Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg gegen die Ukraine "Die Russen waren darauf vorbereitet"
Erbitterte Gefechte in Kursk und im Donbass, massive Luftangriffe in Russland und der Ukraine: Zuletzt haben die Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg nochmals an Intensität zugenommen. Warum, erklärt Oberst Markus Reisner.
Vor der Amtseinführung von Donald Trump als US-Präsident am kommenden Montag nimmt die Intensität der Kampfhandlungen in der Ukraine zu. Massive Luftangriffe, ein Überraschungsangriff in der russischen Region Kursk und der Vormarsch der Kremltruppen im Donbass prägten den Jahresbeginn. Ob es, wie von Trump mehrfach angekündigt, tatsächlich zeitnah zu Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau kommen wird, ist längst nicht ausgemacht.
Das Hauptaugenmerk der Weltöffentlichkeit lag zuletzt auf Kursk, wo auch nordkoreanische Soldaten an der Seite der russischen Truppen eingesetzt werden. Militärexperte Oberst Markus Reisner erklärt im Interview mit t-online, welche Aufgaben die Nordkoreaner in den russischen Reihen haben. Zudem analysiert Reisner die Taktiken Russlands im Donbass – und warum die jüngsten ukrainischen Luftangriffe möglicherweise nicht so durchschlagend waren, wie Kiew es darstellt.
t-online: Herr Reisner, Russland und die Ukraine haben sich in den vergangenen Tagen gegenseitig mit teils massiven Luftangriffen überzogen. Ist das bereits eine neue Phase des Luftkriegs?
Markus Reisner: Man muss das im Gesamtkontext des Kriegs betrachten. Russland führt seit Beginn der Vollinvasion eine strategische Luftkampagne gegen die Ukraine durch. Die russische Luftwaffe steigerte die Attacken dabei beinahe konstant. Man kann mittlerweile fast die Uhr nach den Angriffen stellen: Täglich fliegen bis zu 140 Kamikazedrohnen in Richtung Ukraine, und etwa alle zwei bis drei Wochen führt Russland einen größeren Angriff mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen aus.
Zur Person
Oberst Markus Reisner (*1978), ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
Welche Folgen hat das für die Ukraine?
Der ukrainische Energieminister hat Ende vergangenen Jahres erklärt, dass 2024 das bisher schwerste Kriegsjahr gewesen sei, weil die kritische Infrastruktur zu rund 80 Prozent zerstört oder beschädigt sei. Wenn die kritische Infrastruktur wegfällt, kann die Ukraine keinen langen Krieg führen. Daran arbeiten die Russen beinahe täglich. Das Bemerkenswerte am Angriff von Mittwoch war, dass Russland das Gasnetz ins Visier genommen hat, also die Wärmeversorgung der Ukrainer. Zuvor waren vor allem Knotenpunkte der Elektrizität Ziele der Russen, was die industriellen Produktionskapazitäten beeinträchtigt.
Aber auch die Ukrainer haben am Dienstag einen Angriff mit rund 200 Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern ausgeführt. Hat das keine Auswirkungen?
Selbstverständlich hat das Auswirkungen, noch aber ist das kaum messbar. Die Ukraine versucht, gezielt Treibstoffdepots auf Stützpunkten wie Engels anzugreifen, von denen die russischen Luftangriffe geflogen werden. Bisher aber hat das die russische Luftkampagne noch nicht gebremst. Auch die Angriffe auf Ölraffinerien in Russland haben zwar zu einem Produktionseinbruch von bis zu 25 Prozent geführt, massive Auswirkungen sind das dennoch nicht.
Sind die ukrainischen Angriffe also bedeutungslos?
Nein, das sind durchaus Erfolge für die Ukraine. Allerdings bleibt der saturierende Effekt, also eine langfristige Wirkung auf die russische Kriegsmaschinerie, bisher aus. Russland muss bislang weder seine Luftangriffe einstellen noch seine Vorstöße an der Front bremsen oder einen akuten Munitionsmangel beklagen. Ich denke, Kiew zielt mit den Luftangriffen vor allem auf Donald Trumps Amtseinführung am 20. Januar ab. Die Ukraine will zeigen: Wir sind kein totes Pferd, auf uns kann man immer noch setzen.
Embed
Ist die Ukraine über den 20. Januar hinaus in der Lage, den Druck über Luftangriffe aufrechtzuerhalten?
Das hängt vor allem davon ab, was der Westen bereit ist zu liefern. Auch für die heimische Produktion von Drohnen, wie sie zuletzt vorrangig eingesetzt wurden, benötigt die Ukraine Hilfe aus dem Westen: etwa Motoren, elektronische Bauteile, Platinen und dergleichen. Letztlich können beide Länder wegen der schieren Ausmaße kaum ihr gesamtes Territorium mit Flugabwehr abdecken. Deshalb gelingen immer wieder schwere Schläge. Russland hat aber mehr Flugabwehrsysteme zur Verfügung als die Ukraine. Deshalb geht es in diesem Jahr um eine entscheidende Frage.
Welche ist das?
Die entscheidende Frage ist, ob die Ukraine so lange durchhält, bis Russland in die Knie geht, und nicht etwa, wann Russland in die Knie geht. Man darf dabei nicht vergessen: Putin führt diesen Krieg nicht allein. Vor allem China, Nordkorea und der Iran stehen hinter ihm, auch Indien und die Türkei unterstützen zumindest indirekt etwa bei der Umgehung von Sanktionen.
