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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach Stopp der US-Hilfen Kann sich die Ukraine jetzt noch verteidigen?

Donald Trump will der Ukraine keine Militärhilfen mehr zukommen lassen. Nun muss Europa einspringen – aber reicht das?
Donald Trump will die Militärhilfen für die Ukraine einstellen – das könnte erhebliche Folgen für das Land haben. Schließlich waren die Vereinigten Staaten insbesondere im militärischen Bereich bisher der größte Unterstützer der Ukraine. Und so beruht die Landesverteidigung auf zahlreichen US-Systemen und ist oftmals auf die US-amerikanische Zusammenarbeit angewiesen.
Wie geht es nun also weiter für das Land, das sich auch drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges weiterhin verteidigen muss? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Denn während manche Experten sagen, Europa könne zahlreiche US-Waffen ersetzen, glauben andere, die Ukraine könne nur noch wenige Monate Widerstand leisten.
Die Zahlen zeigen den bisherigen US-amerikanischen Einfluss deutlich. Die USA haben nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft seit Kriegsbeginn insgesamt 114 Milliarden Euro an Unterstützung in die Ukraine geschickt, davon allein 64 Milliarden Euro Militärhilfe. Zum Vergleich: Ganz Europa kommt auf ein Gesamtvolumen von 132 Milliarden Euro, wovon 62 Milliarden auf das Militär entfallen. Um die US-Mittel für das Militär auszugleichen, müssten die Europäer die Zahlungen also verdoppeln.
Kann Europa die Zahlungen ausgleichen?
Doch die Finanzen sind möglicherweise nicht das Problem. Das zumindest meint der Politikberater François Heisbourg vom International Institute for Strategic Studies. So könnte Europa finanziell einspringen und die Lücke füllen – vorausgesetzt, es besteht der politische Wille dazu, sagte er dem exilrussischen Portal "Meduza". In der Tat bereitet sich Europa bereits darauf vor, das Defizit auszugleichen.
Im Jahr 2024 stellten die Europäische Union, Großbritannien und Norwegen der Ukraine gemeinsam Militärhilfe im Wert von rund 25 Milliarden Dollar zur Verfügung – mehr als die USA in diesem Jahr. Die Bereitschaft für weitere Ausgaben könnte nun weiter steigen, Großbritannien ermöglichte erst in der vergangenen Woche einen neuen Militärkredit in Höhe von 2,74 Milliarden Euro. Zudem gibt es offenbar Gespräche darüber, dass die EU ihre Hilfe in diesem Jahr auf 30 Milliarden Dollar aufstocken soll.
Aber: Auch wenn die europäischen Länder sich nun auf weitere Milliardenhilfen einigen sollten, so dürfte es schwer werden, das US-Volumen zu erreichen. Das größere Problem ist vielmehr die kurzfristige Materialbeschaffung. Denn einerseits sind in der Ukraine bereits zahlreiche US-Systeme im Einsatz, die andere Länder nur schwer ersetzen könnten, weil sie dort kaum oder gar nicht hergestellt werden. Andererseits haben die europäischen Länder nur beschränkte Produktionskapazitäten.
Dabei dürfte es auch zum Problem werden, dass Trump wohl bereits zugesagte Lieferungen, die noch unter seinem Vorgänger Joe Biden beschlossen wurden, nicht mehr liefern will – obwohl diese teilweise bereits versandfertig bereitstehen.
Kann Europa die Flugabwehrsysteme ersetzen?
Größte Schwachstelle dürfte der Ersatz der Patriot-Flugabwehrsysteme werden. Diese sind rund um sensible Infrastrukturen und die Hauptstadt Kiew positioniert. Die Systeme benötigen jedoch viele teure Abfangraketen. Den Vorrat könnte Europa nicht ausgleichen, denn sie werden nur in den USA produziert.
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Experten befürchten, dass dadurch die bereits angeschlagene Energieinfrastruktur, wichtige Rüstungsfabriken oder andere strategisch bedeutsame Ziele den russischen Angriffen schutzlos ausgeliefert wären.
