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Tagesanbruch: Europawahl – Die größten Gewinner sind wir Bürger


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Was heute wichtig ist
Das Klima in Deutschland verändert sich

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.05.2019Lesedauer: 8 Min.
Grünen-Politiker Kellner, Giegold, Baerbock und Neumann.Vergrößern des Bildes
Grünen-Politiker Kellner, Giegold, Baerbock und Neumann. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute verdienen Sie zuerst ein großes Dankeschön. In der vergangenen Woche hat der Tagesanbruch erstmals eine Leserzahl von mehr als 333.000 erreicht, damit ist er das meistgelesene Morning Briefing in Deutschland. Für Ihre Treue bedanke ich mich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen von t-online.de in Berlin, Frankfurt, Washington und Melbourne sehr herzlich. Wenn Sie mögen, empfehlen Sie den Tagesanbruch gerne weiter.

WAS WAR?

Der gestrige Sonntag hat das politische Gefüge in Deutschland und Europa durchgerüttelt. Wer nach diesen Wahlen noch glaubt, es könne alles so weitergehen wie bisher, ist entweder blind oder ignorant. Deutschland braucht in einem entscheidenden Politikfeld einen Neuanfang. Der Überblick über die Gewinner und Verlierer des Wahltags:

Die größten Gewinner sind wir Bürger. Sowohl bei der Europa- als auch bei der Bremen-Wahl ist die Beteiligung stark gestiegen. Das ist ein gutes Zeichen für unsere lebendige Demokratie.

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Das wichtigste Signal: Das Klima in Deutschland verändert sich – nicht nur das in der Natur, auch das in der Politik. Die Bürger wollen einen Politikwechsel beim Klimaschutz. Und sie wollen ihn jetzt.

Die großen Gewinner unter den Parteien sind die Grünen. Sie sind die Einzigen, denen in der Klimapolitik wirklich Glaubwürdigkeit und Kompetenz beigemessen werden. Sie haben erkannt, dass die globale Krise sofortiges und entschiedenes Handeln erfordert. Bei Deutschen unter 60 Jahren sind sie zur stärksten Partei aufgestiegen: Ihr beeindruckendes Wahlergebnis ist ein enormer Vertrauensvorschuss – aber zugleich eine große Verpflichtung, die in sie gesetzten Hoffnungen nun nicht zu enttäuschen. Es gibt viel zu tun, auch aus der Opposition heraus. Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme in Berlin, hat die ambitionslose Klimapolitik der Bundesregierung am Wochenende in einer Grafik entlarvt und dazu geschrieben:

“Fake News:
1. Klimaziele von CDU und SPD reichen für Pariser Abkommen.
2. Deutschland ist beim Klimaschutz auf gutem Weg.
3. Kohleausstieg 2038 ist schnell genug.
Faktencheck: Stimmt alles nicht.“

Die großen Verlierer der Europawahl sind die Volksparteien. In Frankreich, Italien und Großbritannien ist ihre Wählerbasis bereits erodiert. In Deutschland werden CDU und SPD mit den schlechtesten Ergebnissen bei bundesweiten Wahlen seit Bestehen der Bundesrepublik abgestraft. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Konzept Volkspartei nicht mehr funktioniert – sondern dass jene, die sich bisher Volksparteien nannten, diesen Status verlieren. Ihre rückwärtsgewandten Programme, ihre trägen Organisationsstrukturen, ihre altbackene Kommunikation und offenkundig auch viele ihrer Kandidaten werden von immer mehr Bürgern als nicht mehr zeitgemäß empfunden. In Deutschland sind stattdessen die progressiven Grünen drauf und dran, sich zur neuen Volkspartei aufzuschwingen; in Frankreich und Italien sind es die Rechtspopulisten.

Die größte Verliererin der EU- und der Bremen-Wahl ist die SPD. Sie kann den Wählern nicht mehr vermitteln, wofür sie eigentlich steht. “Eine Partei in Trümmern“ hat unser Reporter Jonas Schaible seine Analyse betitelt.

Gäbe es in der Politik die Kategorie Mitleid, die Sozialdemokraten könnten noch monatelang davon zehren. Tatsächlich ist die Partei aber drauf und dran, bald von gar nichts mehr zu zehren; sie droht, in der Irrelevanz zu versinken. Ob die SPD sich vom Stakkato der Rückschläge jemals wieder erholen kann, ist offen. Wenn überhaupt, wird es ihr wohl nur gelingen, indem sie sich programmatisch, organisatorisch und personell neu aufstellt. Andrea Nahles‘ Zeit als Parteivorsitzende ist seit gestern zu Ende. Formal mag sie noch eine Zeit lang am Chefsessel kleben, aber ihre Autorität ist futsch. Wer folgt ihr nach? Martin Schulz arbeitet an einem Comeback. Der hat schon einmal gezeigt, dass er es nicht kann.

