Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Überraschender Erfolg in den USA Hat er die Zauberformel gegen Trump?

Während Donald Trump und Elon Musk ihre Macht festigen, keimt in Amerikas Hinterland plötzlich Widerstand. Zehntausende folgen ausgerechnet dem 83-jährigen Bernie Sanders. Über das Entstehen einer Bewegung gegen Milliardäre.
Bastian Brauns berichtet aus Denver
Eigentlich spricht er wie immer. Doch seine Worte klingen in diesen Tagen wie ein hoffnungsvoller Schimmer. Die Schatten in Trumps Amerika breiten sich immer weiter aus. Doch mitten in Denver steht in der Nachmittagssonne Bernie Sanders auf einer kleinen Bühne im Civic Center Park. Hier, am Fuße der Rocky Mountains, haben sich mehr als 30.000 Menschen versammelt.
Die schlohweißen Haare des alten Mannes mit 83 Jahren wehen im Wind. Seit Jahrzehnten kämpft der linke amerikanische Senator ohne Parteizugehörigkeit einen ziemlich einsamen Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit in den USA. Im Angesicht der Milliardäre an der Macht ist plötzlich seine Zeit gekommen. Bernie Sanders scheint es selbst schwer zu fallen, es zu glauben. Aber vor so vielen Menschen wie heute hat er noch nie gesprochen – auch nicht bei seinen Präsidentschaftskandidaturen.
"Ihr sendet eine ganz erhebliche Botschaft in die ganze Welt", ruft er und die Lautsprecher übertragen es in den ganzen Park. "Die ganze Welt schaut zu und will wissen, ob sich das amerikanische Volk gegen den Trumpismus, gegen die Oligarchie und den Autoritarismus wehren wird." Die Menschenmenge vor ihm ist so groß, dass sie nicht in den vorgesehenen, abgesperrten Bereich passt. Tausende stehen außerhalb und säumen die Stufen der umliegenden Gebäude.
In Wellen schallen ihm aus allen Richtungen die "Bernie, Bernie, Bernie"-Rufe entgegen. Das liberale Denver im Bundesstaat Colorado war für ihn schon immer ein Heimspiel. Und der erfahrene Politiker weiß, dass das nicht reichen wird. Mahnend ruft er zurück: "Nicht Bernie! Ich habe schlechte Neuigkeiten für euch. Ihr seid es!" Auf jeden Einzelnen komme es jetzt an. Denver, das kann nur ein Anfang sein.
Die Geburtsstunde einer Bewegung
Bernie Sanders will in diesen Tagen eine Bewegung schaffen. Dafür reist er seit Wochen ins amerikanische Hinterland, weit weg von der Hauptstadt Washington. Denver war bisher der Höhepunkt, aber auch in vielen Kleinstädten übersteigt die Anzahl der Menschen die Kapazitäten der gemieteten Hallen und Säle. Während den meisten Demokraten derzeit keine Rezepte einzufallen scheinen, hat der unabhängige Sanders schon kurz nachdem Donald Trump im Januar ins Weiße Haus eingezogen war, seinen Entschluss gefasst.
Er startete seine Tour im Bundesstaat Nebraska mit dem sperrigen Motto "Fight Oligarchy". Doch was es bedeutet, scheinen immer mehr Menschen nach rund acht Wochen Trump-Regierung und harten Einschnitten zu begreifen: Der Kampf gegen Trump ist ein Kampf gegen die Reichsten der Reichen und ums eigene Portemonnaie. Wo Sanders anfänglich mit Hunderten rechnete, kommen inzwischen Tausende und Zehntausende. In Summe sind es Hunderttausende.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Kein Wunder – in Trumps zweiter Amtszeit verschärfen sich soziale Probleme: Die Löhne stagnieren, während Inflation und Lebenshaltungskosten weiter steigen. Millionen drohen den Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung zu verlieren, weil Sozialleistungen gekürzt werden sollen. Renten- und Sozialversicherungssysteme geraten unter Druck. Längst werden zugleich erneute große Steuergeschenke für die wohlhabendsten Amerikaner geplant. Doch der Zorn der Menschen richtet sich längst nicht nur gegen Donald Trump, Elon Musk und die Republikaner.
