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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kramp-Karrenbauer "Es gibt Gruppen, die glauben, die Erde sei eine Scheibe"
Immer mehr Menschen protestieren gegen die Corona-Kontaktsperre. Im Interview zeigt sich CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer besorgt darüber.
Annegret Kramp-Karrenbauer ist gut gelaunt: Gerade kommt sie aus einer Präsidiumssitzung ihrer Partei, dort wurde über Lockerungen der Corona-Kontaktsperre diskutiert. Insgesamt sei Deutschland auf einem guten Weg, findet die 57-jährige Noch-CDU-Chefin. Doch dass zunehmend Menschen gemeinsam mit Verschwörungstheoretikern und Extremisten demonstrieren, bereitet ihr Sorgen. Ein Gespräch über laute Freiheitsrufer, stille Bürger, staatliche Hilfsmilliarden und die Frage, ob sie es bereut, ihren Rücktritt angekündigt zu haben.
t-online.de: Frau Kramp-Karrenbauer, zu Beginn der Corona-Krise haben sich die meisten Bürger diszipliniert an die Ausgangsbeschränkungen gehalten – nun ist ein Wettlauf der Bundesländer um die schnellsten Lockerungen entbrannt, und in vielen Städten protestieren empörte Bürger gegen die Kontaktsperre. Kippt die Stimmung im Land?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist ein Marathon mit vielen unterschiedlichen Stationen: In der ersten Phase hatten viele Menschen Sorgen, ob das Gesundheitssystem der Krise standhält, und blieben zu Hause. Nun ist die Phase des ersten akuten Ausnahmezustands vorbei. Die Menschen bewegen sich wieder mehr, und natürlich kommt es da auch zu Demonstrationen. Wichtig ist trotzdem, dass sich alle Bürger verantwortlich gegenüber sich selbst und anderen verhalten, um niemanden zu gefährden.
Die Demonstrationen werden teilweise von Verschwörungstheoretikern, "Reichsbürgern" und der AfD ausgerichtet. Befürchten Sie, dass radikale Kräfte die Corona-Krise ausnutzen, um tiefer in die Gesellschaft einzudringen?
Durch diese neuen Proteste werden gewisse Strömungen deutlicher sichtbar, die wir vorher so deutlich nicht wahrgenommen haben. Dass diese Gruppen jetzt neue Plattformen suchen, bereitet mir schon Sorgen. Wobei sicher nicht alle Demonstranten extremistische Ansichten haben.
Sie sehen also keine Gefahr, dass sich Bürger durch den Protest gegen die Corona-Politik radikalisieren?
Jeder kann in Deutschland demonstrieren, wo er möchte. Ich habe in den vergangenen Tagen erfahren, dass es auch Protestgruppen gibt, die ernsthaft glauben, die Erde sei eine Scheibe. Wer sich dem anschließen möchte, kann das natürlich machen. Aber wenn dort wirklich krude und gefährliche Verschwörungstheorien verbreitet werden oder das Ganze zum Beispiel in Antisemitismus umkippt, dann ist das gefährlich.
Das geschieht doch zum Teil bereits.
Ich persönlich erhoffe mir von verantwortungsbewussten Bürgern in Deutschland, dass sie weder mit "Reichsbürgern" demonstrieren noch radikale politische Kräfte unterstützen. Dennoch: Das Recht der Demonstrationsfreiheit ist ein hohes Gut, das es zu schützen gilt.
- Tagesanbruch: Die dunklen Geheimnisse der Corona-Krise
Während die einen demonstrieren, trauen sich andere Leute gar nicht aus dem Haus. Viele Menschen haben immer noch große Angst vor dem Virus und empfinden die Lockerungen der Kontaktsperre als zu schnell. Was sagen Sie denen?
Ja, im Moment sind vor allem jene besonders gut in der öffentlichen Diskussion hörbar, die lauter unterwegs sind und glauben, es wäre ganz schnell wieder ein Leben wie vor Corona möglich. Daher ist es mit unsere Aufgabe als Bundesregierung, auch für die stilleren Bürger zu sprechen. Nur weil die Freiheitsrufer laut sind, dürfen wir die Vorsichtigeren nicht vergessen.
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende und Vize-Bundestagspräsident Wolfgang Kubicki hat zur besten Sendezeit im Fernsehen gesagt: "Wenn jemand Angst hat, soll er zu Hause bleiben." Ist es so einfach?
