Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Sturm tobt

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
spüren Sie das auch? Dieses Unbehagen? Dieser Gedanke, dass das alles irgendwie nicht wahr sein kann? Dass die Welt aus den Fugen geraten ist? Drei Jahre Ampelstreit haben uns mürbe gemacht, drei Monate hat Donald Trump uns abstumpfen lassen. Der Krieg in der Ukraine zehrt an den Nerven, dazu diese schier übermächtig wirkenden Herausforderungen, vor denen Deutschland steht: Energiewende, marode Infrastruktur, verwüstete Schulen, die lahmende Wirtschaft.
Es sollte doch alles anders werden. Die vorgezogenen Neuwahlen ließen die Hoffnung aufkommen, dass Deutschland mit frischem Wind in die Zukunft segelt. Doch das schwarz-rot-golden beflaggte Schiff ist in einen Orkan geraten – und es wirkt, als kämpfe die Crew orientierungslos gegen den Strudel der Realitäten. Ununterbrochen vibrieren die Handys, zeigen neue Eilmeldungen, malen Katastrophen an den Horizont.
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Noch bevor es so richtig mit einer Koalition aus Union und SPD losgehen kann, sinkt der Glaube daran, dass ein Aufbruch realistisch ist. Das hat viel mit einer Gegenwart zu tun, die kaum Handlungsspielraum lässt: Die USA unter Trump wecken Erinnerungen an einen kräftig gebauten Rüpel, der jederzeit von einem Wutanfall gepackt werden kann, um sich schlägt und dabei Freunde und Verwandte krankenhausreif prügelt. Und das ist nur eine von vielen Kuriositäten unserer Zeit.
Es ist aber auch kaum als vertrauensbildende Maßnahme zu begreifen, was derzeit im politischen Berlin passiert. In dieser Hinsicht dürfte das, was am heutigen Tag beginnt, in die Geschichte eingehen. Denn das von Union und SPD verabredete Schuldenpaket geht ab 12 Uhr in erster Lesung in den Bundestag und soll abschließend am 18. März mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.
Ganz unabhängig von dem, was dort im Detail vereinbart werden soll, ist die Art und Weise ein Wagnis für die Demokratie. Dass es in den maximal 30 Tagen zwischen Bundestagswahl und Neukonstituierung Sondersitzungen gibt, ist zwar kein Novum, aber ungewöhnlich. Vier solche Fälle gab es in der Geschichte der Bundesrepublik – Verfassungsänderungen wurden dabei noch nie beschlossen. Zumal diese weitreichende Entscheidung nun ein abgewählter Bundestag treffen soll, weil die neuen Mehrheitsverhältnisse dies nicht mehr zuließen.
Es fällt schwer, dies einfach so hinzunehmen, schulterzuckend über ungedeckelte Militärkredite, 500 Milliarden Sondervermögen und eine Aushebelung der Schuldenbremse hinwegzusehen. Es ist eine Zäsur – und die politisch Verantwortlichen drücken trotz dieser historischen Dimension aufs Gaspedal, als wäre Politik auf der Überholspur eine Tugend.
Diese überstürzt wirkende Einigung auf milliardenschwere Sonderschulden und eine dafür notwendige Verfassungsänderung in Kombination mit einer vagen, lückenhaften Kommunikation sind eine Steilvorlage für Populisten. Wer das nicht sieht, verschließt die Augen vor der Realität.
Deutschland muss handeln, keine Frage. Die Sicherheitslage in Europa steht auf tönernen Füßen. Gut, dass hierzulande endlich angekommen ist, dass "Zeitenwende" nicht nur eine nebulöse Worthülse bleiben soll, sondern auch zu Taten verpflichtet. Aber die Bürger dieses Landes sind nicht dumm. Sie hören, was Politiker sagen, sie lesen, was die Entscheidungsträger versprechen – und sie fragen sich jetzt, warum all das offenbar keine Bedeutung mehr hat.
Die Union und allen voran ihr Vorsitzender Friedrich Merz versteiften sich vor der Wahl auf Maximalpositionen, beharrten bei jeder Gelegenheit darauf, dass der Staat kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem habe. Schuldenbremse? Unantastbar. Alles lässt sich aus dem Haushalt finanzieren, so der Tenor. Dabei wussten es CDU und CSU schon vorher besser – und das nicht nur, weil Robert Habeck und Olaf Scholz während des Wahlkampfs in jeder TV-Debatte öffentlichkeitswirksam darauf hinwiesen.
