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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch So kommen sie nicht mehr weiter

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
eigentlich ist der Satz ziemlich klar. "Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen." Der Satz steht unter Punkt "IV. Migration" im Sondierungspapier, auf das sich Union und SPD Anfang März verständigt hatten. Ein einfacher Satz in einem der strittigsten Politikfelder zwischen den Koalitionären.
Doch in der Politik ist nicht immer alles einfach, was einfach klingt. Manchmal ist es umgekehrt, das scheinbar einfache also besonders kompliziert. So wie an dieser Stelle. Es hängen hohe Erwartungen an dem Satz, nur dummerweise haben Union und SPD jeweils andere. Es ist ein Formelkompromiss, so wie es ihn im Sondierungspapier an mehreren Stellen gibt. Ein politischer Trick, um große Konflikte zu verschieben, damit nicht alles schon am Anfang platzt.
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Heute um 17 Uhr soll möglichst Schluss sein mit den Formelkompromissen. Die 16 Facharbeitsgruppen der Koalitionsgespräche müssen ihre schriftlichen Ergebnisse an die sogenannte 19er-Runde schicken, in denen die Chefverhandler von Union und SPD sitzen. In vielen Arbeitsgruppen wird das funktionieren, einige haben schon abgeliefert. Wo die Konflikte aber zu groß sind, müssen die Chefs ran. Neben der Migration ist das wohl auch in der Sozial- und Steuerpolitik nötig. Ab heute wird es also richtig schwierig.
Die Migrationspolitik war schon vor der Wahl besonders umkämpft zwischen Union und SPD. Die Union hatte ihren Wählern eine "Migrationswende" versprochen. Der Kern: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen, quasi um jeden Preis, auch um den Preis einer Abstimmung mit der AfD im Bundestag. Rolf Mützenich nannte die gemeinsame Abstimmung damals das "Tor zur Hölle". Friedrich Merz war außer sich. Das ist die Flughöhe in dieser Frage.
Es wundert deshalb nicht, dass die Arbeitsgruppe 1 "Innen, Recht, Migration und Integration" ein bisschen was zu klären hat. Nicht nur bei den Zurückweisungen, aber auch dort. Die Union argumentiert, "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" bedeute, dass es im Notfall auch reiche, sie über die Zurückweisungen an der Grenze zu informieren. Abstimmung heiße nicht Zustimmung. Die SPD wiederum sagt, die Nachbarn müssten mit den Zurückweisungen einverstanden sein, alles andere sei rechtswidrig.
"Wir haben im Sondierungspapier das Erforderliche beschrieben", sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch zu den Zurückweisungen gerade der "Bild am Sonntag". Und: "Ich gehe davon aus, dass alle hinter diesen Formulierungen stehen." Eine Satzkonstruktion, die in der Politik ein recht sicherer Hinweis darauf ist, dass noch nicht alle dahinter stehen. Abgebrochen hat die Arbeitsgruppe ihre Gespräche aber noch nicht, wie am Sonntag zu hören war, auch wenn das manche Medien berichtet hatten.
Anders sieht das in der Arbeitsgruppe 16 "Haushalt, Finanzen und Steuern" aus. Sie hat ihre Beratungen am Freitag im Streit abgebrochen, wie berichtet wird. Als "vermint" und "bis ins Mark frustrierend" haben Unionspolitiker die Gespräche der "FAZ" zufolge beschrieben. Das Abschlusspapier soll weder einen echten Plan für eine Reform der Einkommensteuer noch der Unternehmenssteuer enthalten, das berichten auch "Wirtschaftswoche" und "Spiegel".
Zu beiden Reformen standen im Sondierungspapier wieder diese verflixten, scheinbar einfachen Sätze. "Wir werden die breite Mittelschicht durch eine Einkommensteuerreform entlasten", heißt es auf Seite 4 zum Beispiel. Doch wo fängt diese Mittelschicht an, wo hört sie auf? Und was ist mit den Reichen?
Die SPD will den Berichten zufolge die Entlastungen mit Belastungen der Gutverdiener gegenfinanzieren. Der Spitzensteuersatz sollte von 42 auf 47 Prozent steigen, wobei er dann wohl noch nicht ab rund 68.000 Euro im Jahr greifen würde wie bislang. Der Reichensteuersatz sollte ab rund 278.000 Euro von 45 auf 49 Prozent steigen. Die Union soll das entsetzt abgelehnt haben.
Ähnliches bei den Unternehmenssteuern. Im Sondierungspapier heißt es: "Wir steigen in der kommenden Legislaturperiode in eine Unternehmenssteuerreform ein." Wie genau? Das ist den Berichten zufolge weiter unklar. Auch der Termin des Einstiegs ist auffällig unambitioniert: der 1. Januar 2029, also kurz vor Ende der Wahlperiode.
In einer wichtigen Frage ist die Arbeitsgruppe ohnehin abhängig von Karlsruhe. Dort entscheidet das Bundesverfassungsgericht an diesem Mittwoch darüber, ob der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig ist, weil er nur noch von Gutverdienenden und Unternehmen gezahlt wird. Sollte er kippen, würden sie an dieser Stelle sowieso entlastet. Einerseits. Andererseits würden im Haushalt pro Jahr etwa zwölf Milliarden Euro fehlen.
Bis die wirklich komplizierten Kompromisse gefunden sind, wird es also noch etwas dauern. Kein Wunder, dass CDU-Chef und Wohl-bald-Kanzler Friedrich Merz zuletzt das Tempo rausgenommen hat. Alle offenen Fragen in der ersten Aprilwoche zu klären, scheint nicht mehr das unbedingte Ziel zu sein. Genauso wie eine Regierungsbildung bis Ostern. Manche Fragen erlauben eben keine Formelkompromisse.