Der Zorn richtet sich auch gegen die eigene Partei
Im Publikum von Denver stehen John, Camille und Alina. Wenn sie an die meisten Demokraten denken, sind sie einfach nur wütend. "Wir bräuchten viel mehr Leute wie Bernie Sanders, die jetzt wirklich aktiv werden. Er hat das sein ganzes Leben lang gemacht", sagt Alina. "Die demokratischen Senatoren müssten jeden Tag angerufen werden, um ihnen klarzumachen, was sie für einen Mist bauen", sagt Camille. "Sie machen einfach nicht, was sie tun sollten, nämlich für uns zu kämpfen", sagt John. Er hätte nicht erwartet, dass derart viele Menschen kommen. "Irgendwas geschieht hier gerade. Diese ganzen Kundgebungen sind ein ziemlicher Wahnsinn."
Zu diesem Zeitpunkt lässt sich schwer beurteilen, was geschehen wird. Aber von Nebraska, Michigan, Wisconsin über Nevada, Iowa, Colorado bis nach Arizona strömen Tausende Amerikaner plötzlich zu Bernie Sanders. Der seit Jahrzehnten als Kommunist und Sozialist beschimpfte Senator aus dem Bundesstaat Vermont profitiert derzeit von drei Eigenschaften: Er blieb seinen Überzeugungen immer treu. Sein Milliardärsschreckgespenst sitzt mit Donald Trump und Elon Musk gleich in doppelter Ausführung im Weißen Haus. Und Bernie Sanders wird mit seinen 83 Jahren aktiv wie sonst keiner.
In den vergangenen Tagen aber hat er sich junge und weibliche Verstärkung geholt. An seine Seite tritt inzwischen die bekannte Nachwuchshoffnung des linken, demokratischen Spektrums, Alexandria Ocasio-Cortez aus dem Bundesstaat New York. Die in den USA als AOC bekannte Politikerin stammt aus ärmlichsten Verhältnissen in der Bronx und hat es von einer einfachen Kellnerin bis ins Repräsentantenhaus geschafft. Auch sie kämpft schon lange nicht nur gegen die Republikaner, sondern auch gegen weite Teile ihrer eigenen Partei.
Gesunder Menschenverstand und Klassensolidarität
In Denver steht sie auf der Bühne und spricht von "dieser Bewegung". Die drehe sich nicht mehr um Parteibezeichnungen oder ideologische Reinheitstests, so Ocasio-Cortez. "Es geht um Klassensolidarität." Die erst 35-jährige Kongressabgeordnete bringt ihre überzeugende persönliche Geschichte mit. "Ich glaube nicht an Gesundheitsversorgung, Arbeitnehmerrechte und Menschenwürde, weil ich eine Extremistin bin", sagt sie. Denn als solche wird sie regelmäßig von konservativen Medien bezeichnet. "Ich glaube an diese Dinge, weil ich eine Kellnerin war", sagt sie.
Mit ihrer Mutter putzte sie als Kind die Häuser vermögender Menschen, ihren Vater verlor sie schon mit 18 Jahren wegen einer Lungenkrebserkrankung. "Ich musste zusehen, wie meine Mutter wenige Tage nach seinem Tod die Krankenhausrechnungen öffnete", sagt Ocasio-Cortez. Donald Trump und die Rechten würden versuchen, arbeitenden Menschen das Gefühl zu geben, man sei immer nur einen Schritt davon entfernt, in den Club der Reichen aufgenommen zu werden und vielleicht eines Tages auch Millionäre zu sein. "Gibt es hier Millionäre?", fragt sie in die Menge und beantwortet sie selbst: "Nein, natürlich nicht."
Und dann versucht sie einen rhetorischen Kniff, der gut zu funktionieren scheint und vor dem sich Trump mit jedem Tag des wachsenden Chaos womöglich bald fürchten muss. Alexandria Ocasio-Cortez sagt: "Ich bin hier, weil ich an den gesunden Menschenverstand glaube." Der sogenannte Common Sense wird als Begriff seit Monaten von den Maga-Republikanern vereinnahmt. Sie nutzen ihn zur Hetze – mal gegen Minderheiten wie trans Personen oder Einwanderer. Mal, um ihre vielen Ausgabenkürzungen und Massenentlassungen zu rechtfertigen.
