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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tauziehen um Seenotretter Italien gegen die "Sea-Watch 3"-Kapitänin: Wer ist im Recht?
Auf eigene Faust steuerte die Kapitänin der "Sea-Watch 3" ihr Schiff in den Hafen von Lampedusa. Italien sagt, damit habe die 31-Jährige gegen Gesetze verstoßen. Die Seenotretterin sah sich hingegen dazu gezwungen. Wer hat recht?
Nach mehr als zwei Wochen Irrfahrt auf dem Mittelmeer hat das Rettungsschiff "Sea-Watch 3" in der Nacht zu Samstag ohne Zustimmung der italienischen Behörden im Hafen der Mittelmeerinsel Lampedusa angelegt. Wenig später betraten Polizisten das Boot mit 40 Flüchtlingen an Bord und führten die Kapitänin Carola Rackete ab. Seither steht die 31-Jährige unter Hausarrest. Am Dienstag sollte ein Gericht auf Sizilien entscheiden, ob der Arrest aufgehoben wird.
Rackete und ihre Besatzung haben mit ihrer spektakulären Aktion den Zorn der Regierung aus Populisten und Rechtsextremen in Rom heraufbeschworen. Innenminister Matteo Salvini, berüchtigt für seinen rigorosen Kurs gegenüber Seenotrettern, bezeichnete die deutsche Kapitänin als Piratin und kündigte juristische Konsequenzen an. Doch der Umgang mit der Sea-Watch ist politisch wie juristisch umstritten. Italien pocht auf sein Hoheitsrecht in heimischen Gewässern. Die Flüchtlingshelfer sehen das Seerecht und das Völkerrecht auf ihrer Seite. Ein Überblick.
Salvini sieht "Verbrecher" am Werk
Für Innenminister Salvini ist die Aktion der "Sea-Watch 3" der Beweis, dass die Seenotretter "Kriminelle" und "Verbrecher" seien. Italiens Justiz wirft der Kapitänin Widerstand gegen die Staatsgewalt und Gewalt gegen Kriegsschiffe vor. Sie hatte mit ihrem Schiff ein Militärboot leicht touchiert, das ihr den Weg versperren wollte. Rackete werden aber auch Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts zur Last gelegt. Ihr drohen im schlimmsten Fall drei bis zehn Jahre Haft. Die Anwälte der 31-Jährigen argumentieren, Rackete habe aus einer Notsituation heraus gehandelt, 36 Stunden lang hätten die Behörden ihre Notrufe ignoriert.
Es ist das souveräne Recht eines Staates, seine Häfen zu sperren, wenn es durch das Anlegen bestimmter Schiffe seine nationale Sicherheit bedroht sieht. So argumentiert Rom nicht erst seit dem Amtsantritt der aktuellen Regierung, um seine harte Haltung gegenüber Seenotrettern zu rechtfertigen. Mehrfach wurden Gesetze mit der Begründung verschärft, dass man bereits zu viele Flüchtlinge aufgenommen habe. Darin schwingt auch deutliche Kritik an den europäischen Partnern mit, von denen sich Italien in der Frage der Bootsflüchtlinge weitgehend allein gelassen fühlt.
In der Tat waren die EU-Länder bislang nicht in der Lage, sich auf einen allgemein gültigen Mechanismus zur Verteilung der Bootsflüchtlinge zu einigen. Daran hat aber auch der erhebliche Druck der aktuellen Regierung in Rom, die seit einem Jahr die Häfen für Seenotretter gesperrt hat, nichts geändert. Allerdings ist auch nicht zu erwarten, dass Italien bei einem Entgegenkommen Brüssels von seiner flüchtlingsfeindlichen Position abrückt.
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Erst kürzlich hatte Italien die Regelungen für Seenotretter nochmals verschärft. Ein von Innenminister Salvini eingebrachtes und vom Kabinett verabschiedetes Dekret sieht Geldstrafen zwischen 10.000 und 50.000 Euro für private Schiffe vor, die mit Geretteten an Bord unerlaubt in italienische Hoheitsgewässer fahren.
