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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Titelkampf in England Plötzlich das Zünglein an der Waage
Der Titelkampf in England spitzt sich zu. DFB-Star Kai Havertz könnte Meister werden. Doch ob das klappt, hat wohl auch ein anderer Nationalspieler in der Hand: Timo Werner.
Etwas weniger als drei Jahre ist es her, da stellte ein TV-Reporter einem völlig entkräfteten Timo Werner nach dem Champions-League-Finale gegen Manchester City auf Englisch eine durchaus gängige Frage. Ob der FC Chelsea im Endspiel entschlossener aufgetreten sei, weil der Londoner Klub im Vorfeld als Underdog gehandelt worden war, wollte der Journalist wissen. Werner, vom Lärm des Stadions um ihn herum beschallt und offenbar auch inhaltlich mit Verständnisproblemen, schüttelte nur leicht den Kopf und sagte: "Ich verstehe die Frage nicht, aber das ist mir egal. Wir haben die Trophäe gewonnen. Alles gut."
Tatsächlich war damals alles gut für den mittlerweile 28-Jährigen. Im Sommer zuvor war Werner von Leipzig nach London gewechselt. Am Ende der Spielzeit hatte er sich mit seinem Team unter dem heutigen Bayern-Coach Thomas Tuchel die begehrteste Vereinstrophäe der Welt gesichert. Denn der FC Chelsea gewann das Endspiel der Königsklasse mit 1:0.
Torschütze an diesem Abend war aber nicht Timo Werner, sondern ein anderer deutscher Nationalspieler, den es ebenfalls im vorangegangen Sommer an die Stamford Bridge gezogen hatte. Kai Havertz, aus Leverkusen nach London gewechselt, erzielte kurz vor dem Pausenpfiff das Tor des Abends und schoss den FC Chelsea damit auf Europas Thron.
Auch heute noch spielen Havertz und Werner in der englischen Hauptstadt. Nur: Die Vereine beider Akteure sind mittlerweile zwei andere. Mit dem FC Arsenal steht Havertz in der Tabelle der Premier League auf Rang zwei, einen Zähler vor dem Drittplatzierten Manchester City und zwei Zähler hinter Spitzenreiter FC Liverpool mit Coach Jürgen Klopp. Damit der deutsche Offensivspieler am Ende der Saison die Trophäe in seinen Händen halten darf, muss er auch nun darauf hoffen, dass sein alter Kollege Timo Werner und dessen neuer Klub mitspielen.
Meisterschaftsrennen: Tottenham wartet auf der Zielgeraden
Denn Werner ist nach seiner Rückkehr nach Leipzig 2022 seit diesem Winter an Tottenham Hotspur verliehen. Das Team um den Ex-Bundesliga-Star Heung-min Son hat auf Rang fünf und mit zehn Punkten Rückstand auf die Tabellenspitze nur noch theoretische Chancen auf den Titel. Doch im Meisterschaftsrennen sind die "Spurs" plötzlich das Zünglein an der Waage.
Denn: Seit Wochen bewegen sich die drei Vereine im Titelkampf im Gleichschritt, lassen in ihren Spielen kaum Punkte liegen. Es sieht ganz danach aus, als würde sich die Meisterschaft in England erst auf der Zielgeraden entscheiden. Und genau dort wartet auf alle drei Mannschaften derselbe Gegner: Tottenham Hotspur.
Ursprünglich wäre der langjährige Klub von Bayern-Torjäger Harry Kane an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden auf die drei Top-Teams getroffen. Doch der Auftakt gegen Manchester City am 20. April muss verschoben werden, da der Triple-Sieger an besagtem Wochenende im FA-Cup-Halbfinale den FC Chelsea empfängt.
Wann das Spiel nachgeholt wird, ist noch nicht klar. Gut möglich, dass die Partie wenige Tage später, also unter der Woche gespielt wird. Denn bereits am 28. April muss Tottenham zu Hause gegen den FC Arsenal ran, eine Woche später auswärts in Liverpool. Dazwischen und danach steigen die Halbfinalspiele der Champions League. Nicht auszuschließen, dass City (trifft im Viertelfinale auf Real Madrid) auch dort dabei sein wird und in dieser Zeit kein Spiel gegen Tottenham absolvieren kann.
Die größte Rivalität Londons
Für Kai Havertz und den FC Arsenal wäre es das ideale Szenario, wenn sein langjähriger Nationalmannschaftskollege Timo Werner ihm mit Tottenham unter die Arme greift und sowohl gegen Manchester City als auch gegen den FC Liverpool punktet, zwischendrin aber selbst drei Zähler an den Stadtrivalen abgibt. Genau hier liegt aber die besondere Brisanz der Situation. Dass ausgerechnet Timo Werner mit seiner Mannschaft im Titelkampf Arsenal die Meisterschaft ermöglichen könnte, ist durchaus ironisch.