Die in Kursk stationierten nordkoreanischen Soldaten sind derzeit überall Gesprächsthema. Auch mit ihrer Hilfe scheint der ukrainische Überraschungsangriff von Anfang Januar gestoppt worden zu sein. Wie ist die Lage derzeit in Kursk?
Der Gegenangriff der Ukrainer ist gescheitert. Anders als manchmal berichtet, handelt es sich dabei auch nicht um eine Offensive, sondern nur um einen Angriff, da nur begrenzte Mittel eingesetzt wurden. Trotz anfänglicher Überraschung waren die Russen darauf vorbereitet. Sie wurden nicht noch mal so überrannt wie am Anfang der Offensive im August. Jetzt machen sie bereits dort weiter, wo sie kurz vor dem jüngsten ukrainischen Angriff angefangen hatten: Sie versuchen – wieder mit Blick auf den 20. Januar und mögliche Verhandlungen – so viel Gebiet zurückzuerobern wie möglich.
Welche Aufgaben übernehmen die Nordkoreaner dabei?
Russland setzt sie bisher vor allem als Kanonenfutter ein. Die Nordkoreaner kämpfen wie im Koreakrieg: Sie rücken in Schwarmlinie, also in weit ausgedehnter Formation, gegen das Artilleriefeuer der Ukrainer vor und erleiden dabei schwere Verluste. Das führt auf ukrainischer Seite dazu, dass sie große Mengen an Munition aufbrauchen und letztlich auch eigene Soldaten verlieren. Außerdem geht es bei den Nordkoreanern um Symbolik. Denn auch wenn die Russen die nordkoreanische Präsenz bisher nicht bestätigt haben, will Moskau zeigen: Wir haben den besseren Verbündeten als Kiew. Nordkorea liefert zudem ja auch Millionen Artilleriegranaten an Russland.
- Nordkoreaner in Kursk: Als Letztes halten sie sich eine Granate an den Kopf
Die Kursk-Offensive der Ukrainer stand seit Beginn in der Kritik: Damit drohe der Donbass geopfert zu werden, hieß es. Nun stehen die Russen dort kurz vor Pokrowsk, einer der letzten strategisch wichtigen Städte im Gebiet Donezk. Haben sich die Prophezeiungen bewahrheitet?
Die Ukraine hat viel riskiert – ausgezahlt hat es sich nicht. Doch im Nachgang ist man immer schlauer. Es ging in Kursk von Beginn an darum, ein Faustpfand für Verhandlungen zu bekommen. Was wäre passiert, wenn es den Ukrainern gelungen wäre, etwa das dortige Atomkraftwerk einzunehmen? Dann würden wir heute weniger über Sinn und Unsinn der Offensive sprechen. Dann hätte Kiew sein Faustpfand erreicht.
Doch so ist es nicht gekommen. Russland hat sich nicht beirren lassen und stattdessen seine Bemühungen im Donbass sogar verstärkt.
Das liegt auch an der Natur des modernen Krieges. Durch die ständige Überwachung durch Drohnen ist es faktisch unmöglich geworden, größere Verbände unbemerkt zusammenzuziehen. Sie würden sofort zerstört werden. Manöver sind kaum möglich. Darum ist dieser Krieg auch solch ein elendiges Abschlachten. Russland hat sich der Logik des Abnutzungskriegs angenommen: Man setzt große Ressourcen ein und opfert Tausende Menschenleben für geringe Geländegewinne. Das sieht man besonders im Donbass.
- Schlacht um Pokrowsk: Darum wird so erbittert um die Stadt in Donezk gekämpft
Seit November rücken die Russen in der Ostukraine sogar schneller vor. Welche Taktiken verfolgen die Kremltruppen dort?
Sie setzen auf kleinere, dafür aber viele Kampfgruppen. Damit versuchen sie, die Lücken in den ukrainischen Stellungen aufzudecken und dann dort einen Keil hineinzuschieben. Das können Gruppierungen von drei oder vier, manchmal bis zu zehn Panzern sein, die dann eine Lücke aufreißen sollen. Gelingt das, werden weitere Einheiten nachgeschoben, die dann möglicherweise nach erbitterten Kämpfen ein paar Quadratkilometer einnehmen. Zudem nutzen sie weitere Schwächen der Ukrainer.
Welche sind das?
Sie suchen beispielsweise die Nahtstelle zwischen zwei Brigaden. Dort sind die Zuständigkeiten für die Verteidigung eines Abschnitts meist nicht klar. Die Russen stoßen dann dort hinein. Zudem greifen sie meist an, wenn sich ukrainische Einheiten ablösen. Das ist immer ein kritischer Moment, weil die Gefechtsbereitschaft nicht gänzlich hergestellt ist. Außerdem setzen sie auf Angriffe von zwei Seiten, auf Einkesselung sowie das Abschneiden von Versorgungslinien.
In Pokrowsk hat nun eine der wichtigsten Kohleminen der Ukraine den Betrieb eingestellt. Die Mine ist vor allem für die Stahlproduktion und damit auch für die Rüstungsindustrie wichtig. Wie schwer wiegt das für die Ukraine?
Unmittelbare Folgen hat das nicht, solange der Ausfall noch kompensiert werden kann. Das hat man beispielsweise gesehen, als Russland das größte AKW Europas in Saporischschja eingenommen hat. Die Stromversorgung der Ukraine ist deshalb nicht zusammengebrochen. Langfristig kann der Wegfall der Mine aber selbstverständlich kritisch werden.
Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview mit Markus Reisner