AOC und Bernie Sanders wollen unter "Common Sense" ein würdevolles Leben für jeden verstanden wissen. Die Neudefinition politischer Gegensätze – von links gegen rechts zu oben gegen unten – bildet den Kern ihrer gemeinsamen Botschaft. "Ich glaube daran, dass in der reichsten Nation der Weltgeschichte niemand bankrottgehen muss, wenn er krank wird", ruft Ocasio-Cortez unter dem Jubel der Zehntausenden in Denver. Das sei gesunder Menschenverstand. "Wir sind alle nur einen Unfall, nur einen Augenblick davon entfernt, das Gefühl zu haben, als würde uns der Stecker gezogen." So könne niemand leben.
Was aber getan werden könne, sei das, was Alexandria getan hat, sagt Bernie Sanders. "Das können Millionen Amerikaner tun. Wir können uns auf der Basisebene organisieren." Er spricht von Gewerkschaften, Schulbeiräten und von Bewerbungen für das Präsidentenamt. Es klingt wie eine Empfehlung für die junge New Yorkerin neben ihm. Er greift ihre Hand und reißt sie hoch gen Himmel.
"Links und rechts – ein und dieselbe Agenda"
Neueste Umfragen belegen den massiven Unmut über die eigene Partei bei den Anhängern der Demokraten. Die Partei muss sich offensichtlich reformieren, um nicht unterzugehen. Geht es nach AOC und Bernie Sanders auf ihrer Anti-Oligarchie-Tour sieht das folgendermaßen aus:
"Wir brauchen eine Demokratische Partei, die härter für uns kämpft", sagt Ocasio-Cortez der Menge in Denver. Und das bedeute, dass überall im Land Demokraten als Kandidaten aufgestellt und gewählt werden müssten, die wüssten, wie man für die Arbeiterklasse einsteht. Bernie Sanders wird noch direkter: "Ich würde euch nicht die Wahrheit sagen, wenn ich euch nicht sagen würde, dass es auch innerhalb der Demokratischen Partei Milliardäre gibt, die über unzulässigen Einfluss verfügen." Obwohl er als unabhängiger Senator stets eng mit den Demokraten zusammengearbeitet hat, war Sanders schon immer ein vehementer Kritiker korrupter Strukturen in beiden Parteien.
Für Louise und Adam im Publikum treffen die beiden Politiker den richtigen Ton. "Links und rechts, das ist oftmals ein und dieselbe Agenda", sagt Louise. Es bräuchte vielmehr ein gemeinschaftliches Projekt, bei dem das Leben für alle Menschen gleichermaßen verbessert würde. Adams wichtigstes Ziel dabei ist es, sich keine ständigen Sorgen mehr um Geld machen zu müssen. "Die Preise für Lebensmittel und für Mieten sind das allergrößte Problem. Ich will ein Leben leben, bei dem ein Job ausreicht, um zu überleben."
Ist die politische Mitte noch der Schlüssel zum Erfolg?
Aber wie erfolgreich kann diese Bewegung im Entstehen wirklich werden? Ein alter Mann, der in Deutschland wohl als moderater Sozialdemokrat durchgehen würde, aber in den USA in weiten Teilen als vollkommen verrückter Kommunist gilt. Und eine junge Frau, die von den Rechten täglich als extremistische Schreckschraube beschimpft wird. Bislang galt in Amerika immer der Glaubenssatz, Wahlen müssten und könnten nur in der Mitte gewonnen werden.
Unter anderem war es diese Annahme, die dazu führte, dass die Demokraten keinen Wettstreit der Ideen führten. Stattdessen versuchen viele Kandidaten bis heute, möglichst moderat zu erscheinen, um möglichst keine Wechselwähler zu verschrecken. Doch die Maga-Bewegung von Donald Trump stellte nicht nur die republikanische Partei auf den Kopf. Jahr um Jahr griff sie mehr Wählerinnen und Wähler von den Demokraten ab, ausgerechnet jene, die für Jahrzehnte als linke Stammklientel galten – Arbeiter, Migranten, Afroamerikaner, Latinos und auch immer mehr junge Wähler.
Dass die eigene Strategie womöglich endlich als gescheitert betrachtet wird, darauf deutete in den vergangenen Tagen ein viel beachteter Meinungsbeitrag in der "New York Times" hin. Geschrieben hat ihn Ben Rhodes, der unter Barack Obama einer der kommunikativen Chefstrategen im Weißen Haus gewesen ist. Unter dem Titel "Es gibt einen Weg für die Demokraten, Trump zu stoppen und Amerika zu retten" führte Rhodes die Versäumnisse des demokratischen Establishments detailliert aus, zu dem er selbst gehört.