Retten ist Pflicht
Italiens Verweis auf die nationale Sicherheit steht die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot gegenüber. Diese Pflicht gilt für staatliche wie private Schiffe und ergibt sich laut Rechtsexperten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages aus der Tradition der Seefahrt und dem ungeschriebenen Völkergewohnheitsrecht. Auch internationale Seerechtsübereinkommen und Resolutionen regeln die Seenotrettung.
"Seenot" ist nicht genau definiert. Generell muss denen geholfen werden, die von allein "nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen" – egal ob auf hoher See oder in Küstengewässern. Darunter fällt auch, wenn Boote überbelegt oder manövrierunfähig sind, oder wenn Nahrung und Wasser fehlen. Zur Rettung verpflichtet sind Schiffe, die als erste zufällig Menschen in Seenot entdecken.
Gerettete sollen laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) an einen sicheren Ort gebracht werden. Das muss nicht der nächste Hafen, sondern kann auch ein größeres Schiff sein. Die Hilfsorganisation Sea-Watch argumentiert im aktuellen Fall, dass Lampedusa das nächstgelegene sichere Ziel gewesen wäre. Eine längere Fahrt mit dem vollbesetzten Boot wäre für die Geflüchteten nicht sicher gewesen. Denn die "Sea-Watch 3" sei kein Passagierschiff, die Geflüchteten hätten praktisch die komplette Zeit an Deck verbringen müssen.
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Italien hingegen ist der Auffassung, dass die Flüchtlinge auch in Afrika in Sicherheit seien, sie könnten demnach im Mittelmeer aufgegriffen und an die libysche Küste zurückgebracht werden. Die dortige Küstenwache hatte die "Sea-Watch 3" nach der Aufnahme der Geretteten am 12. Juni aufgefordert, den "sicheren Hafen" von Tripolis anzusteuern. Italiens Innenminister Matteo Salvini sagte an die Adresse der Schiffsbesatzung, sie solle den libyschen Anweisungen Folge leisten.
Libyen ist kein "sicherer Hafen"
Dem leistete die "Sea-Watch 3" allerdings nicht Folge. Rackete hatte dafür wohl auch gute Gründe. Denn Libyen ist einiges, aber nicht sicher. Die Macht der international anerkannten Regierung erstreckt sich kaum über das Umland der Hauptstadt hinaus. Den Großteil des Landes kontrolliert ein Bündnis bewaffneter Gruppen unter dem Ex-General Chalifa Haftar. Beide Parteien ringen um die Macht in Libyen. Seit Wochen toben Kämpfe um Tripolis, denen bereits Hunderte Menschen zum Opfer fielen.
Darüber hinaus haben Menschenrechtsorganisationen und Reporter schlimmste Verbrechen gegen Flüchtlinge in Libyen dokumentiert. Sie würden vielfach in Lagern bewaffneter Gangs gefangen gehalten, ihnen drohten Folter, Sklaverei und schwerste Misshandlungen. Der Einschätzung, dass die Sicherheit von Flüchtlingen in Libyen nicht gewährleistet ist, hat sich auch die Bundesregierung angeschlossen.
- Pressespiegel: "Die Empörung hat eine heuchlerische Note"
- Meinung: Erlernte Hilflosigkeit
- "Sea-Watch 3"-Kapitänin: Carola Rackete bleibt in Hausarrest
- Analyse: Die Nicht-Inszenierung der Carola Rackete
Zahlreiche Politiker äußerten ihr Verständnis für das Verhalten Racketes. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) sagte, die Kapitänin habe mutig agiert. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) erklärte, Rackete habe "in einer absoluten Notlage" gehandelt. "Deswegen erwarte ich, dass Brüssel hier ein deutliches Signal sendet und die sofortige Freilassung einfordert", sagte er der "Passauer Neuen Presse".
Auch Außenminister Heiko Maas sprach sich dafür aus, Rackete auf freien Fuß zu setzen. Zugleich forderte er, die Arbeit der Seenotretter sollte nicht kriminalisiert werden. "Aus unserer Sicht kann am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens nur die Freilassung von Carola Rackete stehen", schrieb er auf Twitter.
- "Zeit Online": Das sind die Gesetze des Meeres
- "NZZ": "Sea-Watch 3" legt im Hafen von Lampedusa an
- "NY Times": New Test for Italy’s Hard-Line Migrant Policies
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters
- Eigene Recherchen