Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Peter Altmaier prescht wild telefonierend durch die Flure des Reichstagsgebäudes. Wolfgang Schäuble beschwört in der CDU-Fraktion den europäischen Geist. Angela Merkel bittet inständig um mehr Zeit. Alexander Dobrindt spricht von einer "historischen Situation", Markus Söder vom "Endspiel um die Glaubwürdigkeit". Selten haben sich im Bundestag so erregte Szenen abgespielt wie gestern.
Die große Koalition hatte sich viele andere Projekte vorgenommen, aber schon drei Monate nach ihrem Neustart hat das Flüchtlings- und Migrationsthema sie wieder eingeholt – und die Union gespalten. Die CSU hat den Eindruck, dass immer mehr Bürger sich nach dem Bamf-Skandal und dem Mord an Susanna F. harte und schnelle Lösungen wünschen. Deshalb beharrt sie darauf, sämtliche 63 Punkte ihres "Masterplans Migration" umzusetzen – auch den, der nun die Koalition ins Wanken bringt: Flüchtlinge, die in einem anderen europäischen Land mit Fingerabdruck registriert worden sind, sollen an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden. Merkel fürchtet, dass ein deutscher Alleingang weitere Alleingänge anderer EU-Staaten nach sich zöge, wohl zu Recht. Ein Spaltpilz für die Europäische Union, die doch eigentlich stärker zusammenwachsen müsste, um in der multipolaren Welt zu bestehen. Die Kanzlerin will deshalb versuchen, beim EU-Gipfel in zwei Wochen eine "große Lösung" auszuhandeln.
Aber die CSU erhöht Stunde um Stunde den Druck; Seehofer droht damit, den "Masterplan" notfalls ab Montag per Ministererlass durchzuziehen. "Die CSU erweckt erfolgreich den Eindruck, die Zeit dränge enorm, auch wenn keiner so genau erklären kann, warum sie jetzt so sehr drängt", schreibt unser Parlamentsreporter Jonas Schaible, der das Drama gestern im Bundestag beobachtet hat. Denn die viel beschworene Zurückweisung von Ausländern wird in Bayern längst im großen Stil praktiziert. Rund die Hälfte aller Migranten, die an der bayerisch-österreichischen Grenze unerlaubt einreisen wollen, wird dort schon jetzt abgewiesen.
Diese Tatsache einerseits und der künstlich aufgebaute Zeitdruck der CSU andererseits zeigen: In Wahrheit geht es um mehr als nur die Asylpolitik. Es geht um Symbole und um Macht. Anders als zu seiner Zeit als bayerischer Ministerpräsident sitzt Seehofer nun in Merkels Kabinett und unterliegt ihrer Richtlinienkompetenz. Zugleich nutzt er es aus, dass Merkel von der Unterstützung seiner CSU abhängig ist. Dieser Eindruck drängt sich auf: Die "jungen Wilden" in der CSU – Söder, Dobrindt, Scheuer, Blume – versuchen, Merkel kleinzukriegen; und Seehofer lässt sie gewähren. Gibt Merkel nach, ist ihre Autorität passé und sie hat künftig einen CSU-Nebenkanzler. Beharrt sie auf ihrer im Kern liberalen Flüchtlingspolitik, riskiert sie den Bruch mit der CSU und damit ihre Kanzlerschaft.
Noch brisanter wird die Situation, weil Seehofer die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite wähnt. Merkel hat eher nicht die Mehrheit, und vielleicht hat sie noch nicht mal mehr recht. Das Einzige, was sie noch hat, ist die Macht. Und die wankt. Es bleiben ihr zwei Wochen, um einen Ausweg zu finden. Bewegte Zeiten.
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WAS STEHT AN?
Auch heute geht es um die Asyl- und Migrationspolitik. Der Bundestag stimmt über den künftigen Familiennachzug von Flüchtlingen ab, der Innenausschuss berät über die Affäre im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Gleich zwei Manager der Flüchtlingskrise 2015/16 sagen aus: Ex-Innenminister Thomas de Maizière und Ex-Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier, zudem der frühere Innenminister Hans-Peter Friedrich.