Jetzt so zu tun, als sei der Eklat im Weißen Haus dafür verantwortlich, dass Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit und die Unterstützung der Ukraine plötzlich eilbedürftig seien, ist eine Vortäuschung falscher Tatsachen. Donald Trump hat schon seit Monaten mit radikalen Veränderungen gedroht, die Ukraine ächzt seit geraumer Zeit unter dem Druck der russischen Aggression – und die Bundeswehr wirkt nicht erst seit gestern wie ein kaputt gesparter Sanierungsfall.
Friedrich Merz könnte nun antworten: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern" und argumentieren, es sei besser, schnell und flexibel auf veränderte Umstände zu reagieren, als stur an veralteten Prinzipien festzuhalten. Außerdem sei Politik immer ein Aushandeln von Kompromissen und insofern sei es wichtig gewesen, mit den Sozialdemokraten als künftigen Koalitionären einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Dies verschweigt zwar, dass Merz mit seinem Sparkurs-und-solide-Finanzen-Credo auf Wählerfang gegangen ist und wenige Wochen später eben jene Wähler vor den Kopf stößt, aber es wäre ein Teil der Wahrheit. Auch die Grünen sollten sich im Hinblick auf die eigene Glaubwürdigkeit an die Nase fassen. Wenn sie der geplanten Verfassungsänderung wirklich ihre Zustimmung verweigern, obwohl sie vor der Wahl vieles von dem gefordert haben, was sie nun abnicken sollen, wäre das ein ebenso perfides Machtspiel auf Kosten der Demokratie.
Denn das ist es doch, um das es hier geht: unsere Demokratie. Natürlich wirft die Hauruckmentalität, mit der mal eben im alten Bundestag die Verfassung geändert werden soll, Fragen auf. Aber das, was Vertrauen in demokratische Strukturen schwinden lässt, ist nicht die Reaktion auf die größten Veränderungen unserer Zeit – es ist die Kommunikation der politischen Akteure.
Es muss Schluss sein mit apodiktischen Ansagen zu Wahlkampfzwecken. Mit leeren Versprechungen und hohlen Wahlprogrammen, die jedweder finanziellen Grundlage entbehren. Mit parteipolitischem Taktieren und unangemessenen Eitelkeiten. Es ist das schleichende Gift, das Misstrauen sät und das Vertrauen in unsere Politik untergräbt. Es ist der Nährboden für Populisten und jene, die einer komplexen Welt mit einfachsten Antworten begegnen wollen.
Gerade in Zeiten großer Gereiztheit müssen Politiker sich erklären, die Menschen mitnehmen, ihnen aufzeigen, wieso Entscheidungen zustande gekommen sind, wie der Weg dorthin verlief. Dabei ist es auch wichtig, auf Widersprüche hinzuweisen, zu sagen, dass zwei Dinge zugleich richtig sein können: Frieden zu wollen – und dafür Waffen anzuschaffen.
Aber es kann doch nicht sein, dass so viele, inklusive der Union, die vergangenen Jahre immer wieder auf das mangelnde rhetorische Talent des Bundeskanzlers Olaf Scholz hingewiesen haben. Dass sie monierten, wie schlecht der Sozialdemokrat in Krisenzeiten kommunizierte und kaum steht ein neuer Regierungschef in den Startlöchern, bringt er nicht mehr über die Lippen als ein "whatever it takes", also was immer es braucht.
Herr Merz, zeigen Sie an diesem historischen Tag, dass es besser geht. Werden Sie der viel beschworenen "staatspolitischen Verantwortung" gerecht. Ein Anfang wäre es, zuzugeben, dass Sie sich geirrt haben und aus Ihrem Fehler – falsche Versprechungen gemacht zu haben – lernen werden. Dass nun ein Neuanfang bevorsteht, und dass in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht, das Unbehagen in uns nicht überhandnehmen darf.