London ist nicht nur die Hauptstadt Englands. London ist die Fußball-Hauptstadt Europas. Allein in der erstklassigen Premier League spielen mit dem FC Chelsea, dem FC Arsenal, Tottenham Hotspur, dem FC Fulham, Crystal Palace und West Ham United sechs Klubs aus der Millionenmetropole. Doch während deshalb fast jedes Wochenende ein Stadtderby auf dem Plan steht, ist keines von größerer Bedeutung als das Aufeinandertreffen von Arsenal und Tottenham.
Das "North London Derby" elektrisiert die Stadt schon seit weit über 100 Jahren. 1913 zog der FC Arsenal aus dem südlich gelegenen Woolwich in den nördlichen Borough of Islington. Fortan trennten die neue Heimspielstätte der "Gunners", das Highbury, nur noch vier Meilen vom damaligen Stadion Tottenhams, der White Hart Lane. Die gegenseitige Abneigung ist seitdem in jedem Spiel der beiden Kontrahenten zu spüren – egal, wie die Tabellensituation ist. Ein Sieg gegen den Erzrivalen ist das Highlight der Saison: für beide Teams.
Ausgerechnet Tottenham, ausgerechnet Werner
Nun haben Timo Werner und Tottenham also Arsenals Titelträume in dieser Spielzeit in der Hand. Ausgerechnet Tottenham, möchte man aufgrund der Rivalität sagen. Aber auch ausgerechnet Timo Werner.
Der Stürmer steht am Scheideweg seiner Karriere. Den Sprung auf den EM-Zug wird Werner aller Voraussicht nach verpassen. Sein letztes Spiel für die DFB-Elf absolvierte er im März 2023. Unter Bundestrainer Julian Nagelsmann wurde er kein einziges Mal nominiert. Das lag nicht zuletzt daran, dass Werner bei seinem zweiten Engagement in Leipzig überhaupt nicht in die Spur fand und aufs Abstellgleis geraten war.
Der Ausweg: die Leihe zu Tottenham im Winter. Auch wenn Werners Torquote von zwei Treffern in zehn Ligaspielen für die "Spurs" noch ausbaufähig ist: In London scheint der geborene Stuttgarter wieder aufzublühen, legte jüngst auch beim 1:1 gegen West Ham das Tor für Brennan Johnson auf. Sein Coach Ange Postecoglou sprach zuletzt bei Werner von einer "großartigen Verpflichtung".
Werners Zukunft: Zeigen, dass er 17 Millionen wert ist
Darf der Offensivmann also bleiben? "Wir werden uns da zur geeigneten Zeit festlegen", so Postecoglou. Die Kaufoption für Werner liegt dem Vernehmen nach bei 17 Millionen Euro.
In den kommenden Wochen hat der wiederum die Chance, zu zeigen, dass er dieses Geld wert ist. Zum Beispiel im Meisterschaftskampf in den Spielen gegen Manchester City und den FC Liverpool. Das würde dann sicherlich auch seinen alten Kollegen Kai Havertz freuen. Der sagte 2022 nach dem Chelsea-Abgang von Werner und DFB-Mitspieler Antonio Rüdiger (wechselte zu Real Madrid): "Das waren enge Freunde von mir. Deswegen schmerzt es immer, wenn sie einen anderen Weg einschlagen und man sich davor zwei Jahre jeden Tag gesehen hat."
Schmerzen könnte es Havertz wiederum auch, wenn Werner und Tottenham sich nicht für die Konkurrenz, sondern für Arsenal als Stolperstein im Titelrennen erweisen. Denn: Für den Ex-Leipziger zählt bis zum Sommer jede einzelne Partie, um sich für eine Weiterbeschäftigung in London zu empfehlen.
Werners letzte Chance scheint gekommen, seiner Karriere noch einmal neuen Schwung zu verleihen. Ansonsten droht er aus dem internationalen Spitzenfußball und damit auch aus der DFB-Elf für immer zu verschwinden. Für Freundschaftsdienste ist demnach wohl kein Platz – und trotzdem könnte gerade er die Meisterschaft mit seinem Team entscheiden. Auch zugunsten von Kai Havertz und dem FC Arsenal.
- youtube.com: "'I don't care. Next question.' Timo Werner after winning the UEFA Champions League"
- sport1.de: "Havertz: 'Sitze nicht weinend zuhause'"
- Mit Material der Nachrichtenagentur SID
- Eigene Recherche