Was dabei fast unterzugehen droht: Ebenfalls im Bundestag will die große Koalition heute mal eben eine Ausweitung der Parteienfinanzierung auf 190 Millionen Euro beschließen. Der SPD fehlen aufgrund ihres miserablen Wahlergebnisses und der langwierigen Regierungsbildung Millionen; CDU und CSU nehmen den Geldsegen ebenfalls gern; FDP, Linke, Grüne und AfD werden sich wohl allenfalls vor den Kameras ein bisschen zieren. Ganz Deutschland schaut auf den Asylstreit und die Fußball-WM – und die Parteien gießen sich mal eben das Füllhorn aus Steuergeldern aus: Stimmen Sie mir zu, wenn ich das dreist nenne?
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"Hart aber fair" ist eine Sendung, die mit einigem Erfolg im deutschen Fernsehen läuft. "Wir werden Herrn Gauland nicht mehr in unsere Sendung einladen", entschied Frank Plasberg, der Moderator der ARD-Talkshow. "Wer die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert, kann kein Gast bei 'hart aber fair' sein." Gemeint war Gaulands "Vogelschiss"-Zitat. Diesen Spruch haben viele Menschen verurteilt (ich auch) – aber den Mann als Konsequenz dauerhaft aus TV-Talkshows ausladen?
Man kann die Frage stellen, wer eigentlich die Entscheidung traf: wirklich Moderator Plasberg? Oder WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich? Oder WDR-Intendant Tom Buhrow? Oder WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn? Chefposten haben sie dort ja genug. Im Falle Schönenborns wäre es bemerkenswert, da dieser noch im September diesen Satz sagte: "Für alle Parteien müssen die gleichen journalistischen Standards gelten." Damals sprach er sich dagegen aus, AfD-Vertreter nicht mehr einzuladen.
Falls er seine Meinung geändert hat, dann nicht zum Besseren, denke ich. Man entzaubert die AfD ganz bestimmt nicht dadurch, dass man sie aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt. Man muss die Sprüche und Taten ihrer Politiker, wo nötig, hart kritisieren und argumentativ entlarven. Bestraft man sie mit einem Boykott, stärkt man sie in ihrer Rolle als Außenseiterin und bestätigt ungewollt die Vorwürfe der AfD gegen die öffentlich-rechtlichen Medien.
Offenbar sieht das auch Sandra Maischberger so. Die Moderatorin der gleichnamigen ARD-Sendung hat in der "Zeit" einen Gastbeitrag geschrieben, der sich vordergründig mit der Debatte um den Film "Unterwerfung" beschäftigt. Aber wer zwischen den Zeilen liest, kann auch Kritik an der Gauland-Entscheidung des WDR herauslesen. Hoffentlich lesen die WDR-Chefs diesen Text.
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Wussten Sie schon, dass ich Bundestrainer bin? Ich nehme an, Sie sind es auch. So wie mindestens 80 Millionen weitere Menschen in unserem schönen Land. Hand aufs Herz, während der Fußball-WM kennt doch jeder von uns die beste Aufstellung des DFB-Teams – und hat natürlich die richtige Meinung zu den Erdogan-Fan-Fotos von Özil und Gündogan, Manuel Neuers Fuß und den Schwächen unserer Gegner.
Leider passen in unser WM-Studio nicht 80 Millionen Menschen, sondern genau besehen nur zwei bis drei. Einer davon muss natürlich unser Sportchef Florian Wichert sein, der vor der Kamera seine Einschätzungen gibt (und viel besser Bescheid weiß als ich). Zwischendrin schalten wir zu unseren beiden WM-Reportern in Russland. Benjamin Zurmühl und Luis Reiß lassen Experten und Fans zu Wort kommen. Moderator ist unser Sportredakteur Tobias Ruf, den Sie noch aus unseren Videos zu den Olympischen Winterspielen kennen. "WM-Konter" heißt das Format, das ich Ihnen wärmstens empfehle: ab heute Vormittag auf t-online.de.