Auch FDP und Grüne bringen Gesetzentwürfe ein
Im Bundestag wird nicht nur über die Gesetzesvorlage von Union und SPD diskutiert. Auch zwei weitere Gesetzesentwürfe sollen im Anschluss an die Aussprache in den Haushaltsausschuss überwiesen werden: einer von Bündnis 90/Die Grünen und einer der FDP. Während die Grünen bald voraussichtlich Teil der neuen Opposition sind, werden die Liberalen nicht mehr im Bundestag vertreten sein, sie scheiterten an der Fünfprozenthürde. Dennoch unterbreiten auch sie noch einmal Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes.
Ihr Gesetzentwurf sieht vor, das bereits bestehende 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr um 200 Milliarden Euro aufzustocken und zu einem "Verteidigungsfonds für Deutschland" zu erweitern. Mehr dazu lesen Sie hier.
Was steht an?
Union und SPD beginnen Koalitionsverhandlungen: Rund 250 Leute aus Union und SPD sind an der Ausarbeitung eines Koalitionsvertrags beteiligt. Nach außen hin sollen sie dicht halten. "Keine Statements, keine Pressekonferenzen, keine Kommunikation von Zwischenergebnissen, keine Selfies", heißt es in einer "Handreichung zu den Koalitionsverhandlungen 2025". Vertraulichkeit scheint das oberste Gebot der künftigen Regierung. Bis zum 24. März beabsichtigen sie, ihre Arbeit abzuschließen. Am Ende sollen die Arbeitsgruppen ein Papier vorlegen, das "möglichst kurz und präzise ist". Die Parteichefs Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil und Saskia Esken (SPD) sowie Markus Söder (CSU) steuern die Arbeit aus dem Hintergrund.
G7-Außenministertreffen: Erstmals seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump treffen sich die Außenminister der G7-Länder. Bei dem Gipfel im kanadischen Quebec steht eine 30-tägige Waffenruhe im Ukraine-Krieg genauso auf der Agenda wie der Nahostkonflikt und der von Trump begonnene Handelskrieg mit weltweiten Strafzöllen. Mit Spannung wird erwartet, ob US-Außenminister Marco Rubio den Kurs seines Präsidenten fortsetzt – und die G7-Partner Kanada, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan mit Alleingängen weiter verärgert. Unser Reporter Patrick Diekmann ist für t-online für Sie dabei und wird berichten.
US-Präsident empfängt Nato-Generalsekretär: Im Weißen Haus könnte es heute spannend werden. Mark Rutte hatte Donald Trump bereits im November kurz nach der Wahl des Republikaners auf dessen Privatanwesen in Florida besucht. Danach rief der Nato-Generalsekretär die europäischen Verbündeten mehrfach auf, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen. Ob es dieses Mal zu ähnlichen Forderungen an die Allianz kommt? Schließlich findet das neue Treffen vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland statt.
Lesetipps
Seit dem Amtsantritt von Donald Trump steht das westliche Bündnis unter Beschuss. Bei den Treffen der G7-Staaten geht es in diesem Jahr um Schadensbegrenzung. Doch es droht ein Streit auf offener Bühne, berichtet mein Kollege Patrick Diekmann.
Nach dem verpassten Wiedereinzug in den Bundestag beginnt in der FDP die Aufarbeitung des schlechten Ergebnisses. Eine erste Analyse kritisiert dabei den Wahlkampf-Kurs von Parteichef Christian Lindner. Das hat unser Leiter des Hauptstadtbüros, Florian Schmidt, für Sie herausgefunden.
Als "schwarz-gelbes Krisenknäuel" bezeichnete Sportkommentator Jan Platte gestern den BVB beim Champions-League-Rückspiel in Lille. Doch Borussia Dortmund gewann im Norden Frankreichs und steht nun im Viertelfinale der Königsklasse. Wer sich aus der Mannschaft von Trainer Niko Kovač für die kommenden Duelle gegen den FC Barcelona empfohlen hat, bewertet t-online-Sportredakteurin Kim Steinke hier.
Zum Schluss
Mentalitätswechsel, so wichtig:
Ich wünsche Ihnen gute Gespräche und keine Missverständnisse an diesem Donnerstag. Morgen schreibt David Schafbuch für Sie.
Herzlichst
Ihr Steven Sowa
Stellvertretender Unterhaltungschef t-online
X: @StevenSovani
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Mit Material von dpa.
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