Darüber hinaus würde die Ukraine den Zugang zu Lenkwaffen und Raketen für ihre Mehrfachraketenwerfer verlieren, die sie benötigen, um Tiefschläge auf russisches Territorium auszuüben. Für diese Angriffe nutzte die Ukraine zuletzt insbesondere ATACMS-Raketen aus US-Produktion. Insbesondere durch die Reichweite von bis zu 300 Kilometern sind sie effektiv bei Angriffen auf russische Versorgungslinien. So konnte die Ukraine russische Waffenlager, Kommandozentralen, Flugplätze und Trainingsgelände angreifen und den Feind so zwingen, diese sogenannten Hochwertziele sofern möglich weiter von der Frontlinie wegzuverlegen.
Der Schweizer Militärexperte Albert Stahel hingegen sagt, dass es dafür Ersatz gebe. Im Gespräch mit "Focus online" erklärte er: "Deutschland kann Marschflugkörper vom Typ Taurus liefern, Frankreich den SCALP, und Großbritannien den Storm Shadow." Allerdings: Ihre Zahl reicht laut "Meduza" nicht aus, um die von den USA gelieferten Langstreckenraketensysteme vollständig zu ersetzen.
Ein ehemaliger US-Regierungsbeamter meint: "Die Europäer verfügen über andere Fähigkeiten zur Flugabwehr und Mehrfachraketenwerfer, aber unsere sind die besten, sind bereits in großen Mengen im Einsatz und müssen nur mit Munition nachgeliefert und gewartet werden", sagte die anonyme Quelle der "Washington Post". "Die europäische Industrie kann nicht im Handumdrehen neue schaffen."
Der Militäranalyst Ian Matveew betonte bei "Meduza" hingegen, die ukrainischen Streitkräfte hätten bereits gelernt, diese Systeme ohne US-Hilfe zu betreiben und zu warten. Bestimmte Reparaturen könnten allerdings ohne Ersatzteile problematisch werden.
Wie wichtig ist Starlink für die Ukraine
Besser ersetzt werden könnte hingegen wohl der nun ausbleibende Munitionsnachschub. So lieferten die USA bis September 2024 wohl rund drei Millionen Geschosse, wogegen die europäischen Vorräte schnell aufgebraucht waren und die Produktionskapazitäten ihr Limit erreichten. Das hat sich nun geändert. Im Jahr 2024 produzierten die europäischen Länder 1,4 Millionen Artilleriegranaten und planen, die Produktion im Jahr 2025 auf zwei Millionen zu steigern. Zudem hat die Ukraine selbst bedeutende Kapazitäten aufgebaut und zwischen Januar und November 2024 im eigenen Land 2,5 Millionen Artillerie- und Mörsergranaten hergestellt.
Doch auch abseits der Waffen drohen ohne die USA erhebliche Folgen für die Ukraine. Möglicherweise kann das Land künftig nicht mehr auf das von Elon Musks Firma SpaceX betriebene Satellitensystem Starlink zugreifen. Bisher gewinnt das Militär über das System Aufklärungsdaten und nutzt es zur Kommunikation – zwei Fähigkeiten, die das Fundament für gezielte Angriffe gegen Russland bilden.
Markus Reisner, österreichischer Militärhistoriker und Oberst des Bundesheeres, warnt deshalb bei "Focus online": "Ein Ausfall des Satellitensystems hätte gravierende Folgen für die Ukraine. Faktisch würde die russische Dominanz in der Folge schlagartig zunehmen."
Doch diese Ansicht wird nicht überall geteilt. Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow sagte kürzlich, die Ukrainer arbeiteten an einer Alternative und "es gibt bereits eine Lösung". Der ukrainische Spezialist für elektronische Kriegsführung, Serhij Beskrestnow, betont, dass man sich in der Ukraine von Beginn bewusst gewesen sei, dass man sich nicht dauerhaft auf die kommerzielle Infrastruktur eines anderen Landes verlassen könne. So arbeite das Militär bereits an alternativen Lösungen, sodass der Verlust von Starlink zwar schmerzhaft, aber keine Katastrophe wäre.
