Dramatische Stunden im Bundestag Seehofer stellt die Machtfrage
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Asylstreit in der Union eskaliert, plötzlich ist alles denkbar – auch der Sturz der Kanzlerin. Im
Nach dem Tag, der den Bundestag in Aufruhr versetzte, fährt Horst Seehofer im Fahrstuhl aus der dritten Etage des Reichstags nach unten. Oben warten Dutzende Reporter, sie fragen sich, ob Seehofer die Koalition platzen lassen wird. Da öffnet sich die Tür – und Christian Lindner steigt zu. "Wenn der nicht gegangen wäre, würden wir jetzt zusammen regieren", sagt Seehofer. Ist das Wehmut?
Damals, im Herbst, hatte Lindner die Jamaika-Sondierungen zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen abgebrochen. Danach rauften sich Union und SPD zu einer neuen Koalition zusammen. Jetzt regiert Seehofer mit Merkels CDU und der SPD, und beide wollen nicht so hart in der Flüchtlingspolitik sein, wie die CSU.
Lindner hatte die Verhandlungen beendet, so wie Seehofer jetzt die Koalition beenden könnte.
Es geht um seinen "Masterplan Migration", vier Kapitel, 63 Punkte, öffentlich gestritten wird derzeit nur über einen. Das dafür umso heftiger: Die CSU will Flüchtlinge, die in einem anderen europäischen Land mit Fingerabdruck registriert sind, an der deutschen Grenze zurückweisen. Die Kanzlerin fordert eine europäische Einigung, sie lehnt diese Abweisungen an der Grenze ab.
Was nach einem technischen Detail klingt, hat am Donnerstag den Bundestag den ganzen Tag über beschäftigt und Spekulationen genährt, die CSU lege es darauf an, die Koalition zu sprengen, die Kanzlerin zu stürzen und womöglich gar die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen.
CDU und CSU tagten getrennt
Am Vormittag brach Hektik aus, als sich die Nachricht verbreitete, die laufende Plenarsitzung solle unterbrochen werden, bis 13.30 Uhr am Nachmittag, damit sich CDU und CSU besprechen könnten. Schnell war auch klar: CDU und CSU würden getrennt tagen. Ein außergewöhnlicher Vorgang.
Hier die CDU, mit der Kanzlerin, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und auch Annegret Kramp-Karrenbauer, der Generalsekretärin, die an Fraktionssitzungen im Regelfall teilnimmt. Dort, den Gang weiter, nicht weit entfernt, die CSU.
In der halben Stunde vor Beginn der Sitzung füllte sich der dritte Stock des Reichstags, wo die Fraktionen zusammenkommen, mit Journalisten. Mehr und mehr kamen, und fragten und tuschelten und schrieben SMS. Die Abgeordneten, die vorbeieilten, blieben überwiegend wortkarg.
Anfang der Woche fehlte Merkel Rückhalt in der CDU
Wie außergewöhnlich die Lage ist, war zwei Tage zuvor deutlich geworden, am Dienstag in der Fraktion. Da hatten etliche Abgeordnete der CDU Seehofer unterstützt. Schon das war bemerkenswert. Aber was Teilnehmer als noch gravierender empfanden: Niemand war aufgestanden, um die Kanzlerin zu verteidigen.
Die Frage drängt sich seitdem auf: Hat sie die Mehrheit ihrer Fraktion verloren?
Auch am Donnerstag vor dem Fraktionssaal wurde darüber gesprochen. Könnte die Kanzlerin die Vertrauensfrage stellen? Würde sie im Zweifel lieber zurücktreten, als gestürzt zu werden? Wer könnte ihr nachfolgen: Kramp-Karrenbauer? Schäuble? Was, wenn jemand aus der Fraktion eine Abstimmung fordert, zwischen den Plänen von Merkel und von Seehofer? Welches Interesse könnten alle Seiten an einer Eskalation haben?
Unterdessen eilten Politiker der FDP-Fraktion vorbei. In einer spontanen Fraktionssitzungen wolle die Fraktion eine Linie im Unions-Streit entwickeln. Die SPD dagegen hielt sich zurück: Dass sie am Ende Seehofers Plan voll mittragen wird, gilt als unwahrscheinlich. Sie hält sich aber aus dem Streit heraus. Fraktionschefin Andrea Nahles sagte aber: "Wir haben sehr umfangreiche und konkrete Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zum Thema Migration und Asyl." Seehofers Plan geht darüber hinaus.
Das hieße: Die SPD macht nicht mit.
Den Machtkampf in der Union stoppt das aber nicht; den muss diese selbst lösen.
