Was heute wichtig ist Merkel erscheint in einem neuen Licht
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages – heute von mir als Stellvertreter von Florian Harms:
WAS WAR?
Knapp 90.000 Einwohner hat die Gemeinde Ixelles. Auf knapp sieben Quadratkilometern. An diesem Ort wurde Ursula von der Leyen 1958 geboren. Hier ging sie auf die "Europäische Schule". Die Gemeinde gehört – raten Sie mal – zu Brüssel. Knapp 61 Jahre nach ihrer Geburt soll von der Leyen zurückkehren – an die Spitze der Europäischen Union, als Kommissionspräsidentin. Darauf einigten sich gestern Abend die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Sie beendeten damit ein wochenlanges Geschacher um die Posten nach der EU-Wahl im Mai. Natürlich muss von der Leyen im EU-Parlament noch gewählt werden.
Diese Personalie kommt erst einmal aus dem Nichts.
Und auf den ersten Blick spricht vieles gegen von der Leyen, das belegen nicht nur erste Reaktionen – auch aus dem Europaparlament. Sie scheint der kleinste gemeinsame Nenner, nicht die am besten geeignete Kandidatin. Sie hatte mit Europapolitik in ihrer Karriere wenig zu tun. Sie tauchte auch im Wahlkampf der Europäischen Volkspartei überhaupt nicht auf. Und als Verteidigungsministerin im Kabinett Merkel machte sie in den vergangenen Jahren – vorsichtig formuliert – nicht die beste Figur. Ihre Amtszeit war durchzogen von Skandalen, Affären und Problemen. Ihr Standing in der Truppe? Äußerst überschaubar. Von der Leyen galt einst als Kronprinzessin Angela Merkels – doch sie selbst erkannte, dass "aus jeder Generation nur eine Person Kanzler werden kann". In ihrer sei das eben Merkel. Von der Leyen würde nicht mehr Kanzlerin werden, so viel war klar.
Kann diese Ursula von der Leyen nun die EU mit Kraft, Inspiration und Geschick in eine erfolgreiche Zukunft führen?
Zweifel daran sind ganz sicher angebracht. Und doch gibt es sechs Gründe, warum sie diese Chance verdient hat.
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Grund Nummer eins: Von der Leyen hat spätestens als Verteidigungsministerin auch international viel Erfahrung gesammelt. Auf der Berliner Sicherheitskonferenz warb sie im vergangenen Jahr für eine "Armee der Europäer" und eine engere Verzahnung von Streitkräften und Rüstungsindustrien für ein Friedensprojekt. Im Kreise der Nato-Partner genießt sie seitdem hohes Ansehen.
Grund Nummer zwei: Sie spricht fließend Französisch, konnte mit ihrer französischen Kollegin Florence Parly in der zweiten Muttersprache vor die TV-Kameras treten. Ein riesiger Vorteil im neuen Job.
Grund Nummer drei: Sie forcierte bei der Bundeswehr eine stärkere Rolle von Frauen und einen offenen Umgang mit Homosexualität – trotz Skepsis und Widerständen in der von Männern dominierten Truppe. Mut kann sie als Kommissionspräsidentin gebrauchen.
Grund Nummer vier: Von der Leyen wäre die erste Frau auf dem Posten. Es wird Zeit, dass die EU auch mal von einer Frau geführt wird.
Grund Nummer fünf: Dank dieser Personalie ist Schluss mit den Blockaden verschiedener Mitgliedstaaten, die eine frühere Einigung in den zähen Verhandlungen um das Personal-Tableau verhindert haben. Abgesehen von Merkel, die sich aus gutem Grund enthielt, haben die Regierungschefs aller Mitgliedstaaten für von der Leyen votiert. Eine gute Grundlage. Hintergrund ist auch, dass von der Leyen im Vergleich zu Weber langjährige Regierungserfahrung hat – im Kabinett Merkel.
Grund Nummer sechs: Laut einer YouGov-Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur kannte selbst einen Monat vor der Europawahl nur jeder vierte Deutsche den eigentlichen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber. 45 Prozent der Befragten kannten keinen der Spitzenkandidaten der im Bundestag vertretenen Parteien. Das Argument, dass Wähler sich hintergangen fühlen könnten, weil nun ganz neue Personalien eine Rolle spielen, ist also keines. Es ging ohnehin offensichtlich nicht um diese Personen.
Immer mal wieder wurde von der Leyen in den vergangenen Jahren mit einem Amt auf europäischer Ebene in Verbindung gebracht. Nun muss sie Mitte Juli nur noch von mindestens 376 der 751 Abgeordneten im EU-Parlament als Kommissionspräsidentin bestätigt werden. Dann kann sie beweisen, dass die Regierungschefs doch die richtige Wahl getroffen haben.
So wird von der Leyen überraschend zur Gewinnerin – doch ein noch größerer Erfolg ist die Personal-Rochade für jemand anderen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Hintergrund – vielleicht zum letzten Mal – die Fäden gezogen. Von der Leyen soll Kommissionspräsidentin werden, die Merkel-Vertraute Christine Lagarde an die Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) rücken und selbst Weber darf sich noch Hoffnungen machen, dass er den zweiten Teil der fünfjährigen Präsidentschaft im Europäischen Parlament übernehmen darf. Eine überraschende Wende, nachdem Merkel ihren Einfluss zuletzt eingebüßt zu haben schien.
