität gerade nicht gehoben wird, die durch äußeren Zwang noch zusätzlich gehoben werden könnte.

Wenn Politik ratlos ist, aber Tatkraft demonstrieren will, werden gern Gipfel einberufen. Deshalb gibt es nun am Montag einen Impfgipfel. Ist der mehr als Show?

Natürlich. Alle, die in Deutschland politische Verantwortung tragen, müssen in einer so ernsten Lage wie derzeit an einem Strang ziehen. Gegenseitige Schuldzuweisungen führen uns doch nicht weiter. Deshalb ist es gut, sich zusammenzusetzen und alle Fragen, die auf dem Tisch liegen, zu besprechen.

Welche sind das?

Die haben Sie im Wesentlichen auch schon gestellt: Wann kommt wie viel Impfstoff? Gibt es noch Möglichkeiten, Produktionskapazitäten auf- oder auszubauen? Und so weiter.

Bald steht auch die nächste Runde zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten an, um zu besprechen, wie es nach dem derzeit bis zum 14. Februar befristeten Lockdown weitergeht. Was ist Ihr Plan?

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Bei jedem in Deutschland ist die Sehnsucht nach mehr Freiheiten und mehr Normalität groß. Auch bei mir. Und die gute Nachricht ist: Die Zahl der Infektionen geht deutlich zurück. Das ist ein schöner Erfolg, den sich die Menschen mit ihrer Disziplin und Geduld erarbeitet haben. Dass wir unterhalb der Inzidenz sind, die es vor dem November-Lockdown gab, ist ein wichtiger Meilenstein.

Und wie soll es weitergehen? Ein bisschen Hoffnung täte bestimmt vielen Menschen gut.

Das erste Problem ist, dass wir noch im Winter sind. Da gibt es mehr Atemwegserkrankungen als im Sommer. Das zweite Problem sind die weltweit auftretenden Mutanten des Virus. Deshalb gilt: öffnen ja – aber nicht in die Falle laufen, dass wir im Sinne eines Jo-Jo-Effekts bald wieder steigende Zahlen haben. Wir brauchen also eine Öffnungsstrategie, die den Menschen eine positive Perspektive gibt, die aber nicht das aufs Spiel setzt, was wir uns in harten Monaten erarbeitet haben.

Die schleswig-holsteinische Regierung hat einen Stufenplan vorgeschlagen, der Lockerungen an die Inzidenz in einem Land koppelt: Unter einem Wert von 100 sollen zum Beispiel Kitas und Grundschulen wieder in den Regelbetrieb wechseln und Friseure öffnen. Weitreichende Öffnungen soll es bei einer stabilen Inzidenz unter 35 geben. Ist das ein sinnvoller Weg?

Der Input aus Schleswig-Holstein ist sehr hilfreich.

Ist es richtig, das Infektionsgeschehen auf der Ebene eines Bundeslandes zu betrachten? Bislang standen doch eher die Landkreise im Mittelpunkt.

Genau das müssen wir uns noch genauer anschauen. Ein regionalspezifisches Handeln ist grundsätzlich sinnvoll, aber es gibt eben auch Probleme: Wenn man in einem Landkreis die Schulen aufmacht, im Nachbarkreis aber nicht, werden die Schüler nicht pendeln. Macht man das gleiche aber bei Geschäften oder der Gastronomie, werden die Leute ausweichen.

Und wie lautet Ihr Vorschlag?

Je stärker man regionalisiert, desto mehr braucht man eine Lösung für die Gebiete mit sehr hoher Inzidenz. Die Antwort darauf ist nicht leicht, weil zu Recht die Hürde für alle Beschränkungen, was die Bewegungsfreiheit angeht, ja besonders hoch ist.

Sind Sie eigentlich in den vergangenen Monaten manchmal am Föderalismus verzweifelt?

Nein, der Föderalismus hat einen ganz großen Wert.

Das müssen Sie jetzt sagen, oder?