Bewegung in der CDU
Am Morgen war im Vergleich zum Dienstag schon Bewegung in die Sache gekommen. Noch vor der Fraktionssitzung hatte das CDU-Präsidium in einer Telefonschalte konferiert. Berichten zufolge unterstützten fast alle aus dem Präsidium Merkels Kurs, eine europäische Einigung anzustreben. Nur Jens Spahn hatte Einwände; die Fraktion müsse entscheiden, argumentierte er. Er legte sich aber auch nicht fest.
In der CDU meldeten sich während der Debatte Dutzende Redner zu Wort. Viele sprachen wohl Merkel die Unterstützung aus, darunter auch Schäuble und Kramp-Karrenbauer. Offenbar herrschte die Ansicht vor, die CSU habe es übertrieben. Sie versuche, die CDU zu erpressen.
Um 13.20 Uhr dann eine Durchsage im Reichstag: Die Bundestagssitzung, die in 10 Minuten hätte weitergehen sollen, bleibe unterbrochen. Bis 15 Uhr.
Merkel will nicht viel, nur Aufschub
Merkel forderte zunächst nicht viel von ihren Leuten. Sie wolle, drang während der Sitzung bald nach draußen, den Showdown herauszögern, um Aufschub bitten, auf jeden Fall bis zum EU-Gipfel am 28. und 29. Juni. Bis dahin wolle sie Fortschritte auf dem Weg zu einem europäischen Asylsystem erreichen.
Ihr konkreter Vorschlag, berichten Medien unter Berufung auf Teilnehmer: Am Montag sollen erst die Parteigremien tagen, am Dienstag solle die CDU und die CSU gemeinsam eine Fraktionssitzung abhalten; dann käme der entscheidende Schritt: bilaterale Verhandlungen mit anderen Ländern über Rückführungen bis zum EU-Rat am 28. Juni.
Es wären die letzten beiden Wochen, um entweder eine Lösung zu verhandeln, die auch die CSU als Triumph verkaufen kann. Etwa die Bereitschaft von Herkunftsländern vieler Flüchtlinge, mehr Asylbewerber zurückzunehmen; oder sogar die Zustimmung europäischer Partner zu Seehofers Plan, an der Grenze zurückzuschieben, was dann am Inhalt nichts änderte, aber kein "nationaler Alleingang" mehr wäre, den Merkel öffentlich abgelehnt hatte.
Seehofer droht mit einem Alleingang
Aus der bayerischen Partei kamen den Tag über unterschiedliche Signale. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte, man sei im "Endspiel um die Glaubwürdigkeit". Aus der CSU kamen aber parallel auch Hinweise, einen Aufschub um zwei Wochen sei man bereit, hinzunehmen. Dann aber, hieß es einig, drohe die endgültige Eskalation.
Am Ende, dann pünktlich um 15 Uhr, löste sich alles auf – und die CSU ließ alles im Ungefähren. Nach Stunden des Ringens und Spekulierens verließen die Abgeordneten den Reichstag mit der Botschaft: Der CSU-Plan muss kommen.
Ob das heiße, dass er schon kommende Woche handeln werde, oder ob Merkel die zwei Wochen Aufschub bekomme, wurde Seehofer gefragt.
Egal, behauptete er. Im Fahrstuhl nach der Sitzung rief er dem FDP-Vorsitzenden Lindner zu: "Sie sind einer der wenigen, der erkannt hat, dass es nicht um zwei Wochen geht!" Wenn es entscheidend wird, bleiben Seehofer und seine Leute nebulös. Merkel könne verhandeln, aber vorher müsse klar sein, was passiere, wenn sie scheitere: Seehofers Plan müsse dann in Kraft treten.
Wann? Sofort oder erst nach dem EU-Gipfel? Da legt sich die CSU nicht fest. Sie hält den Streit am Köcheln. Sie erhöht den Druck. Sie erweckt erfolgreich den Eindruck, die Zeit dränge enorm, auch wenn keiner so genau erklären kann, warum sie jetzt so sehr drängt.
Am Montag will sich Seehofer im CSU-Vorstand der Unterstützung seiner Partei versichern, den eigenen Masterplan durchzusetzen. Notfalls auf eigene Faust, per Ministererlass.
Sollte er dann, mit der Prokura seiner Partei ausgestattet, tatsächlich handeln und einen Plan exekutieren, den zwei von drei Koalitionsfraktionen aktuell offiziell noch gar nicht kennen, hieße das auch: Er würde offen die Machtfrage stellen – Merkel oder ich?
- Eigene Beobachtungen