Möglicherweise nur sechs Monate Kampf ohne US-Hilfe möglich
Aber auch wenn Europa Teile der Hilfen ersetzen könnten, so sind sich die meisten Experten einig, dass die Ukraine nicht länger als ein Jahr gegen Russland bestehen könnte. Ohne die US-Hilfen "werden wir sechs Monate durchhalten", sagte Generalleutnant Ihor Romanenko, ehemaliger erster Stellvertreter des Generalstabs der ukrainischen Streitkräfte, im Sender Al-Jazeera bereits am 17. Februar.
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Auch Mykola Bielieskow, leitender Analyst bei der ukrainischen Wohltätigkeitsorganisation Come Back Alive, blickt pessimistisch auf die Zukunft: "Wir können vielleicht ein halbes oder ein ganzes Jahr durchhalten, um Europa ein weiteres Jahr Zeit zu geben, mit der Produktion von Munition zu beginnen", sagte er dem "Wall Street Journal". Allerdings betonte er: "Wir könnten einige Verluste erleiden, vielleicht etwas Territorium verlieren. Aber wir haben keine andere Wahl, als trotz der Schwierigkeiten zu kämpfen."
Eine bekannte Situation
Doch gibt es bereits Erfahrungswerte, wie es ohne US-amerikanische Militärhilfe laufen könnte. Zu Beginn des vergangenen Jahres konnte sich der Kongress wochenlang nicht auf weitere Hilfen einigen.
Der deutsche Außenpolitik-Experte Nico Lange zog in Bezug auf die damalige Situation daher auf X eine klare Schlussfolgerung: "Die Auswirkungen auf dem Schlachtfeld sind zunächst begrenzt. Bleibt es dabei, werden für Russland im Sommer militärische Fortschritte möglich."
Dennoch waren bereits damals die Auswirkungen deutlich spürbar. Russland intensivierte seine Luftangriffe insbesondere auf die Energieinfrastruktur. Die Ukraine konnte dem ohne entsprechende Waffen kaum etwas entgegensetzen. Auch an der Front wurden die Auswirkungen nach einiger Zeit sichtbar. Und so waren ukrainische Kommandeure etwa gezwungen, ihre Munition zu rationieren.
Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War glaubt daher, Putin werde die Möglichkeit schnell ergreifen, "seine Militärkampagne in der Ukraine wahrscheinlich intensivieren und versuchen, jede Verzögerung oder Einstellung der US-Militärhilfe für die Ukraine auszunutzen – wie der Kreml es im Frühjahr 2024 getan hat".
So könnte sich das "das Gleichgewicht des Krieges verschieben und Russland auf dem Schlachtfeld in der Ukraine größere Vorteile verschaffen". Ein russischer Sieg in der Ukraine werde so wahrscheinlicher. Damit steige auch die Gefahr für andere europäische Staaten.
- meduza.io: "Trump is threatening to cut off U.S. military aid to Kyiv. How long can Ukraine last without American weapons" (englisch)
- lemonde.fr: "Without the US, Ukraine would barely last six months against Russia" (englisch)
- focus.de: "Trump kappt US-Hilfen: Militärexperten analysieren, was der Ukraine jetzt droht"
- csis.org: "Ukraine: Now Doomed?" (englisch)
- wsj.com: "Without U.S. Aid, Ukraine Would Lose Some of Its Most Sophisticated Weapons" (kostenpflichtig, englisch)
- thetimes.com: "Aid to Ukraine: US, Trump, and Zelensky" (kostenpflichtig, englisch)
- theguardian.com: "Europe pushes for peace in Ukraine as US support wavers" (englisch)
- nytimes.com: "Trump Suspends Military Aid to Ukraine After Oval Office Blowup" (kostenpflichtig, englisch)
- x.com: Beitrag von @TheStudyofWar
- x.com: Beitrag von @nicolange_