Nein, es ist meine Überzeugung. Denn der Föderalismus ermöglicht uns, überall gezielt zu handeln. Man kann zentral nicht so gut steuern, wie man es vor Ort kann. Das Problem, das wir im Moment haben, ist ein anderes: Die Menschen sind verwirrt, weil sich die Regeln zwischen den Ländern auch da unterscheiden, wo es nicht durch unterschiedliches Infektionsgeschehen erklärt werden kann, und es deshalb gar keine einheitliche Kommunikation geben kann.

Aber es gibt doch mehr als nur ein Kommunikationsproblem: Bayern hat fast 100 Impfzentren, Nordrhein-Westfalen trotz deutlich mehr Einwohnern nur rund die Hälfte. Die Systeme zur Buchung der Termine funktionieren in einem Land gut, in einem anderen hängen Menschen stundenlang in Warteschleifen oder die Server brechen zusammen.

Der Bund könnte nicht 400 Impfzentren in der ganzen Republik aufbauen. Deshalb ist es gut, dass die Länder sich darum erfolgreich gekümmert haben.

Aber warum gibt es nicht wenigstens eine bundesweite Seite www.impftermin.de für die Buchung?

Weil die Länder gesagt haben, dass sie sich auch um das Terminmanagement kümmern wollen, wenn sie die Impfzentren betreiben. Ich finde den Wunsch nachvollziehbar.

Es hapert allerdings mal wieder am leidigen Thema Digitalisierung. Sie treiben das zwar voran, müssen sich doch aber noch um Dutzende andere Themen kümmern. Bräuchte es nicht so eine Art Digitalisierungs-Zar bei uns – so wie die USA mit Anthony Fauci einen Impf-Zar haben?

Ob ein Zar uns helfen würde, glaube ich nicht. Aber wir haben ja mit Dorothee Bär eine Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt. Und die treibt die Themen ständig voran – und nicht nur, wenn der Kanzleramtschef gerade mal Zeit hat.

Was ist eigentlich Ihre wichtigste Lehre aus den vergangenen Monaten?

Dass niedrige Infektionszahlen für alles besser sind: für die Wirtschaft, für unsere Freiheiten, für den sozialen Zusammenhalt. Deshalb muss bei einem Anstieg der Zahlen auch schnell gehandelt werden. Diese Erkenntnis hilft uns hoffentlich auch, damit wir gut durch die nächsten Wochen kommen.

Wir dachten an eine andere Lehre, die Sie und die Kanzlerin offenbar gezogen haben: Dass die Schuldenbremse des Grundgesetzes ausgesetzt werden muss.

Zunächst einmal war der Diskussionsbeitrag, auf den Sie anspielen, von mir.

Damit haben Sie immerhin fast die gesamte Union gegen sich aufgebracht.

Mein Vorschlag, wie wir nach der Pandemie verlässlich zur schwarzen Null zurückkehren, war nicht als Angriff auf die Schuldenbremse gedacht.

Man könnte auch auf die Idee kommen, dass Sie mit Ihrer Forderung weitsichtiger sind als Ihre Kritiker: Irgendwo muss das Geld für die Behebung der Corona-Folgen ja herkommen. Die Union will keine Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen sind politisch in der Regel nicht durchsetzbar.

Das ist das, was mir am Herzen liegt: Wir sollten uns jetzt schon Gedanken machen, wie sich die Wirtschaft nach der Pandemie erholen kann: Steuererhöhungen schaden nur, die Sozialabgaben sollten nicht über 40 Prozent steigen, und die Stromkosten müssen sinken. Jetzt müssen wir gemeinsam einen Weg finden, wie wir das auch finanziell darstellen können.

Vielleicht war Ihre Forderung auch nur ein verstecktes Angebot an den künftigen Koalitionspartner: Die Grünen fordern ebenfalls eine Reform der Schuldenbremse.

Es ist im Moment wirklich nicht die Zeit für Spekulationen, was nach der Bundestagswahl sein wird. Wir müssen uns mit aller Kraft darauf konzentrieren, dass Deutschland gut aus der Pandemie rauskommt.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Interviews war davon die Rede, dass Deutschland bis Ende März 20,3 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen würden. Diese Zahl war falsch. Es handelt sich um insgesamt 16,9 Millionen Impfdosen. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.

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