Auch Annegret Kramp-Karrenbauer zählt zu den Verlierern dieser Wahlen. Dank des Triumphs des erfrischenden Politikneulings Carsten Meyer-Heder in Bremen kann sie wenigstens dort auf einen CDU-Erfolg verweisen. Aber das Ergebnis der Europawahl ist eine Klatsche für die neue Parteichefin. Damit ist ihr Plan, Angela Merkel mehr oder weniger geräuschlos auch im Kanzleramt abzulösen, kaum mehr umsetzbar. Stattdessen steht ihr ein dorniger Weg bevor, und es ist ungewiss, ob er sie ans Ziel führen wird. Ihre Kontrahenten dürfen nun Morgenluft schnuppern: der bei der Wahl zum Parteichef knapp unterlegene, aber immer noch ehrgeizige Friedrich Merz, der aus der Beobachterposition stichelnde Armin Laschet und vielleicht auch der progressive Daniel Günther aus Schleswig-Holstein, der Kramp-Karrenbauers restaurativen Kurs ohnehin kritisch sieht.

Die Bundeskanzlerin erfreut sich nach wie vor hoher Zustimmungswerte, aber auch sie steht nach dieser Europawahl beschädigt da. Ihre Klimapolitik ist ein müdes Taktieren nach typisch Merkelschem Muster: ein Trippelschrittchen hier, eines da, und wenn es hakt, wird das Problem in eine Kommission abgeschoben. So hat sie den Klimaschutz jahrelang unter ferner liefen behandelt, und bis heute ist es nicht wirklich besser geworden. Das wird sie ändern müssen, wenn sie die Stimmung in der Bevölkerung ernst nimmt (was sie gewöhnlich tut). So oder so stehen ihr anstrengende Wochen in Brüssel bevor. Alle Spitzenposten in der EU werden neu besetzt, und das erstarkte Parlament will es nicht dulden, dass diese in den Hinterzimmern der Staats- und Regierungschefs ausgehandelt werden. Anschließend beginnen die nervenzehrenden Haushaltsverhandlungen.

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Die AfD hat bei der Europawahl einen kleinen Erfolg eingefahren, hatte sich aber deutlich mehr erhofft. Ihr hat die Nähe zum österreichischen Skandalpolitiker Strache geschadet, vielleicht auch ihre absurde Leugnung der Erderhitzung. Gleichwohl ist sie nun auch in Europa endgültig im politischen Koordinatensystem verankert. In Sachsen und Brandenburg ist sie sogar stärkste Partei geworden, in Thüringen liegt sie nur knapp hinter der CDU – genau dort also, wo im Herbst Landtagswahlen anstehen. Das wird ein heißer Wahlkampfsommer in Ostdeutschland.

Die CSU darf sich ein kleines bisschen über ihren Achtungserfolg freuen, anders als die CDU hat sie Stimmen hinzugewonnen. Gleichwohl: Für ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber ist das zu wenig. Es dürfte schwer für ihn werden, seine Ambitionen auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten durchzusetzen. Die Mehrheit im EU-Parlament haben Christ- und Sozialdemokraten eingebüßt, sie sind auf die Liberalen angewiesen – und dort dominieren nun die Gefolgsleute des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Der kann aber mit dem Spitzenkandidatenprinzip ebenso wenig anfangen wie mit Manfred Weber. Sein Wunschkandidat wäre wohl Brexit-Unterhändler Michel Barnier. Auch der unerschrockenen Dänin Margrethe Vestager werden in diesem Lager Chancen eingeräumt.

Und die FDP? Hat es nicht geschafft, mit ihren Themen zu punkten. In völliger Verkennung der gesellschaftlichen Stimmung machte sich Parteichef Christian Lindner über die Klimademonstranten lustig. Gestern Abend räumte er ein, “Dinge falsch eingeschätzt“ zu haben. Die Liberalen werden in puncto Klimaschutz nun nachsitzen müssen, ebenso wie auch die Linke.

Schlussendlich: Der Satiriker Martin Sonneborn von “Der Partei“ schafft es abermals ins Europaparlament und bekommt nun sogar Verstärkung. Er will dort allerdings alles andere als Quatsch machen.

Fazit: Das Ergebnis der Europawahl ist eine Ohrfeige für Union und SPD. Sie sollten ihre träge Klimapolitik schnell beschleunigen. Deutschland kann beim Klimaschutz weltweit Vorreiter werden und andere Staaten mitziehen.


Historiker sind die Profis in der Deutung der Zeitläufe. Fällen sie ihr Urteil, schielen sie nicht so sehr auf das Handeln mächtiger Einzelpersonen, sondern eher auf Entwicklungslinien, Trends, Strukturen. Es sollte uns nicht überraschen, wenn sie dereinst zum Beispiel eine Gestalt wie Donald Trump nur als Symptom beschreiben, als Produkt der gesellschaftlichen Kräfte, die ihn ins Amt trugen. Manchmal allerdings lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass ein einzelner Mensch die Weichen gestellt und dem Schicksal einer Nation die Richtung gegeben hat. Im Stillen wünscht sich das wohl jeder Spitzenpolitiker: ein wahrhaft historisches Erbe zu hinterlassen, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern. Gelegentlich geschieht das allerdings auch, wenn man es vergeigt.

