Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Provokation zählt zur Strategie der AfD: Radikales, Beleidigendes, Unerhörtes sagen, dann die zuverlässig aufbrandende Empörung abwarten und sich ins Fäustchen lachen. Ziel erreicht. Wieder mal hat man es in die Schlagzeilen geschafft, wieder mal reden alle über die Partei. Dieses Spiel muss man nicht mitspielen, schon gar nicht als Journalist. Viele radikale Sprüche von AfD-Funktionären verdienen nur eines: Missachtung. "Noch nicht mal ignorieren", nannte das der große Karl Valentin.
Aber es gibt Grenzen der Ignoranz. So eine Grenze hat AfD-Chef Alexander Gauland am Wochenende überschritten. Wieder mal. "Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte", sagte er auf der Tagung der AfD-Nachwuchsorganisation in Thüringen. Mehr als 50 Millionen Opfer des von Deutschland entfesselten Krieges, der Holocaust, die Zerstörung Europas, die Perversion der Macht, der Zivilisationsbruch: ein "Vogelschiss", findet Herr Gauland. Der Chef einer Partei, die im Bundestag sitzt und fast 13 Prozent der Bevölkerung repräsentiert. Das darf man nicht ignorieren. Da muss man laut und deutlich widersprechen.
"Politiker versuchen Begriffe zu prägen, um Menschen zu beeinflussen", schreibt mein Kollege Jan Hollitzer in seinem Kommentar. Wird die NS-Diktatur also nur auf die Zeit von zwölf Jahren reduziert, und sei es nur eine Konnotation, könnte dies den psychologischen Effekt haben, dass vor allem junge Generationen auf diese einfache Art der Argumentation zurückgreifen, unvorstellbare Gräueltaten und geschichtliche Tatsachen ausblenden und somit das ganze Thema verharmlosen. Frei nach dem Motto: 'Es waren ja nur zwölf Jahre.'"
Die deutschen Verbrechen der Nazizeit waren beispiellos. Nicht ihre zeitliche Dauer macht sie so einzigartig, sondern ihre Monstrosität. Daraus erwächst eine Verantwortung für uns Nachgeborene. Wir mögen keine Schuld an den Verbrechen tragen, aber wir müssen uns dafür einsetzen, dass so etwas nie wieder geschieht. Deshalb dürfen wir es nicht dulden, dass Geschichtsrevisionisten die Schrecken der Vergangenheit verharmlosen und ihre Opfer verhöhnen. Deshalb müssen wir laut widersprechen. Und zugleich die perfide Strategie der AfD entlarven, die die Partei bei einem Kommunisten und einem amerikanischen Werbeguru abgekupfert hat.
Wer der AfD seine Stimme gibt, der weiß spätestens jetzt, wen er da unterstützt: Leute, die mit Fäkalworten um sich werfen und millionenfachen Mord verharmlosen. Sage nun keiner mehr, er habe das nicht gewusst.
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WAS STEHT AN?
Sprüche wie jener von AfD-Chef Gauland sind eine Attacke auf den Grundkonsens unserer liberalen, demokratischen Gesellschaft. Das ist aber beileibe nicht die einzige Herausforderung, der sich unsere Demokratie derzeit stellen muss. Die Angriffe kommen auch von einer anderen Seite, nur sind die nicht so augenfällig, nicht so plakativ, nicht so tumb. Im Gegenteil: Sie kommen geradezu perfide geräuschlos daher – bis sie sich mit einem Knall entladen. Die Wirkung ist verheerend. Ich spreche von deutschen Großkonzernen und Banken, die uns in den vergangenen Jahren serienweise Skandale eingebrockt, sich auf Kosten von Millionen Kunden bereichert, die gezockt und betrogen haben. Volkswagen, Commerzbank, Deutsche Bank, jetzt offenkundig auch Daimler Benz, die Liste ließe sich fortsetzen.
"Der Kapitalismus ist gut. Er beschert Deutschland Wohlstand. Der Kapitalismus ist die Katastrophe. Er sorgt für eine riesige Kluft zwischen Arm und Reich und er leistet sich Ungeheures", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl in seinem heutigen Text – und berichtet von einem radikalen Vorschlag, das zu ändern: die neue Deutschland AG. Der Text erscheint erst heute Vormittag auf unserer Homepage. Aber als Tagesanbruch-Abonnent können Sie ihn hier vorab lesen.
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Nicht nur deutsche Konzerne können unsere rechtsstaatliche, demokratische Grundordnung unterminieren, selbstverständlich können das auch amerikanische Firmen, und die können es besonders clever. Zum Beispiel Facebook, das größte Medium der Welt, das persönliche Informationen von Millionen Menschen hortet und verkauft. Dessen Chef Mark Zuckerberg die Algorithmen so programmieren lässt, dass wir Nutzer immer mehr Zeit in der Maschine verbringen, uns in Filterblasen bewegen, nur noch einen kümmerlichen Ausschnitt der Welt wahrnehmen (diesen aber für die ganze Realität halten). Der Computerpionier Jaron Lanier sieht soziale Netzwerke wie Facebook, Google und Twitter gar als akute Gefahr für die Menschheit und will sie abschaffen. Soweit muss man nicht gehen, aber ein kritisches Bewusstsein gegenüber den dunkelblauen, hellblauen und bunten Maschinen sollten wir haben. Und wir sollten uns anhören, was Menschen zu berichten haben, die früher in den Maschinen gearbeitet, an ihren Algorithmen geschraubt haben. Heute Abend sagen mehrere ehemalige Facebook-Mitarbeiter und ein Whistleblower vor dem Europaparlament über den Facebook-Datenskandal aus. Und schon am Vormittag treffen sich die EU-Justizminister und diskutieren, welche Konsequenzen der Skandal haben soll. Ich hoffe, sie belassen es nicht bei Diskussionen.