Eine Abrechnung mit der eigenen Partei
Rhodes beschreibt eine Partei, die in der Defensive steckt, mit internen Machtkämpfen beschäftigt ist und kaum ein überzeugendes Angebot für die Wähler hat. Statt klare Ziele zu formulieren, verliere sie sich in Pressekonferenzen und symbolischen Protestaktionen. "Die harte Wahrheit ist, dass die Demokratische Partei in ihrer aktuellen Form nicht die notwendige Opposition anführen kann", so Rhodes.
Das große Problem der Demokraten sei ihre Hoffnung, dass Trump sich schon selbst zu Fall bringen würde – durch wirtschaftliches Chaos, Korruption oder interne Machtkämpfe. Doch Rhodes hält das für eine gefährliche Illusion und zitiert aus einem Gespräch mit dem demokratischen Senator Chris Murphy. "Die Vorstellung, wir sollten einfach tatenlos zusehen, wie sie zusammenbrechen, ist lächerlich", soll der ihm gesagt haben. Murphy ist einer der wenigen Demokraten, die seit Trumps Machtübernahme medial dauerpräsent sind und wirklich zu kämpfen scheinen.
Rhodes Antwort auf die Krise der eigenen Partei liest sich dann wie ein Lob für den Aktionismus von Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez. Er plädiert dafür, dass die Demokraten sich von einem rein parteipolitischen Denken lösen müssten. Es müsse eine echte Widerstandsbewegung entstehen. Darin liege letztlich auch der Erfolg von Trump. "In einer Zeit, in der Kapitalismus und neue Technologien in diesem Land eine Zugehörigkeitskrise hervorgerufen haben, bietet Maga den Menschen eine Gemeinschaft und Sinn", so Rhodes.
Um erfolgreich zu sein, müsse die Opposition zu einer Bewegung im ganzen Land werden und nicht zu einer Partei, die in Washington versucht, eine Erfolgsformel zu finden. "Die vielversprechendsten Zeichen dafür waren in letzter Zeit die Proteste der einfachen Leute in den Bürgerversammlungen der Republikaner und die riesigen Menschenmengen, die in mehreren Bundesstaaten zusammenkamen, um Bernie Sanders' Aufrufe gegen die Oligarchie zu hören. Es tut sich etwas", schreibt Rhodes.
Eine Parallele zur Tea-Party-Bewegung?
Während in Washington Strategen wie Rhodes ihre Analysen schreiben, schaffen Bernie Sanders und AOC in Denver Realitäten. Als die Veranstaltung am Abend offiziell endet, strömen nicht alle Menschen sofort nach Hause. Im Park bilden sich noch einzelne, spontane Gesprächskreise. "Das hier fühlt sich anders an als jede Protestbewegung, bei der ich bisher gewesen bin", sagt Louise. "Meine Stimme hätten sie", sagt Adam. Ein paar Meter entfernt von ihnen steht der deutlich ältere Jim. "Damals wie heute gilt: Wir müssen auf die Straße gehen. Friedlich. Aber wir müssen zeigen, dass wir da sind."
Was sich nun wirklich tut, muss sich erst zeigen. Dass nicht zuerst die Republikaner, sondern die gelähmten Demokraten vor einer notwendigen Häutung stehen, davon sind immer mehr Menschen im Land überzeugt. Bei den Republikanern begann die interne Revolution gegen das eigene Establishment einst mit der sogenannten Tea-Party-Bewegung im Jahr 2009, einer Art Vorläufer von der Make-America-Great-Again-Bewegung von Donald Trump.
Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez stellen sich nun an die Spitze einer sozialpolitischen Bewegung, die zuerst die Demokraten erfassen soll und dann das ganze Land. Welche Wucht sie zumindest bislang entfalten können, das zeigen sie bei ihrer Anti-Oligarchie-Tour. Wie weit wird sie tragen? Denver soll jedenfalls nur der erste Höhepunkt gewesen sein. Obwohl Bernie Sanders mit seinen Ideen seit Jahrzehnten durchs Land tingelt – seine wichtigste Tour hat der 83-Jährige gerade erst begonnen. Es ist Sanders letzte Schlacht.
- Eigene Beobachtungen, Gespräche und Recherchen vor Ort.
- nytimes.com: There Is a Way for Democrats to Stop Trump and Save America (englisch, kostenpflichtig)