Nein, natürlich nicht. Was mich umtreibt, ist, dass sich ein falsches Verständnis von Liberalismus Bahn bricht. Was Wolfgang Kubicki sagt, ist ein brutaler Ellenbogen-Liberalismus, der außer Acht lässt, dass meine eigene Freiheit noch immer dort die Grenze finden muss, wo die Gesundheit des anderen betroffen ist. Das gilt zum Beispiel genauso beim Nichtraucherschutz. Für Menschen, die Vorerkrankungen wie Mukoviszidose oder Diabetes haben, ist es keine Frage, ob sie mutig sind oder nicht. Für diese Menschen ist es möglicherweise eine Frage von Leben und Tod, ob sie rausgehen oder nicht. Dieser Aspekt gerät im Moment etwas in Vergessenheit und das macht mir Sorge.
Finden Sie es denn richtig, dass die Ministerpräsidenten, Landräte und Bürgermeister jetzt selbst über die Lockerungen entscheiden, anstatt dass die Bundesregierung eine einheitliche Linie vorgibt?
Für einen föderalen Staat hatten wir zu Beginn eine große, bundesweite Einheitlichkeit. Doch jetzt entwickelt sich die Pandemie an den verschiedenen Orten unterschiedlich stark. Würden wir in der Bundesregierung weiterhin die Beschränkungen zentral und deutschlandweit steuern, wäre das der Bevölkerung immer schwerer zu vermitteln. Deshalb handeln wir regional differenziert. Dennoch: Wir haben uns auf eine rote Linie verständigt, auch mit den einzelnen Ministerpräsidenten.
Diese rote Linie besteht darin, dass sich binnen 7 Tagen nicht mehr als 50 von 100.000 Bürgern infizieren dürfen. Ansonsten werden örtlich wieder schärfere Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus verhängt.
So ist es.
Aber was, wenn die Pandemie deutschlandweit an vielen Orten gleichzeitig ausbrechen sollte?
Das würde dann möglicherweise zu scharfen Maßnahmen in weiten Teilen des Landes führen.
Für wie wahrscheinlich halten Sie solch einen zweiten bundesweiten Lockdown, den die Bundesregierung zentral koordiniert?
Wir müssen alles daran setzen, dass es nicht dazu kommt. Mit Blick auf die ersten aktuellen Zahlen halte ich einen zweiten bundesweiten Lockdown für vermeidbar, aber ganz sicher auszuschließen ist er nicht. Für einen kompletten Lockdown müsste sich die gesamte Situation in allen Facetten so extrem entwickeln, wie wir es am Anfang erlebt haben. In Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten aber einiges positiv weiterentwickelt. Wir haben mehr Schutzmasken zur Verfügung und wissen mittlerweile sehr gut, wie belastungsfähig das Gesundheitssystem ist.
Inwiefern hat sich das Land denn jetzt schon durch die Pandemie verändert?
Für eine Bilanz ist es noch zu früh, aber eines fällt mir schon auf: Vor dem Corona-Ausbruch beklagten wir uns, dass man vieles gar nicht so schnell verändern könne und dass Strukturen verkrustet seien. Jetzt zeigt sich: Digitales Arbeiten hat aus der Not heraus breite Akzeptanz gefunden und sich rasant verbreitet, und es geht vieles auch schneller und mit weniger Bürokratie als gedacht. Wenn wir diese Erkenntnisse auch in Zukunft anwenden, können wir positive Effekte bewahren. Und sicher ist: Es gibt und gab viel gelebte Solidarität. Durch die Corona-Krise ist es in Deutschland an vielen Stellen menschlicher geworden.
Wie meinen Sie das, menschlicher?
Viele Menschen haben durch die Pandemie erst gespürt, wie viel ihnen Familie, Freunde, Nachbarn eigentlich wert sind. Ja, viele nutzen "nur" den Videochat, doch die Menschen sprechen häufiger miteinander. Es ist ein neues soziales Miteinander entstanden, ein Blick und Gefühl auch für andere. Vielleicht können wir das auch künftig fördern, in einem Deutschlandjahr nach der Schule, egal ob freiwillig oder verpflichtend.
Die Wirtschaft hingegen leidet extrem unter den Folgen der Krise. Die Bundesregierung hat deshalb enorme Summen für Unternehmen bereitgestellt. Das führt zum Teil allerdings zu seltsamen Situationen: Die deutschen Autohersteller verlangen staatliche Unterstützung, wollen aber trotzdem weiter Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten. Finden Sie das angemessen?