Auch die Zurückhaltung Merkels im Europa-Wahlkampf erscheint nun in einem neuen Licht.
Carola Rackete ist frei. Gestern Abend hob ein Gericht in Sizilien den gegen die Kapitänin der "Sea-Watch 3" verhängten Hausarrest auf. Die 31-Jährige hatte mit 41 Flüchtlingen an Bord trotz eines Verbots der Behörden im Hafen von Lampedusa angelegt, damit gegen ein umstrittenes Sicherheitsdekret der italienischen Regierung verstoßen und den Zorn von Innenminister Salvini auf sich gezogen. Daraufhin wurde sie zu Unrecht unter Arrest gestellt, wie das Gericht mit einer klaren Begründung deutlich machte. Warum die rechtliche Lage so kompliziert ist, erklärt mein Kollege David Ruch hier.
Gut, dass Rackete frei ist. Das Problem aber bleibt. Die Staats- und Regierungschefs müssen sich endlich auf eine vernünftige Linie in Migrationsfragen einigen. Der Fall Rackete wird leider längst nicht der letzte dieser Art sein.
WAS STEHT AN?
Nach dem EU-Gipfel und der Einigung der Staats- und Regierungschefs gehen heute vier Kandidaten ins Rennen um den Posten des Präsidenten des Europäischen Parlaments: Die deutsche Grüne Ska Keller, die Spanierin Sira Rego, der Italiener David-Maria Sassoli und der Tscheche Jan Zahradil. Ab 9 Uhr wird gewählt.
Es ist der größte Waldbrand in der Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. Gestern Abend hatte sich das Feuer in Lübtheen auf 1.200 Hektar ausgebreitet. Mit vereinten Kräften wollen Feuerwehr, Bundeswehr und Polizei heute gemeinsam weiter gegen die Flammen kämpfen. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hat bereits ihren Urlaub unterbrochen, um den Einsatzkräften "den Rücken zu stärken". Es verdichten sich die Anzeichen für Brandstiftung. Die neuesten Informationen finden Sie im Newsblog.
Brandstiftung in Lübtheen? Fakt ist, dass bei anhaltender, hoher Trockenheit die Gefahr von Waldbränden steigt. Die betroffenen Flächen werden immer größer. Meine Kollegin Jennifer Buchholz erklärt, was das für Waldspaziergänger bedeutet, was man beachten sollte und welche verschiedenen Stufen es gibt.
Weitere Statistiken, Grafiken und Informationen von Statista finden Sie hier.
Wie viel von der Entwicklung geht auf die Klimakrise zurück? Mit dieser Frage hat sich Nathalie Helene Rippich hier befasst.
Endlich mal wieder Brexit. Der irische Präsident Michael D. Higgins kommt mit seiner Frau Sabina zu einem dreitägigen Staatsbesuch nach Deutschland. Zum Auftakt wird ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heute im Schloss Bellevue mit militärischen Ehren begrüßen, später empfängt ihn Bundeskanzlerin Merkel. Eines der Themen: Das Problem, dass aus Sicht der Europäischen Union keine neue Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland entstehen darf. Higgins wird als erster irischer Präsident auch Ostdeutschland besuchen: Am Donnerstag kommt er nach Leipzig. Besser spät als nie.
WAS LESEN UND ANSCHAUEN?
Facebook plant eine eigene Weltwährung, die der Konzern gemeinsam mit 100 weiteren Unternehmen bis zum kommenden Jahr auf den Markt bringen will. "Stable Coin" – das stabile Geld. Wenn Sie sich auch fragen, wie stabil die Währung einer Firma sein kann, die nicht einmal mit Nutzerdaten sorgsam umgehen kann, empfehle ich diesen Text unserer Kolumnistin Ursula Weidenfeld. Sie hat noch weitere spannende Fragen aufgeworfen.
Sie haben vor, mit Kind in den Urlaub zu fliegen? Dann gehen Sie mit ihm vor dem Start am besten noch einmal zur Toilette. Es könnte ja sein, dass sich der Start verzögert. Und verzögert. Und verzögert. Und die Besatzung Sie trotzdem nicht zum WC lässt. In einer Ryanair-Maschine hat sich nämlich genau das abgespielt. Nach einer Stunde Wartezeit und noch 45 Minuten vor der neuen Startzeit musste ein Fünfjähriger mal, durfte aber nicht. Was sollte der Junge da machen? Die empörte Mutter hat meiner Kollegin Frederike Gramm von dem Vorfall erzählt.
WAS AMÜSIERT MICH?
Wie würde Karl Lagerfeld wohl als Spinne aussehen? Wahrscheinlich so.
Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag. Morgen schreibt wie gewohnt Florian Harms für Sie.
Ihr
Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Twitter: @florianwichert
Mit Material von dpa.
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