Kampf um die Spitze des Parlaments
Wie sieht die Spitze des neuen Deutschen Bundestages aus? Diese Frage entscheidet sich in dieser Woche. Wenn am Dienstag zum ersten Mal der neue Bundestag zur konstituierenden Sitzung zusammenkommt, wird nicht nur der dienstälteste Abgeordnete Gregor Gysi von der Linken eine wohl recht ausführliche Rede halten. Der Bundestag wird auch das neue Bundestagspräsidium wählen.
Einige Posten sind schon länger vergeben, bei anderen wird es heute in den Fraktionssitzungen überraschend spannend. Klar ist, dass die Union die frühere Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner zur Bundestagspräsidentin wählen lassen will. Die größte Fraktion darf dieses zweithöchste Amt im Staat (nach dem Bundespräsidenten) besetzen. An Klöckners Eignung gibt es vor allem bei den Grünen deutliche Zweifel, aber sie wird mit den Bald-Regierungsfraktionen Union und SPD im Rücken eine Mehrheit finden.
Jede Bundestagsfraktion darf zudem einen Vize zur Wahl stellen. Bei der Union läuft es wohl auf die CSU-Innenpolitikerin Andrea Lindholz hinaus. Die Linke hat den früheren thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow nominiert. Die AfD wird auch jemanden vorschlagen, wie schon in der Vergangenheit werden die anderen Fraktionen ihn aber dann nicht wählen, auch das scheint klar.
Noch überraschend unklar ist die Lage bei Grünen und SPD. Beide werden darüber heute Nachmittag und Abend in ihren Fraktionssitzungen entscheiden. Die SPD hat das (Luxus-)Problem, dass einige ihrer Leute sich wohl Hoffnungen auf ein Ministeramt machen. Für SPD-Chefin Saskia Esken dürfte das gelten, deren Name jetzt kolportiert wird – vermutlich auch deshalb kolportiert wird, weil einige in der SPD sie nicht in der Regierung sehen wollen.
Beim zweiten Namen liegt die Sache etwas anders. Er lautet: Rolf Mützenich. Er hatte zuletzt als Fraktionsvorsitzender Platz für Lars Klingbeil gemacht. Mützenich, 65 Jahre alt, ist überzeugter Parlamentarier und wird für seine freundliche, verbindliche Art auch in anderen Fraktionen geschätzt (weniger für einige seiner außenpolitischen Positionen). Schon 2021 hatte Mützenich Interesse am Amt des Bundestagspräsidenten. Damals überraschte die SPD alle, indem sie Bärbel Bas nominierte. Jetzt könnte Mützenich zumindest Vize werden – oder es gibt noch mal eine Überraschung.
Bei den Grünen kommt es zu einem Dreikampf: Interesse am Vizeposten haben die bisherige Amtsinhaberin Katrin Göring-Eckardt, der frühere Parteichef Omid Nouripour sowie Claudia Roth, die zuletzt Kulturstaatsministerin war. Selbst gut vernetzte Grüne trauen sich kaum eine Prognose zu, wer es wird. Neben anderen Vor- und Nachteilen spreche für Göring-Eckardt ihre Herkunft aus Thüringen, für Nouripour seine Herkunft aus Teheran. Diversität ist den Grünen wichtig.
Claudia Roth hingegen gehört als einzige dem linken Parteiflügel an. Der ist in der Fraktion in der Mehrheit. Doch auch dort sind einige irritiert darüber, dass sie schon wieder will. Immerhin sitzen Göring-Eckardt und Roth seit 2005 für die Grünen auf dem Vizeposten. Abwechselnd zwar, aber durchgehend. Es ist also auch hier: kompliziert.
Termine des Tages
Verhandlungen mit Putin: In Saudi-Arabien beginnen die von den USA initiierten Gespräche über ein Ende des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die USA wollen dabei zwischen der Ukraine und Russland per Pendeldiplomatie vermitteln. Schon am Sonntag hat in Riad eine ukrainische Delegation mit den USA gesprochen. Heute sind Gespräche zwischen amerikanischen und russischen Unterhändlern geplant.
Schlichter beginnen ihre Arbeit: Unparteiische sollen den Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen lösen. Die Arbeitgeber hatten die Tarifverhandlungen für die rund zweieinhalb Millionen Beschäftigten am vergangenen Montag für gescheitert erklärt.
Gérard Depardieu vor Gericht: Der französische Schauspielstar muss sich in Paris wegen des Verdachts auf sexuelle Belästigung zweier Frauen bei den Dreharbeiten zum Film "Les volets verts" 2021 verantworten. Die ursprünglich für Ende Oktober angesetzte Anhörung wurde aus gesundheitlichen Gründen verschoben. Depardieu drohen fünf Jahre Haft und eine Geldbuße von 75.000 Euro.
Historisches Bild
Im Jahr 1965 feierte die US-Bürgerrechtsbewegung große Erfolge – und wurde bekämpft. Mehr lesen Sie hier.
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Russland ist im Krieg, in den Sternen suchen manche Menschen nach Erleuchtung. Daraus wird nichts, meint Kolumnist Wladimir Kaminer. Für ihn steht fest: Putin und Trump sind noch lange nicht die letzte Apokalypse.
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Johannes Bebermeier
Leitender Reporter Politik
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Mit Material von dpa.
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