Klar ist für uns als CDU: Der Staat darf sich nicht in unternehmerische Entscheidungen einmischen, beispielsweise festlegen, welche Produktionen wo stattfinden oder welche Flugstrecken eine Airline bedienen soll. Aber dass Dividenden ausgeschüttet werden sollen, wenn der Staat finanziell hilft, das finde ich ehrlich gesagt schräg. Der Steuerzahler unterstützt das Unternehmen, also hat der Steuerzahler auch ein Anrecht darauf, dass mit den finanziellen Mitteln das Unternehmen angetrieben wird – und nicht Gewinne ausgeschüttet werden.
Schon jetzt belaufen sich die Gesamtkosten der Corona-Krisenhilfe für den Staat auf rund 1,2 Billionen Euro. Reicht das, um die Wirtschaft zu stabilisieren?
Darüber haben wir am Montag im CDU-Präsidium gesprochen. Was wir nach den ersten Maßnahmen brauchen, ist ein Gesamtansatz, ein Gesamtpaket, das viele Branchen unterstützt.
Also ein Konjunkturpaket. Wie soll das aussehen?
Wichtig ist, dass wir bei den neu geplanten Impulsen darauf achten, die Wirtschaft so zu fördern, dass sie zukunftsfähig und auch mit Blick auf Nachhaltigkeit wettbewerbsfähig ist, zum Beispiel durch die Verbesserung von Infrastruktur.
Bitte konkreter: Welche Infrastruktur meinen Sie?
Erstens die digitale: Wir sollten uns vornehmen, innerhalb des nächsten Jahres unsere Schulen mit Blick auf Infrastruktur, Inhalte und Pädagogik so weiterzuentwickeln, dass sie bei der nächsten Pandemie allen Kindern vollständig digitale Bildung auf gleich gutem Niveau vermitteln können. Die verbesserte Infrastruktur bezieht sich aber auch auf Unternehmen – nicht, indem wir jedes einzelne Unternehmen fördern, sondern indem wir die Rahmenbedingungen für die Firmen verbessern. Ich denke da zum Beispiel an die Mobilität, etwa durch den schnelleren Aufbau eines E-Tankstellennetzes oder Investitionen für den klimaverträglichen Verbrenner der Zukunft.
Sind diese Ideen in der großen Koalition schon mehrheitsfähig?
Ich hoffe es und setze mich dafür ein.
Die Umfragen sind zwar Momentaufnahmen in der Krise, aber ja, die hohe Zustimmung ist eine Chance, aber auch eine Verpflichtung für meine Partei. Doch auf den guten Zahlen können wir uns nicht ausruhen.
Nehmen wir an, die Corona-Pandemie wäre zwei Monate früher in Deutschland angekommen: Hätten Sie trotzdem angekündigt, den Parteivorsitz aufzugeben?
Ich hätte mich trotzdem dazu entschieden, ja. Aber verkündet hätte ich es nicht.
Wie sehr hat Ihnen vor Ihrer Rücktrittsankündigung der öffentliche Druck durch Politik und Medien zugesetzt?
Hätte ich keinen Druck gespürt, wäre ich entweder Superwoman oder aus Teflon. Das bin ich beides nicht. Ich bin auch nicht morgens aufgewacht und habe gedacht: Das war’s jetzt, ich will nicht mehr CDU-Vorsitzende sein. So ein Entschluss reift über Wochen und Monate, und viele verschiedene Ansichten und Überlegungen fließen darin ein.
Bedauern Sie heute, dass Sie Ihren Rücktritt angekündigt haben?
Nein.
Gar nie?
Alles gut.
Haben Sie denn im internen Rennen um die Parteispitze einen Favoriten?
Ich bitte Sie (lacht). Ich muss als Parteivorsitzende völlig neutral sein.
Wir versuchen, Ihnen zu glauben. Aber könnten Sie sich denn vorstellen, in einem neuen Kabinett ab 2021 weiterhin Verteidigungsministerin zu sein?
Erst einmal möchte ich einen guten Job als Ministerin machen. Dann will ich einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf führen und anschließend einen für die Bundeswehr starken Koalitionsvertrag aushandeln. Und alles, was danach eventuell kommt, sehen wir dann.
Frau Kramp-Karrenbauer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer im Konrad-Adenauer-Haus