Nach Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters Erdoğan greift durch – "Politischer Staatsstreich"
Den fünften Tag in Folge gehen die Menschen in der Türkei auf die Straße. Nach der Absetzung von Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu ist die Stimmung aufgeheizt.
In der Türkei sind nach der Absetzung und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu erneut Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. In Istanbul fanden sich am Abend Abertausende Demonstranten vor der Stadtverwaltung auf dem Sarachane-Platz ein, trotz eines weiter geltenden Demonstrationsverbots in der Millionenmetropole.
Der Chef der Oppositionspartei CHP, der auch İmamoğlu angehört, sprach von einer Million Teilnehmern bei der von der CHP angekündigten Demonstration vor der Stadtverwaltung. Von lokalen Behörden gibt es keine Angaben zu der Größe der Demonstrationen.
Die Demonstrationen in der Türkei dauern mittlerweile den fünften Tag in Folge an. Berichten zufolge gehen die Ordnungskräfte hart gegen die Teilnehmer vor. So setzte die Polizei am späten Abend Wasserwerfer und Tränengas gegen ein. Auch in Ankara, wo ebenfalls aktuell Demonstrationen offiziell untersagt sind, setzten Tausende Menschen Berichten zufolge die Proteste fort.
"Ich grüße die Millionen, die heute Abend auf dem Sarachane-Platz und auf den Plätzen überall in meinem Land ihre Stimme erhoben haben", hieß es in einer Mitteilung, die auf İmamoğlus X-Account veröffentlicht wurde. "Sie haben Erdoğan gesagt: 'Jetzt reicht es!'"
Die Türkei werde betrogen. Er sprach von einem Putsch. "Ich stehe aufrecht, ich werde mich nicht beugen." Er rief seine Anhänger auch auf, nicht die Hoffnung zu verlieren.
Mögliche weitere Eskalation der Proteste?
Der wichtigste Rivale des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sitzt in Untersuchungshaft, zudem wurde er von seinem Bürgermeisteramt suspendiert. Die Untersuchungshaft gegen İmamoğlu hatte das Istanbuler Caglayan-Gericht am Sonntagmorgen wegen mutmaßlicher Korruption verhängt. Die von der Staatsanwaltschaft angestrebte Anordnung von U-Haft auch wegen "Terrorismus"-Vorwürfen lehnten die Richter hingegen ab. Neben İmamoğlu wurde gegen weitere Mitbeschuldigte Untersuchungshaft verhängt, darunter einer seiner engsten Berater.
Nach Angaben der CHP wurde der 53-Jährige am Sonntagnachmittag in die Haftanstalt Silivri bei Istanbul gebracht. In der Haftanstalt sind oder waren mehrere prominente Oppositionelle und Journalisten inhaftiert, unter ihnen auch zwischen 2017 und 2018 der deutsche Journalist Deniz Yücel. Einer von İmamoğlus Anwälten sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass per Haftbeschwerde juristisch gegen die Untersuchungshaft vorgegangen werden solle.
İmamoğlus Partei CHP sprach von einem "politischen Staatsstreich" und rief dazu auf, "weiterzukämpfen". Der Oppositionspolitiker selbst gab sich am Sonntag weiter kämpferisch. "Ich stehe aufrecht, ich werde mich niemals beugen, alles wird gut", erklärte er über seine Anwälte im Onlinedienst X.
Den Slogan "Alles wird gut" hatte İmamoğlu bereits im Jahr 2019 verwendet, nachdem seine Wahl zum Istanbuler Bürgermeister zunächst annulliert worden war. Bei der Wiederholung des Urnengangs siegte er dann deutlich, 2024 wurde er in das Amt wiedergewählt.
Scharfe Kritik aus Deutschland
Ungeachtet der Festnahme von İmamoğlu hielt die CHP am Sonntag die Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur der Partei ab. Wegen der hohen Teilnahme wurde die Abstimmung bis in die Abendstunden verlängert. Rund 15 Millionen Menschen stimmten schließlich für İmamoğlu, wie das Rathaus von Istanbul mitteilte. Unter ihnen seien 13,2 Millionen Menschen ohne Parteibuch der CHP, die "ihre Solidarität" mit İmamoğlu zum Ausdruck gebracht hätten. İmamoğlu war der einzige Kandidat bei der Vorwahl.
Aus Deutschland wurde erneut scharfe Kritik am Vorgehen der türkischen Justiz gegen İmamoğlu laut. Das Auswärtige Amt sprach von einem "schweren Rückschlag für die Demokratie in der Türkei" und erklärte, politischer Wettbewerb dürfe "nicht mit Gerichten und Gefängnissen geführt werden".
SPD-Chef Lars Klingbeil forderte die Freilassung des Istanbuler Bürgermeisters. "Die Türkei darf nicht weiter Richtung Autokratie abrutschen", sagte Klingbeil dem "Tagesspiegel". Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, sagte der "Welt", es sei zu vermuten, dass ein politischer Konkurrent Erdoğans seiner demokratischen Rechte beraubt werden solle.
Kritik kam auch aus Frankreich. Die Festnahme İmamoğlus und zahlreicher weiterer Menschen stelle "einen schweren Angriff auf die Demokratie dar", erklärte das Außenministerium in Paris.
Behörde verbietet Leerverkäufe
Hunderte Menschen wurden seit Beginn der Proteste in mehreren Städten festgenommen. Der Onlinedienst X teilte zudem am Sonntagabend mit, dass die türkischen Behörden die Sperrung von mehr als 700 Nutzerkonten verlangt hätten. Der Kurzbotschaftendienst erklärte, er lehne die Maßnahmen ab, die sich unter anderem gegen "Journalisten, Politiker, Studenten und anderen Personen" richteten.
Nach den Turbulenzen durch die Festnahme İmamoğlus hat die türkische Börsenaufsicht bestimmte Stellschrauben verändert und dies mit dem Schutz der Anleger begründet. Die Behörde teilte am Sonntagabend mit, Leerverkäufe würden an der Istanbuler Börse verboten. Zudem würden die Beschränkungen für Aktienrückkäufe und Anforderungen an die Eigenkapitalquote bis zum 25. April gelockert.
Darüber hinaus werde die Obergrenze für den Gesamtbetrag angehoben, der für Aktienrückkäufe börsennotierter Unternehmen verwendet werden dürfe. Die Entscheidungen seien getroffen worden, um einen zuverlässigen, transparenten und stabilen Betrieb der Kapitalmärkte zu gewährleisten und die Anleger zu schützen, hieß es.
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters und AFP