In der Hausnummer 10 einer Londoner Straße wohnt eine Dame, der diese Gedanken derzeit vielleicht durch den Kopf gehen. Aber halt! Theresa May wäre nicht Theresa May, wenn solche Selbstkritik in ihrem Oberstübchen plötzlich Einzug gehalten hätte. Wie ein Roboter ist sie ihren politischen Kurs durchgerattert: legendär beratungsresistent, stur bis zur Unfassbarkeit, ein Fels in der Brandung des historischen Tumults – nur leider einer, an dem die Schiffe zerschellen. "She and her colleagues will be damned by history", urteilt der “Guardian"-Kolumnist Owen Jones in einer TV-Tirade.

Ist das zu hart? Das Brexit-Referendum umzusetzen und Großbritannien mit Würde und Erfolg aus der EU zu führen, ist für niemanden eine beneidenswerte Aufgabe. Ob sie unlösbar war, haben wir leider nicht herausfinden können. Denn die britische Premierministerin hat uns nicht gezeigt, wohin die vielversprechenden Pfade führen. Stattdessen ist es ihre historische Leistung, die Spaltung in einem gespaltenen Land vertieft, den Hetzreden der Populisten gegen das Parlament ihren offiziellen Segen gegeben und den Brexit-Karren mit dem immergleichen Konzept vor die immergleiche Wand gefahren zu haben. Immer wieder dasselbe zu tun, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten, sei der Inbegriff des Wahnsinns, soll Albert Einstein gesagt haben. Wäre das wirklich die klinische Definition, müssten wir uns Sorgen machen um Frau May, die erfolglose Abstimmungen im Parlament als eine Art Kreisverkehr begriff.

Wie niederschmetternd ihre Bilanz ausfällt, offenbart sich darin, dass sie ihren Abgang verkündet hat und sich dennoch nicht der geringste Hoffnungsschimmer damit verbindet. Den Brexit-Extremisten in ihrer eigenen Partei hat sie mit ihrem Mantra vom "Brexit means Brexit" über Jahre in die Hände gespielt. Es wäre nicht nur legitim, sondern vielleicht der einzig gangbare Weg gewesen, den Volksentscheid zugunsten des Brexit nicht als Freibrief zum Durchmarsch zu missbrauchen, sondern am Ende der Verhandlungen das Ergebnis den Auftraggebern, dem britischen Volk, zur Beurteilung vorzulegen. Stattdessen hat Frau May die schmale Mehrheit für den Ausstieg aus der EU mit fast religiöser Inbrunst zu einer Entscheidung mit Ewigkeitswert stilisiert. Als wäre der Gedanke einer regelmäßigen Revision durch die Wähler der Demokratie fremd und nicht ihr Wesenskern. Polit-Clowns wie Nigel Farage und Boris Johnson hat sie damit noch stärker gemacht.

Wenig Mitleid haben die Tränen der Theresa May bekommen, als sie vor die Mikrofone trat und das Ende ihrer Ära verkündete. Sie hat ihr Land nicht durch ein Tal der Tränen zu einer besseren Zukunft geführt, sondern nur in das Tal hinein. Nun geht es nirgendwo mehr weiter und leider auch nicht mehr zurück, aber jetzt darf es eben mal jemand anderes probieren (hier die Kandidaten). Immerhin, sie selbst hat ihren Platz ja schon gefunden: in den Geschichtsbüchern.


WAS STEHT AN?

Den ganzen Tag werden die Parteien die Wahlergebnisse diskutieren, analysieren, kommentieren (und manche werden auch lamentieren). In Brüssel beginnt das Tauziehen um den Posten des Kommissionspräsidenten. Unser Politikteam versorgt Sie auf t-online.de mit Nachrichten, Einordnung und Hintergründen.

In Österreich debattiert das Parlament über die Regierungskrise. Ein Misstrauensvotum gegen Kanzler Sebastian Kurz wird erwartet.


WAS LESEN?

Kristina Vogels Lebensgeschichte enthält viele Höhen und einen bitteren Tiefpunkt. Als Bahnradsportlerin errang sie alle Titel, die man gewinnen kann. Dann widerfuhr ihr im vergangenen Jahr ein schrecklicher Trainingsunfall, seit dem die 28-Jährige querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Vor einigen Tagen besuchte sie uns in unserem Newsroom und gab meinen Kollegen Sandra Sperling und Robert Hiersemann ein lesens- und sehenswertes Interview: Es zeigt, wie man sich vom Schicksal nicht unterkriegen lässt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenbeginn.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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