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Apropos WM: Die deutsche Nationalelf muss sich vor ihrem ersten Spiel gegen Mexiko am Sonntag noch in ihrem Quartier eingewöhnen. Entsteht im kargen Watutinki wieder ein Teamgeist wie beim Titelgewinn 2014? Dafür müssten auch die Führungsspieler sorgen. Aber wer ist das eigentlich? Unser Reporter Luis Reiß erklärt, wer die sechs Bosse in Löws Team sind und welche Aufgaben sie haben.
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So, so. Statt George Clooney und Brad Pitt klauen sich jetzt also Sandra Bullock und Cate Blanchett die Finger wund: im Film "Ocean's 8", einer Abwandlung der beliebten "Ocean's"-Reihe nämlich. Meine Kollegin Janna Specken hat die beiden Hauptdarstellerinnen in London zum Interview getroffen. Gemeinsam mit meinem Kollegen Axel Krüger hat sie ein unterhaltsames Video mit den fröhlichsten Momenten des Interviews produziert. Und Sandra Bullock spricht sogar Deutsch.
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WAS LESEN?
Belege sind wichtig – kennt man von der Steuererklärung. Jetzt stellen Sie sich bitte folgendes Ablagesystem vor: Sie sichten ein wichtiges Papier. Wenn Sie fertig sind, zerreißen Sie es. Gerne auch in viele kleine Schnipsel. Dann kommt ein gut bezahlter Angestellter in gehobener Position, sammelt die Schnipsel ein, puzzelt daraus gemeinsam mit einigen ebenfalls hoch qualifizierten Kollegen die ursprünglichen Papiere zusammen, dann gibt es Klebeband für alle, und am Ende wird das Gesamtwerk abgeheftet. Jedes Mal.
Machen Sie so? An dieser Stelle herzlichen Glückwunsch. Sie haben exakt dasselbe Ablagesystem wie das Weiße Haus. Die Mitarbeiter dort sind gesetzlich verpflichtet, die Papiere, die ihr Präsident gesichtet, kommentiert oder bearbeitet hat, für die Nachwelt lückenlos zu archivieren. Die Mitarbeiter dort haben es außerdem schon lange aufgegeben, den Präsidenten davon abzubringen, jeden noch so kleinen Zettel, mit dem er fertig ist, gewohnheitsmäßig zu zerreißen. Deshalb wird gesammelt, gepuzzelt, geklebt. "Der Charakter offenbart sich nicht an großen Taten", sagte der Philosoph Rousseau, "an Kleinigkeiten zeigt sich die Natur des Menschen." Also an Dingen in Schnipselgröße.
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Russland ist viel mehr als Putin, Weltmeisterschaft und Wodka – ja, wissen wir. Aber was ist wirklich los in diesem riesigen Land, wie ticken die Menschen? Der Fotograf Christian Frey und der Reporter Moritz Gathmann haben sich auf die Reise gemacht: von Jakutien bis Moskau. Auf dieser schönen Website berichten sie von ihren Erlebnissen, und das ist wirklich spannend. Allerdings brauchen die beiden dafür unsere Unterstützung – meine und Ihre. Dann mal los!
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WAS AMÜSIERT MICH?
Text, den niemand liest, mit 18 Buchstaben: Lizenzvereinbarung. Man installiert was auf dem Rechner, OK, OK, rollenrollenrollen, "Ich stimme zu", so geht das. Dabei kann man echt was verpassen. Zum Beispiel die zweieinhalb Zeilen zum Verbot der Entwicklung und Produktion von Atomwaffen. So einfach. So konkret. So tief vergraben in den Lizenzbestimmungen von iTunes. Aber vielleicht hat Kim Jong Un iTunes ja installiert?
Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag und ein schönes Wochenende. Am Montag schreibt mein Kollege Jan Hollitzer den Tagesanbruch; ich bin ab Dienstag wieder für Sie da.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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