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Benjamin Netanjahu hat den Ruf, kein einfacher Gast zu sein. Er sagt gern laut, was er denkt, und was er denkt, ist nicht selten beinhart. Freund-Feind-Denken, Forderungen, Drohungen: Der Mann hat schon manchen Politiker zur Verzweiflung gebracht. Wenn Israels Ministerpräsident heute Nachmittag von Bundeskanzlerin Merkel empfangen wird, dürfen wir aber eher versöhnliche Töne erwarten. Das deutsch-israelische Verhältnis hat sich nach einigen Verstimmungen in der Vergangenheit zuletzt wieder entspannt, wozu vor allem Außenminister Heiko Maas beigetragen hat. Genau hinzuhören lohnt sich trotzdem, vor allem wenn es um den Iran geht: Da unterstützt Netanjahu die beinharte Linie von US-Präsident Trump – was Merkel für kolossal unklug hält.
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1:2. Gegen Österreich! Meine Güte, das war kein Ruhmesblatt. Ein Menetekel für die deutsche Nationalmannschaft vor dem WM-Start in Russland. Ja, so könnte man denken, aber wer so denkt, denkt möglicherweise falsch. Die Niederlage könnte in Wahrheit sogar ein Glücksfall sein. Warum? Darum. Apropos Wahrheit: Heute ist der Tag der Wahrheit. Bundestrainer Löw muss seinen endgültigen Kader für die WM nominieren. 27 Spieler sind derzeit mit im Trainingslager – aber nur 23 dürfen nach Russland mitfahren. Unser Nationalmannschaftsreporter Luis Reiß hat alle Spieler seit Wochen intensiv beobachtet. Und nun seine persönlichen vier Streichkandidaten identifiziert. Ob Löw das auch so sieht? Bis 12 Uhr muss er heute seine Entscheidung treffen.
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WAS LESEN?
Jahrelang hat Angela Merkels Regierung ein zentrales Zukunftsthema verschlafen: Bei der Digitalisierung ist Deutschland im Vergleich der Industriestaaten abgeschlagen. Funklöcher, fehlende Glasfaserkabel, wenig öffentliche WLANs, Lücken in der Besteuerung amerikanischer Großkonzerne, mangelnde Koordination zwischen Universitäten, Forschungszentren und Unternehmen, zu wenig Förderung für Start-ups, kein Online-Bürgerportal: Die Liste der Versäumnisse ist lang. Das rächt sich, weil deutsche Unternehmen im Wettbewerb mit chinesischen und amerikanischen Firmen immense Nachteile haben, weil in vielen ländlichen Regionen die wirtschaftliche Entwicklung stockt, weil kluge Köpfe in Länder auswandern, wo sie bessere Arbeitsbedingungen geboten bekommen. Jetzt will Merkel endlich etwas dagegen tun.
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Da liegt es, das verlockende Stück Schokolade, und lacht einen an. Selbstbeherrschung würde belohnt: Traumgewicht, Top-Figur. Aber es wäre halt sooo lecker. Na? Fast genauso geht der "Marshmallow-Test", bei dem Psychologen Kinder vor die Wahl stellen, ein Marshmallow sofort zu essen oder aber eine Viertelstunde durchzuhalten – und zur Belohnung noch ein Marshmallow zu bekommen. Also zwei. Kinder, die sich beherrschten, machten später im Leben eher Karriere als die, die gleich zugriffen, fand im Jahr 1990 eine Langzeitstudie heraus.
Jetzt gibt es eine neue Studie, und die sagt: alles Quatsch. Misstrauische Forscher störten sich daran, dass die getesteten Kinder allesamt aus dem Kindergarten der Stanford-Universität stammten. Sie wiederholten den Test mit Kindern aus allen Schichten – und siehe da: Tatsächlich ist es die Herkunft, die den Werdegang bestimmt. Allerdings greifen Kinder aus armen Elternhäusern auch beim Marshmallow schneller zu – vielleicht, weil in ihrem Leben Vertröstungen oft nicht eingelöst werden. Die reichen Kids wissen: Das zweite Marshmallow kommt. Oder sonst gibts eben Eis.(engl.)
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WAS AMÜSIERT MICH?
"Aufklärung bitte!", verlangte ich vor ein paar Tagen im Skandal um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und natürlich war ich damit nicht allein. Irgendwie wollen nun alle aufklären – allerdings habe ich bisher nicht den Eindruck, als ginge es damit voran. Im Gegenteil: Ständig kommen neue Facetten des Skandals ans Licht. Darüber kann man viele kritische Zeilen schreiben. Oder man ist Cartoonist, heißt Mario Lars und kann das Problem mit wenigen Pinselstrichen auf den Punkt bringen:
Ich wünsche Ihnen einen produktiven Wochenstart.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: harms.chefredaktion@t-online.de
Mit Material von dpa.
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